Verwaltungsrecht

Erfüllungsübernahme bei Schmerzensgeldansprüchen, Versäumnisurteil als rechtskräftig festgestellter Anspruch (bejaht), Ermessensausübung

Aktenzeichen  3 BV 20.2837

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 9494
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayBG Art. 97

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 1 K 19.2198 2020-09-30 Urt VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 30. September 2020 wird aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Landesamts für Finanzen vom 26. September 2019 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erfüllungsübernahme eines Schmerzensgeldanspruchs in Höhe von 1.200,00 Euro erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III. Von den Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt der Kläger 1/5 und der Beklagte 4/5.
IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.     
V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 1.200,00 Euro festgesetzt.     
VI. Die Revision wird nicht zugelassen. 

Gründe

Die zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 Abs. 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO), ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Die Entscheidung über den klägerischen Antrag auf Erfüllungsübernahme ist ermessensfehlerhaft und damit rechtswidrig. Demnach war das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. September 2020 und der Bescheid vom 26. September 2019 aufzuheben. Die erneute Bescheidung des klägerischen Antrags hat unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu erfolgen (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
1. Nach Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG kann der Dienstherr, wenn der Beamte oder die Beamtin wegen eines tätlichen rechtswidrigen Angriffs, den er oder sie in Ausübung des Dienstes oder außerhalb des Dienstes wegen der Eigenschaft als Beamter oder Beamtin erleidet (1.1), einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten hat (1.2), auf Antrag (1.3) die Erfüllung dieses Anspruchs bis zur Höhe des festgestellten Schmerzensgeldbetrags übernehmen, soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist (1.4). Der Tatbestand dieser Norm ist vorliegend erfüllt.
1.1 Der Kläger hat hier unstreitig am 4. November 2017 – und damit innerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des Art. 97 BayBG (ab 1.1.2015; BayVGH, B.v. 17.4.2018 – 3 ZB 17.18 – juris Rn. 2) – in Ausübung seines Dienstes einen tätlichen rechtswidrigen Angriff durch den Schädiger erlitten.
1.2 Aufgrund des rechtskräftigen Versäumnisurteils des Amtsgerichts E. vom 23. Oktober 2018 verfügt der Kläger über einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten, den Schädiger. Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG enthält keine ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale; weder eine Angemessenheitsprüfung noch eine Plausibilitätskontrolle hinsichtlich des rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldanspruchs. Im Rahmen des Art. 97 BayBG besteht zudem keine Bindungswirkung der im Dienstunfallverfahren nach Art. 46, 47 BayBeamtVG getroffenen Feststellungen, etwa dahingehend, dass die Erfüllung des Schmerzensgeldanspruchs nur soweit übernommen werden dürfte wie er sich auf der Grundlage der im Dienstunfallverfahren festgestellten Dienstunfallfolgen ergäbe. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird diesbezüglich auf die Urteile des Senats vom 16. Dezember 2020 (3 B 20.1553 – juris Rn. 16 ff. und 3 B 20.1556 – juris 24 ff.) verwiesen.
