Verwaltungsrecht

Ergänzung der Zulassungsgründe nach Ablauf der Begründungsfrist

Aktenzeichen  10 ZB 16.1850

Datum:
8.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 102468
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 31 Abs. 1 S. 1, Abs. 4 S. 2

 

Leitsatz

1 Zulassungsgründe können nach Ablauf der Darlegungsfrist grds. nur noch insoweit ergänzt werden, als der konkret zu ergänzende Zulassungsgrund in offener Frist bereits den Mindestanforderungen entsprechend dargelegt ist. Eine Ergänzung der Zulassungsgründe liegt aber dann nicht vor, wenn ein neuer, bislang noch nicht dargelegter Zulassungsgrund nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 S. 4 VwGO vorgebracht wird oder innerhalb eines Zulassungsgrundes neue selbständige Gründe angeführt werden (ebenso VGH München BeckRS 2016, 53464). (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Ausnahmefall iSd § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist nur gegeben, wenn ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so bedeutsam ist, dass er das jedenfalls sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelvoraussetzung beseitigt. Es muss sich um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalles nach Sinn und Zweck und unter Beachtung höherrangigen Rechts, wie zB des Schutzes von Ehe und Familie iSv. Art. 6 GG, als derart unverhältnismäßig erscheinen lässt, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten (ebenso BVerwG BeckRS 2013, 54131). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 15.3065 2016-07-27 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Das ist jedoch nicht der Fall.
1. Der Kläger verfolgt mit seiner Klage das Ziel, die Beklagte zur Neuverbescheidung seiner Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund eines eigenständigen Aufenthaltsrechts des Ehegatten nach § 31 Abs. 1, Abs. 4 AufenthG zu verpflichten. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Beklagte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Recht abgelehnt habe.
Für die (erstmalige) Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für ein Jahr nach dem Ablauf der ehebezogenen Aufenthaltserlaubnis am 11. November 2012 fehle es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG; zum damaligen Zeitpunkt sei bereits gegen ihn wegen zweier Straftaten ermittelt worden, er habe deshalb einen Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (in der bis zum 31.12.2015 geltenden Fassung – a.F.) erfüllt. Gründe für das Vorliegen einer atypischen Fallgestaltung, die zu einer Abweichung vom Regelfall führen könnten, seien nicht erkennbar.
Selbst wenn ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für ein Jahr bestanden hätte, so würden derzeit nicht die Voraussetzungen für eine im Ermessen der Beklagten stehende weitere Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorliegen, da derzeit ein Ausweisungsinteresse bestehe und der Lebensunterhalt nicht gesichert sei, womit zwei Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG (n.F.) fehlen würden. Es liege kein atypischer Ausnahmefall vor, der ein Absehen von den genannten Regelerteilungsvoraussetzungen gebieten würde.
2. Mit seinem Vorbringen hat der Kläger die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts nicht ernsthaft in Zweifel gezogen.
a) Bezüglich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG a.F.) bzw. kein Ausweisungsinteresse besteht (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG n.F.), bringt der Kläger vor, dass in seinem Fall aufgrund der persönlichen Umstände ausnahmsweise von der Regel des § 5 Abs. 1 AufenthG abzuweichen sei. Er lebe seit acht Jahren im Bundesgebiet, habe sich hier voll integriert und beherrsche die deutsche Sprache nahezu perfekt. Seine alkoholbedinge Krise, die er überwunden habe, hänge mit der Ehekrise zusammen. Weil sich die Ehefrau von ihm getrennt habe, habe er seinen