Verwaltungsrecht

Erschließungsbeitrag – 82m lange, abknickende Stichstraße als selbstständige Erschließungsanlage

Aktenzeichen  6 ZB 20.1501

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 24799
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayKAG Art. 5a
BauGB § 127 Abs. 2 Nr. 1, § 128
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4

 

Leitsatz

1. Ob eine Stichstraße (Sackgasse) schon eine selbstständige Anbau straße bildet oder noch ein lediglich unselbstständiges Anhängsel und damit einen Bestandteil der (Haupt-)Straße, von der sie abzweigt, bestimmt sich nach dem Gesamteindruck, den die tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter von der zu beurteilenden Anlage vermitteln. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dabei kommt neben der Ausdehnung der Stichstraße und der Zahl der durch sie erschlossenen Grundstücke vor allem dem Maß der Abhängigkeit zwischen ihr und der Hauptstraße Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund sind grundsätzlich alle abzweigenden Straßen als unselbstständig zu qualifizieren, die nach den tatsächlichen Verhältnissen den Eindruck einer Zufahrt vermitteln, d.h. (ungefähr) wie eine Zufahrt aussehen. Das ist typischerweise dann der Fall, wenn die Stichstraße bis zu 100 m lang und nicht abgeknickt ist oder sich verzweigt (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 11 K 19.66 2020-05-13 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 13. Mai 2020 – RO 11 K 19.66 – wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 20.803,94 € festgesetzt.