1.3 Der Kläger beantragte die Übernahme der Erfüllung am 12. Dezember 2018 schriftlich innerhalb der Ausschlussfrist von zwei Jahren nach Rechtskraft des Versäumnisurteils (Art. 97 Abs. 3 Satz 1 BayBG). Dabei legte er ausreichende Nachweise vor, dass die Vollstreckungsbemühungen sachgerecht durchgeführt wurden, aber erfolglos geblieben sind. Die klägerischen Forderungsschreiben konnten dem Schädiger trotz mehrfacher Versuche nicht zugestellt werden, obwohl nach Auskunft des Einwohnermeldeamtes sowie einer Auskunft des Adressprüfdienstes der Deutschen Post der Schädiger im Inland wohnhaft sein soll. Als Nachweis für die erfolglosen Vollstreckungsbemühungen legte der Bevollmächtigte des Klägers im gerichtlichen Verfahren zudem eine staatsanwaltliche Verfügung vom 13. Juli 2018 vor, wonach das Strafverfahren gegen den Schädiger durch gerichtlichen Beschluss vom 6. Juli 2018 gemäß § 205 StPO vorläufig eingestellt und der Schädiger zur Aufenthaltsermittlung national ausgeschrieben worden ist. Entsprechend bewilligte das Amtsgericht E. hinsichtlich der Zustellung der Klage und des Versäumnisurteils eine öffentliche Zustellung gemäß §§ 185 ff. ZPO. Vor dem Hintergrund der erfolglosen Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden (Fahndung) waren weitere Eigenbemühungen des Klägers zur Aufenthaltsermittlung aussichtslos und weitere Vollstreckungsversuche entbehrlich.
1.4. Die Übernahme der Erfüllung des Schmerzensgeldanspruchs ist ferner zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig (Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG). Eine unbillige Härte liegt nach Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG insbesondere vor, wenn die Vollstreckung über einen Betrag von mindestens 500,00 Euro erfolglos geblieben ist.
Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen einer unbilligen Härte sind als Ausnahmeregelung grundsätzlich hohe Anforderungen zu stellen. Die Uneinbringbarkeit des Schmerzensgeldanspruchs ist unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien für das Vorliegen einer unbilligen Härte zwingend erforderlich. Der bayerische Gesetzgeber machte in der Gesetzesbegründung deutlich, dass die Geltendmachung des Schmerzensgeldanspruchs auf Grund seiner höchstpersönlichen Natur und Genugtuungsfunktion, grundsätzlich dem Beamten vorbehalten bleiben muss. „Nur soweit die Uneinbringbarkeit des Anspruchs wegen Vermögenslosigkeit des Schädigers zu einer unbilligen Härte führt, eröffnet Art. 97 BayBG aus Fürsorgegründen die Möglichkeit, bei uneinbringlichen, rechtskräftig festgestellten Schmerzensgeldansprüchen eine entsprechende Übernahme der Erfüllung bei ihrem Dienstherrn zu beantragen“ (LT-Drs. 17/2871 S. 48).
In dem vorliegenden Fall liegt eine unbillige Härte im Sinne des Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG vor, da der Schmerzensgeldbetrag über der Mindestschadensgrenze von 500,00 Euro liegt und die Vollstreckung erfolglos blieb (siehe dazu 1.3).
2. Auf der Rechtsfolgenseite räumt Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG dem Dienstherrn nach seinem Wortlaut einen Ermessenspielraum ein, ob (sog. Entschließungsermessen) und „bis zu welcher Höhe“ (Auswahlermessen) er einen rechtskräftig festgestellten Anspruch auf Schmerzensgeld gegen einen Dritten übernimmt. Durch den Halbsatz „soweit dies zur Vermeidung einer unbilligen Härte notwendig ist“ wird die Ausübung des Entschließungsermessens dahingehend vorgegeben, dass bei Vorliegen einer unbilligen Härte der Dienstherr zur Erfüllungsübernahme verpflichtet ist.
In Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG wird der unbestimmte, einer unmittelbaren Subsumtion nicht zugängliche Rechtsbegriff „unbillige Härte“ auf der Tatbestandseite mit einem „kann“ der Behörde auf der Rechtsfolgenseite verbunden. Es handelt sich um eine sogenannte Kopplungsvorschrift (dazu allgemein: BVerwG, U.v. 26.11.2015 – 5 C 14.14 – juris Rn. 16; Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 40 Rn. 36 m.w.N.). An die (hier gerichtlich voll überprüfbare) Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs kann sich einerseits eine eigenständige Ermessensausübung (Folgeermessen) anschließen. Andererseits kann zwischen beiden eine unlösbare