Verwaltungsrecht

Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt

Aktenzeichen  M 25 K 16.413

Datum:
17.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 26495
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6

 

Leitsatz

Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Der Schutz von Polizeibeamten als wichtige Repräsentanten der staatlichen Ordnung und des staatlichen Gewaltmonopols ist ein Grundinteresse der Gesellschaft.  (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Bevollmächtigte der Klagepartei mit Schreiben vom 7. Oktober 2018 einverstanden war. Die Beklagte erteilte ihr Einverständnis implizit mit ihrem Verzicht auf mündliche Verhandlung im Schreiben vom 10. Februar 2016.
Die Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die von der Beklagten vorgenommene Ermessensentscheidung ist nicht zu beanstanden (§ 114 VwGO).
Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris) als rechtmäßig.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV) festgestellt werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Abs. 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i.S. des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977, C-30/77 „Bouchereau“; U.v. 4.10.2007 „Polat“).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegt vorliegend eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigende hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Kläger vor, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Gericht ist auf der Grundlage der beigezogenen Akten sowie der persönlichen Verhältnisse des Klägers überzeugt, dass dieser auch in Zukunft Straftaten begeht, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
Der Kläger hat in der relativ kurzen Zeit, die er sich im Bundesgebiet aufhält, zahlreiche Straftaten begangen. Insgesamt ergeben sich aus dem Urteil des AG … vom 9. November 2015 sieben weitere Verurteilungen seit 2010. Dabei fällt auf, dass Opfer seiner Taten in einer großen Zahl an Fällen Polizeibeamte sind, die er körperlich und/oder verbal attackiert hat. So hat er sich etwa am 19. September 2011 gegenüber Polizeibeamten der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht und bei der letzten Tat vor Ergehen des Bescheids nach Polizeibeamten getreten, versucht, diese zu beißen und sie als „Schlampe“, „Arschloch“ sowie „Penner“ bezeichnet. Der Schutz von Polizeibeamten als wichtige Repräsentanten der staatlichen Ordnung und des staatlichen Gewaltmonopols ist aber ein Grundinteresse der Gesellschaft.
Daneben wurde der Kläger mehrfach wegen Köperverletzung, Diebstahls und Erschleichens von Leistungen verurteilt. In Bezug auf diese Taten liegt das Grundinteresse der Gesellschaft in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens ihrer Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des darin gewährleisteten Schutzes der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums (vgl. VG München, Urteil vom 24. Januar 2018 – M 25 K 17.4933).
Die erforderliche hinreichend schwere Gefährdung dieser Grundinteressen ist hier anzunehmen, da der Kläger ein Wiederholungstäter mit hoher Rückfallgeschwindigkeit und ein Bewährungsversager ist, den die bisher ausgesprochenen Strafen nicht von der Begehung weiterer massiver Straften abgehalten haben.
Gegenüber der Beklagten gab er an, Schulden wegen eines Pokerspiels i.H.v. 150.000 EUR bei der rumänischen Mafia zu haben. Ausweislich der von der Bevollmächtigten des Klägers vorgelegten Lohnnachweise verdient der Kläger durchschnittlich 450 EUR im Monat. Dies reicht weder zur Bestreitung des Lebensunterhalts noch zur Tilgung von Schulden. Dieser Umstand allein lässt befürchten, dass er weitere Vermögensdelikte begehen wird.
Die Wiederholungsgefahr wird auch durch die Entwicklung des Klägers nach Ergehen des Bescheids bestätigt. Mit Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bremen vom 9. Februar 2018 wurde der Kläger wegen Körperverletzung am 16. September 2017 und mit Anklageschrift vom selben Tag auf Grund einer erneuten Beleidigung gegenüber Polizeibeamten am 1. Juli 2017 wegen Beleidigung angeklagt. Zudem wurde am 30. September 2017 ein Strafverfahren wegen Körperverletzung und sexueller Belästigung eingeleitet. Nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft München I wurde der Kläger zudem wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung am 21. Februar 2018 angeklagt. Aus den Anklageschriften ergibt sich, dass der Kläger weiterhin in schneller Folge Straftaten begeht, insbesondere gegenüber Polizeibeamten. Eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die das oben beschriebene Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt demnach vor.
Besondere Gesichtspunkte i.S.d. § 6 Abs. 3 FreizügG/EU, die eine Rückkehr des Klägers in seine Heimat im Rahmen der von der Beklagten vorzunehmenden Ermessens- und Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere mit Blick auf Art. 8 EMRK und Art. 6 GG unzumutbar erscheinen lassen, sind nicht ersichtlich und wurden auch im gerichtlichen Verfahren nicht vorgetragen. Der Kläger arbeitet zwar, allerdings nur als Aushilfe und in einem Umfang, in dem er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Er hat keine familiären Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland. Der Kläger ist zudem in Rumänien geboren und aufgewachsen. Er spricht rumänisch. Eine Rückkehr nach Rumänien ist ihm daher möglich und zumutbar.
Auch die von der Beklagten nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 7 Abs. 2 Satz 5, Satz 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet für die Dauer von fünf Jahren ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der Kläger begeht wiederholt und hartnäckig Straftaten gegenüber Polizeibeamten und Köperverletzungsdelikte. Unter Berücksichtigung der Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten durch den Kläger ist angesichts fehlender sozialer Bindungen im Bundesgebiet die Sperrfrist von fünf Jahren erforderlich und nicht unverhältnismäßig.
Die in Ziffer 3. verfügte Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 84 und 124a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen diesen Gerichtsbescheid innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist der angefochtene Gerichtsbescheid zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Gerichtsbescheids sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird, die aber noch beim Verwaltungsgericht vorgenommen werden. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Anstelle der Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München mündliche Verhandlung beantragen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.
Beschluss
Der Streitwert wird auf EUR 5.000 festgesetzt (§ 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz -GKG-).
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.


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