Gründe

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg‚ weil der innerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VWGO) nicht vorliegt und eine Divergenz von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VWGO) nicht in der erforderlichen Weise gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt worden ist.
1. Mit Bescheid vom 12. Februar 2018 zog die Beklagte die Klägerin als Eigentümerin des Grundstücks FlNr. 1…2/1 für die erstmalige endgültige Herstellung der Erschließungsanlage Marterlweg zu einem Erschließungsbeitrag in Höhe von 18.822,48 € heran. Mit Änderungsbescheid vom 25. September 2018 setzte die Beklagte den Erschließungsbeitrag für das klägerische Grundstück auf 20.803,94 € fest, weil für zwei andere Grundstücke im Abrechnungsgebiet zu Unrecht keine Vergünstigung wegen Mehrfacherschließung gewährt worden war. Den von der Klägerin erhobenen Widerspruch wies die Regierung der Oberpfalz mit Widerspruchsbescheid vom 7. Dezember 2018 zurück.
Mit Urteil vom 13. Mai 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage gegen diese Bescheide abgewiesen und zur Begründung unter anderem ausgeführt: Die Beklagte habe zu Recht die nach Norden abzweigende Stichstraße nicht als unselbständigen Bestandteil der abgerechneten Erschließungsanlage angesehen. Die Stichstraße sei zwar nur ca. 82 m lang, allerdings knicke sie nach ca. 50 m in Richtung Nordwesten ab und führe westlich des Wendehammers über diesen hinaus bis zum Grundstück FlNr. 1…6/2 weiter. Der Einmündungsbereich der Stichstraße sei mit einem Mündungstrichter ausgeführt, der den Eindruck einer selbstständigen Erschließungsanlage verstärke. Hinzu komme, dass die Stichstraße acht Grundstücke erschließe.
2. Die von der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil vorgebrachten Einwände rechtfertigen nicht die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 VwGO.
a) An der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinn von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Die Klägerin hat weder einen einzelnen tragenden Rechtssatz noch eine erhebliche Tatsachenfeststellung des Verwaltungsgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt (zu diesem Maßstab BVerfG‚ B.v. 21.1.2009 – 1 BvR 2524/06 – JZ 2009‚ 850/851). Der Senat teilt vielmehr die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Beklagte den räumlichen Umfang der abgerechneten Anlage zutreffend bestimmt hat.
Die Klägerin wendet sich mit ihrem Zulassungsantrag ausschließlich gegen die Würdigung des Verwaltungsgerichts, dass die vom abgerechneten Straßenzug des Marterlwegs, an dem das klägerische Grundstück anliegt, nach Norden hin abzweigende Stichstraße eine selbstständige Erschließungsanlage sei. Der Einmündungsbereich sei entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts nicht als Mündungstrichter ausgebildet. Die Stichstraße sei abhängig von dem streitgegenständlichen Teil des Marterlwegs. Eine Ausnahme von dem vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsatz, dass unter 100 m lange Stichstraßen regelmäßig unselbstständig seien, liege nicht vor. Damit kann die Klägerin nicht durchdringen.
Ob eine Stichstraße (Sackgasse) schon eine selbstständige Anbau straße bildet oder noch ein lediglich unselbstständiges Anhängsel und damit einen Bestandteil der (Haupt-)Straße, von der sie abzweigt, bestimmt sich nach dem Gesamteindruck, den die tatsächlichen Verhältnisse einem unbefangenen Beobachter von der zu beurteilenden Anlage vermitteln. Dabei kommt neben der Ausdehnung der Stichstraße und der Zahl der durch sie erschlossenen Grundstücke vor allem dem Maß der Abhängigkeit zwischen ihr und der Haupt straße Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund sind grundsätzlich alle abzweigenden Straßen als unselbstständig zu qualifizieren, die nach den tatsächlichen Verhältnissen den Eindruck einer Zufahrt vermitteln, d.h. (ungefähr) wie eine Zufahrt aussehen. Das ist typischerweise dann der Fall, wenn die Stichstraße bis zu 100 m lang und nicht abgeknickt ist oder sich verzweigt (vgl. BVerwG‚ U.v. 16.9.1998 – 8 C 8.97 – DVBl 1999‚ 395; U.v. 23.6.1995 – 8 C 30.93 – BVerwGE 99, 23/25 f.; BayVGH, U.v. 13.4.2017 – 6 B 14.2720 – juris Rn 22; U.v. 30.11.2016 – 6 B 15.1835 – juris Rn. 16 m.w.N.; B.v. 20.4.2012 – 6 ZB 09.1855 – juris Rn. 8).
Im vorliegenden Fall ist die strittige Stichstraße insgesamt zwar nur etwa 82 m lang, verläuft aber nicht geradeaus. Sie knickt vielmehr, wie das Verwaltungsgericht festgestellt hat, nach ca. 50 m Metern ab und führt westlich der angelegten Wendeplatte nach Nordwesten weiter bis zum Grundstück FlNr. 1…6/2. Der Zulassungsantrag hat die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Stichstraße aufgrund dieses Abknickens eine selbstständige Erschließungsanlage darstellt, nicht mit stichhaltigen Gegenargumenten erschüttert. Er lässt außer Betracht, dass der abknickende Straßenverlauf entsprechend der genannten Regel gegen die Bewertung als bloßes unselbstständiges „Anhängsel“ zum abgerechneten Hauptzug spricht. Gleichwohl für den Charakter als selbstständige Straße sprechende Gesichtspunkte sind nicht vorgetragen. Ob der Einmündungsbereich der Stichstraße als Mündungstrichter ausgestaltet ist, wie das Verwaltungsgericht ausführt, oder nicht, ist dabei nicht entscheidungserheblich (vgl. Schmitz, Erschließungsbeiträge, 2018, § 6 Rn. 17).
b) Eine Divergenz im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Weise dargelegt.
Hierfür ist es erforderlich, dass ein inhaltlich bestimmter, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragender Rechts- oder Tatsachensatz benannt wird, mit dem dieses von einem in der Rechtsprechung des Divergenzgerichts in Anwendung derselben Vorschrift aufgestellten und entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz abgewichen sein soll. Die divergierenden Sätze müssen einander so gegenübergestellt werden, dass die Abweichung erkennbar wird (ständige Rechtsprechung, u.a. BayVGH, 12.12.2019 – 6 ZB 19.1143 – juris Rn. 32; B.v. 18.5.2016 – 6 ZB 15.2785 – juris Rn. 27). Daran fehlt es.
Die Klägerin zitiert zwar aus den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. März 1984 (- 8 C 65.82 – juris), vom 9. November 1984 (- 8 C 77.83 – juris) und vom 25. Januar 1985 (- 8 C 106.83 – juris). Sie stellt diesen Zitaten aber keinen hiervon abweichenden abstrakten Rechtssatz des verwaltungsgerichtlichen Urteils gegenüber. Der Sache nach rügt sie vielmehr lediglich die – ihrer Meinung nach – fehlerhafte oder unzureichende Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch das Verwaltungsgericht. Dies begründet jedoch keine Divergenz (ständige Rechtsprechung, u.a. BVerwG, B.v. 16.6.2020 – 4 BN 54.19 – juris Rn 3; B.v. 24.8.2017 – 4 B 35.17 – juris Rn. 10; B.v. 25.1.2005 – 9 B 38.04 – NVwZ 2005, 447; BayVGH, B.v. 2.9.2019 – 6 ZB 19.623 – juris Rn. 15; B.v. 18.5.2016 – 6 ZB 15.2785 – juris Rn. 28; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 73). Im Übrigen beträfe eine unterstellte Abweichung nicht dieselbe Rechtsvorschrift; denn die genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts sind zum Anlagenbegriff des bundesrechtlichen Erschließungsbeitragsrechts ergangen (§ 127 Abs. 2 Nr. 1 BauGB), während das verwaltungsgerichtliche Urteil das in Bayern landesrechtlich geregelte Erschließungsbeitragsrecht betrifft (Art. 5a KAG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47‚ § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit ihm wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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