Halt verloren. In kurzer Zeit sei es zu den Straftaten gekommen, wobei es sich eher um Kleinkriminalität handle. Zuvor und auch nach seiner Inhaftierung habe er sich niemals etwas zuschulden kommen lassen. Seit einem Jahr, nämlich seit dem Zeitpunkt seiner Inhaftierung, sei er nachweislich trocken. Auch habe er jetzt seinen Halt in seiner Christengemeinde gefunden. Deshalb sei die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts falsch, aufgrund der abgebrochenen Therapie im Jahr 2012 bestehe weiterhin die Gefahr eines Rückfalls und damit weiterer Straftaten. Nach allem sei es grob unverhältnismäßig, ihm nun noch seine Straftaten vorzuhalten.
Damit aber hat der Kläger keine Gründe für einen Ausnahmefall vorgetragen, aufgrund derer von der Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung abzusehen wäre. Ein derartiger Ausnahmefall ist nur gegeben, wenn ein atypischer Geschehensablauf vorliegt, der so bedeutsam ist, dass er das jedenfalls sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelvoraussetzung beseitigt. Es muss sich um eine Abweichung handeln, die die Anwendung des Regelfalles nach Sinn und Zweck und unter Beachtung höherrangigen Rechts, wie z.B. des Schutzes von Ehe und Familie i.S.v. Art. 6 GG, als derart unverhältnismäßig erscheinen lässt, dass es unzumutbar wäre, an ihr festzuhalten (vgl. BVerwG, U. v. 13.6.2013 – 10 C 16/12 – juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 9.12.2015 – 19 B 15.1066 – juris Rn. 35; BayVGH, B. v. 24.4.2014 – 10 ZB 14.524 – juris Rn. 7; BayVGH, B. v. 4.12.2013 – 10 CS 13.1449, 10 C 13.1451 – juris Rn. 21; Maor in Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1.11.2016, § 5 AufenthG Rn. 20).
Davon ausgehend, unterscheiden sich die Ausweisungsgründe bzw. das Ausweisungsinteresse, das sich aus den Straftaten des Klägers ergibt, nicht von der Mehrzahl der Fälle, in denen die Ausweisungsgründe bzw. das Ausweisungsinteresse der Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (als Regelfall) entgegensteht. Insbesondere können die Straftaten nicht wegen eines angeblichen Zusammenhangs mit der Trennung von seiner Ehefrau als „Kleinkriminalität“ relativiert werden. Zwar wurde bei allen fünf Verurteilungen „nur“ eine Geldstrafe verhängt, doch betrafen zwei der Fälle (Vorfälle am 6./7.4.2012 und vom 4.4.2015) erhebliche Gewalttätigkeiten seitens des Klägers. Auch die vom Kläger geltend gemachte Alkoholisierung bei den Taten – die sich so eindeutig aus den Verurteilungen nicht entnehmen lässt – begründet keinen außergewöhnlichen Geschehensablauf, zumal der Kläger außer seiner nicht belegten Behauptung, nunmehr „trocken“ zu sein, keine erfolgreiche Therapie seiner Suchterkrankung (siehe ärztliches Attest, Bl. 182 der Behördenakte) vorweisen kann. Das Verwaltungsgericht hat die persönlichen Belange des Klägers eingehend gewürdigt und ist zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass auch im Hinblick auf Art. 8 EMRK oder Art. 6 Abs. 1 GG ein Absehen von den in § 5 Abs. 1 AufenthG genannten Regelerteilungsvoraussetzungen nicht geboten sei.
b) Weiter ist der Kläger der Meinung, im Gegensatz zur Annahme des Verwaltungsgerichts sei auch sein Lebensunterhalt gesichert, weshalb es nicht an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG fehle. Er habe nach seiner Entlassung aus der Haft keine öffentlichen Mittel mehr in Anspruch genommen; inzwischen habe er auch einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Auch die Wohnsituation sei seit einem Jahr unverändert. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts liege daher ein atypischer Ausnahmefall vor. Er habe seit seiner Einreise bis zur Trennung von der Ehefrau in geordneten Verhältnissen gelebt und sei wirtschaftlich und sozial integriert gewesen. Abgesehen von dem Absturz nach der Trennung habe er nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt wieder Anschluss an sein früheres Leben gefunden.