Verbindung bestehen, sodass der unbestimmte Rechtsbegriff in den Ermessensbereich hineinragt und zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt. Welche Konstellation zutrifft, lässt sich nur nach Sinn und Zweck der jeweiligen Vorschrift entscheiden. Maßstab ist dabei insbesondere, ob bei der Annahme eines unbestimmten Rechtsbegriffs auf der Tatbestandseite noch Raum für ein Verwaltungsermessen verbleibt (BSG, U.v. 20.3.2018 – B 1 A 1/17 R – juris Rn. 20 m.w.N.). Bei der Frage, ob der Schmerzensgeldbetrag vom Dienstherrn übernommen wird (Entschließungsermessen), hat das Wort „kann“ in Art. 97 Abs. 1 Satz 1 BayBG eine untergeordnete Bedeutung. Denn bei der Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs („unbillige Härte“) ist bereits ein großer Teil der Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die auch Bedeutung für die Ermessensausübung haben. Damit ergeben sich bei der Normanwendung überwiegend Überschneidungen zwischen der Tatbestands- und der Rechtsfolgenseite. Die Feststellung, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm gegeben oder nicht gegeben sind, bedeutet in diesen Fällen zugleich, dass der Behörde für die Ausübung ihres Entschließungsermessens („ob“) kein Spielraum verbleibt. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 97 Abs. 2 Satz 1 BayBG vor, ist dem Dienstherrn mithin (lediglich) bei der Frage bis zu welcher Höhe er den festgestellten Schmerzensgeldanspruch übernimmt, Ermessen eingeräumt, das verwaltungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüft werden kann (vgl. § 114 VwGO; BayVGH, U.v. 16.12.2020 – 3 B 20.1553 – juris Rn. 36). Lediglich wenn auf Grund desselben Sachverhalts eine einmalige Unfallentschädigung (Art. 62 BayBeamtVG) oder ein Unfallausgleich (Art. 52 BayBeamtVG) gezahlt wurde, kann der Dienstherr die Erfüllungsübernahme im Rahmen seines Erschließungsermessens verweigern. Eine derartige Sachverhaltskonstellation liegt hier nicht vor.
Das Landesamt hat in seinem streitgegenständlichen Bescheid vom 26. September 2019 eine rechtskräftige Feststellung des Schmerzensgeldanspruchs i.S.d. Art. 97 BayBG verneint. Es ist fehlerhaft davon ausgegangen, dass ein gerichtlich festgestellter Schmerzensgeldanspruch im Sinne des Art. 97 BayBG nur dann vorliege, wenn das Schmerzensgeld der Höhe nach angemessen sei. Damit hat es die tatbestandlichen Voraussetzungen der Erfüllungsübernahme nach Art. 97 BayBG zu Unrecht verneint. Es hat das ihm zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Aus diesem Grund ist der Bescheid vom 26. September 2019 wegen Ermessensausfalls (§ 114 Satz 1 VwGO) rechtswidrig. Vor diesem Hintergrund hat der Kläger Anspruch auf erneute Entscheidung über seinen Antrag auf Erfüllungsübernahme, wobei der Beklagte seiner erneuten Entscheidung die Rechtsauffassung des Senats zugrunde zu legen hat.
Der Senat kann die mit dem ausdrücklich gestellten Antrag begehrte Verpflichtung des Beklagten, dem Antrag des Klägers auf Erfüllungsübernahme in Höhe von 1.200,00 Euro vom 12. Dezember 2018 stattzugeben und im Zuge dieser Erfüllungsübernahme 1.200,00 Euro an den Kläger zu bezahlen, nicht entsprechen, weil die Sache insoweit nicht spruchreif ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Entscheidung über die Erfüllungsübernahme liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Dienstherrn. Es ist nicht erkennbar, dass der Beklagte sein Ermessen rechtmäßig allein nur dahin ausüben könnte, die Erfüllung des Anspruchs auf Schmerzensgeld vollumfänglich in Höhe von 1.200,00 Euro zu übernehmen.
Daraus folgend hat der Kläger keinen Anspruch auf Prozesszinsen nach § 291 Satz 1, § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
4. Die Revision war mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2, § 191 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 127 BRRG nicht zuzulassen.


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