Verwaltungsrecht

Faktischer Abschiebungsstopp hinsichtlich des Irak steht verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG entgegen

Aktenzeichen  20 ZB 17.30750

Datum:
18.7.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 119320
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1 In ganz außergewöhnlichen Fällen können auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Aussetzung der Abschiebung irakischer Staatsangehöriger in Bayern nach § 60a AufenthG steht einer verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG entgegen. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RN 6 K 16.32374 2017-03-15 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird verworfen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg. Er ist unzulässig, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Weise dargetan ist.
Die Kläger halten die Frage,
ob die grundsätzliche Feststellung des BayVGH im Urteil vom 21. November 2014 – 13a B 14.30284, wonach schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen können, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt, bei einer Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern in den Irak anzunehmen ist, so dass für sie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht,
für grundsätzlich klärungsbedürftig.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache erfordert, dass der Rechtsmittelführer eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufzeigt, weshalb diese Frage für den Rechtsstreit entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist. Ferner muss dargelegt werden, weshalb der Frage eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Hierfür ist eine Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts erforderlich (vgl. Berlit in GK-AsylG, RdNrn. 592, 607 und 609 zu § 78). Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass keine Anhaltspunkte bestehen, dass den Klägern bei einer Rückkehr in den Irak eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. In seinem Urteil vom 28. Juni 2011 im Verfahren Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich (Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681) stellt der EGMR klar, dass in Abschiebungsfällen nur zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung aller Umstände ernstliche Gründe für die Annahme nachgewiesen worden sind, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen ist, verletzt die Abschiebung des Ausländers notwendig Art. 3 EMRK, einerlei, ob sich die Gefahr aus einer allgemeinen Situation der Gewalt ergibt, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (Rn. 218). Zugleich weist der EGMR darauf hin, dass die sozio-ökonomischen und humanitären Verhältnisse im Bestimmungsland hingegen nicht notwendig für die Frage bedeutend und erst recht nicht dafür entscheidend sind, ob der Betroffene in diesem Gebiet wirklich der Gefahr einer Misshandlung unter Verstoß gegen Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Denn die Konvention zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen. Die grundlegende Bedeutung von Art. 3 EMRK macht nach Auffassung des EGMR aber eine gewisse Flexibilität erforderlich, um in sehr ungewöhnlichen Fällen eine Abschiebung zu verhindern. In ganz außergewöhnlichen Fällen können daher auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (Rn. 278). Die von den Klägern vorgebrachte schwierige humanitäre Situation im Irak unter Hinweis auf den Bericht des UNHCR vom 14. November 2016 ist nicht in der Lage, die Annahme einer solch ungewöhnlichen humanitären allgemeinen Situation zu rechtfertigen. Die Ausführungen der Kläger bleiben hier vage sowie im Allgemeinen und legen auch nicht dar, dass gerade für sie eine Abschiebung in den Irak eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK darstellen würde. Soweit eine Anwendung dieser Rechtsprechung auch auf ganze Bevölkerungsgruppen bejaht wird (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris), ist aus der Darlegung der Kläger nicht ersichtlich, warum Familien, wie die der Kläger im Allgemeinen auf so schwierige humanitäre Bedingungen treffen, um im Falle einer Rückkehr in den Irak eine Verletzung von Art. 3 EMRK in Betracht ziehen zu können.
Die Kläger halten weiter die Frage,
ob vor dem Hintergrund der allgemeinen Sicherheitslage im Irak ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG, insbesondere für Familien mit Minderjährigen in Betracht kommt,
für grundsätzlich klärungsbedürftig.
Das Verwaltungsgericht hat unter Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, B.v. 14.11.2007 – 10 B 47/07 – juris) die Frage, ob die Kläger im Falle einer Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert sind, verneint. Die von den Klägern in ihrem Zulassungsantrag geschilderten Ereignisse sind nicht geeignet, eine solch extreme Gefahrenlage zu belegen. Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass das Bayerische Staatsministerium des Innern mit Rundschreiben vom 10. August 2012 (Az. IA2-2081.13-15) in der Fassung vom 3. März 2014 bekannt gegeben hat, dass eine zwangsweise Rückführung zur Ausreise verpflichteter irakischer Staatsangehörigen grundsätzlich (Ausnahme: Straftäter aus den Autonomiegebieten) nach wie vor nicht möglich ist und ihr Aufenthalt wie bisher weiterhin im Bundesgebiet geduldet wird. Es ist daher davon auszugehen, dass diese Mitteilung eines faktischen Abschiebungsstopps derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung hinsichtlich allgemeiner Gefahren vermittelt, so dass es keines zusätzlichen Schutzes in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bedarf (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 2.01 – NVwZ 2001, 1420). Mit dieser Argumentation haben sich die Kläger in ihrem Zulassungsantrag nicht auseinandergesetzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG, VwGO).


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