Damit hat der Kläger aber weder die Feststellung des Verwaltungsgerichts, sein Lebensunterhalt sei nicht im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert, noch die Bewertung, dass insoweit kein atypischer Ausnahmefall vorliege, nachhaltig erschüttert.
Das Verwaltungsgericht führt zu Recht aus, dass es insoweit einer positiven Prognose bedarf, dass der Lebensunterhalt des Ausländers in Zukunft ohne Inanspruchnahme anderer öffentlicher Mittel gesichert ist. Von einer Sicherung des Lebensunterhalts kann nur ausgegangen werden, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel eine gewisse Nachhaltigkeit aufweisen, was nicht allein durch eine punktuelle Betrachtung des jeweils aktuellen Beschäftigungsverhältnisses beurteilt werden kann. Es muss unter Berücksichtigung der Berufschancen und der bisherigen Erwerbsbiografie eine gewisse Verlässlichkeit des Mittelzuflusses gewährleistet sein, die unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit eine positive Prognose zulässt (vgl. z.B. BayVGH, B. v. 24.4.2014 – 10 ZB 14.524 – juris Rn. 6). Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht, darauf abgestellt, dass der Kläger erst seit wenigen Tagen vor der mündlichen Verhandlung wieder in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stand und zuvor mehrere Jahre nur zeitweise erwerbstätig war. Dem kann der Kläger letztlich nur entgegensetzen, dass er beabsichtige, wieder an seine frühere Erwerbstätigkeit (vor der Trennung von seiner Ehefrau im Jahr 2012) anzuknüpfen.
Aber selbst wenn man von einem gesicherten Lebensunterhalt ausgehen oder einen atypischen Ausnahmefall im Sinn des § 5 Abs. 1 AufenthG annehmen würde, wäre dies angesichts der fehlenden allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht mehr entscheidungserheblich und könnte nicht mehr zur Zulassung der Berufung führen, weil ein Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis schon aus anderen Gründen nicht besteht (BayVGH, B. v. 16.3.2016 – 10 ZB 14.2634 – juris Rn. 12).
c) Auch soweit der Kläger in den Schriftsätzen vom 7. Dezember 2016 und vom 19. Dezember 2016 vorträgt, dass er seine Ehefrau, von der er seit 2012 getrennt lebe, im November 2016 wieder getroffen habe, und dass sie beide wieder eine eheliche Lebensgemeinschaft aufnehmen möchten, begründet keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts.
Zum einen handelt es sich um neuen Tatsachenvortrag, der lange nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO (17.10.2016) vorgebracht wurde. Die Zulassungsgründe können nach Ablauf der Darlegungsfrist grundsätzlich nur noch insoweit ergänzt werden, als der konkret zu ergänzende Zulassungsgrund in offener Frist bereits den Mindestanforderungen entsprechend dargelegt ist. Eine Ergänzung der Zulassungsgründe liegt aber dann nicht vor, wenn ein neuer, bislang noch nicht dargelegter Zulassungsgrund nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO vorgebracht wird oder innerhalb eines Zulassungsgrundes neue selbständige Gründe angeführt werden (BayVGH, B. v. 21.9.2016 – 10 ZB 16.1296 – juris Rn. 11).
Zum anderen ist Gegenstand des vorliegenden Verfahrens die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 Abs. 1, Abs. 4 AufenthG, also aus eigenständigem Aufenthaltsrecht des Ehegatten nach Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft; die Neu- oder Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft wäre aber im Rahmen eines neuen Antrags auf Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu würdigen.
Im Übrigen hat die Ehefrau laut der von der Beklagten am 20. Dezember 2016 aufgenommenen Niederschrift keineswegs die Wiederaufnahme der ehelichen Lebensgemeinschaft erklärt, sondern allenfalls für die Zukunft nicht ausgeschlossen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).

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