Verwaltungsrecht

Feststellung menschenrechtswidriger Zustände für im EU-Mitgliedstaat anerkannte international Schutzberechtigte

Aktenzeichen  20 ZB 18.32705

Datum:
9.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 254
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 31 Abs. 3 S. 1, § 78 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5
GrCH Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung des EGMR, des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass es für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK/Art. 4 GrCH auf alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch auf die persönlichen Umstände des Asylsuchenden, ankommt (Rn. 5). (redaktioneller Leitsatz)
2. Wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts kann im Einzelfall eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Asylverfahren nur dann ausgesprochen werden, wenn eine Verletzung des Art. 3 EMRK/Art. 4 GrCH verneint wird (Rn. 11). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 22 K 15.30137 2018-07-26 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wird abgelehnt, weil weder der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) noch der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) vorliegt.
1. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte Rechts- oder Tatsachenfrage für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten (Klärungsfähigkeit) und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist (Klärungsbedürftigkeit, vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Diese Voraussetzungen liegen bezüglich der von der Beklagten aufgeworfenen Frage jedoch nicht vor.
Die Beklagte hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam,
ob die tatsächlichen Verhältnisse in Bulgarien bei Rückkehr regelhaft für jeden in Bulgarien als international schutzberechtigt Anerkannten derart prekär sind, dass dort ein dauerhafter Verbleib nicht zugemutet werden kann, mit der Folge, dass Anspruch auf ein festzustellendes Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG besteht.
Diese Frage ist weder klärungsfähig noch klärungsbedürftig, weil in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des EGMR, des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist, dass es für die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK und des inhaltsgleichen Art. 4 GrCH auf alle Umstände des Einzelfalles, insbesondere auch auf die persönlichen Umstände des Asylsuchenden, ankommt und die Frage, ob ein Abschiebungsverbot festzustellen ist, nicht allein aufgrund der Umstände im EU-Mitgliedstaat beurteilt werden kann, sondern immer nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret betroffenen Asylsuchenden. Dabei ist auch höchstrichterlich geklärt, wie die Merkmale der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung auszulegen sind.
In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist anerkannt, dass die Rückführung eines Flüchtlings in einen anderen Konventionsstaat eine Verletzung des Art. 3 EMRK auch durch den rückführenden Staat darstellen und damit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründen kann, wenn den Behörden bekannt ist oder bekannt sein muss, dass dort gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen herrschen, d.h., dass der Flüchtling dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt ist. Solche Bedingungen können dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln (vgl. hierzu insgesamt EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S. gg. Belgien und Griechenland, Rn. 263 f. und 365 ff., vgl. auch BVerfG, Kammerbeschluss v. 31.7.2018 – 2 BvR 714/18 – NVwZ-RR 2019, 209).
Das setzt allerdings voraus, dass im Zielstaat der Abschiebung das für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK erforderliche “Mindestmaß an Schwere” (minimum level of severity) erreicht wird. Die Bestimmung dieses Mindestmaßes an Schwere ist nach der Rechtsprechung des EGMR, der das Bundesverwaltungsgericht folgt (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 9 m.w.N. zur Rechtsprechung von EuGH und EGMR), relativ und hängt von allen Umständen des Falls ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenden körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen.
Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn die Betroffenen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses “Mindestmaß an Schwere” erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – NVwZ 2019, 61 – juris Rn. 11).
Auch in seiner Entscheidung zum Vorliegen einer Verletzung des Art. 3 EMRK bei Abschiebung von Asylantragstellern aufgrund der Lebensbedingungen für die Betroffenen in EU-Mitgliedstaaten bestätigt der EuGH diese Rechtsprechung (“extreme materielle Not”) (U.v. 19.3.2019, Ibrahim u.a., EUGH Az.: C-297/17, EUGH Az.: C-318/17, EUGH Az.: C-319/17 und EUGH Az.: C-438/17, ECLI:ECLI:EU:C:2019:219, Rn. 89 bis 91 – BeckRS 2019, 3603). Die besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit kann dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind. Auch das Fehlen der Rückgriffsmöglichkeit für den Betroffenen auf familiäre Strukturen und Solidarität (wie sie für Angehörige des Mitgliedstaates regelmäßig bestehen dürften) ist kein Grund für eine derartige Annahme. Nach dieser Rechtsprechung rechtfertigt weder ein fehlender Zugang zu Integrationsprogrammen noch bessere Sozialhilfestandards oder Lebensbedingungen im überstellenden Mitgliedstaat die Feststellung einer Verletzung des Art. 3 EMRK.
Möglich ist aber der Nachweis durch den Betroffenen, dass in seiner Person außergewöhnliche Umstände vorliegen, sodass er sich nach Gewährung internationalen Schutzes aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Wollen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände (EuGH a.a.O., Rn. 95).
Ergänzend wird auf die Entscheidung des EuGH vom 13. November 2019 hingewiesen (Az.: C-540/17, C-541/17; BeckRS 2019, 28304). Dort hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren. Er verweist darauf, dass in diesem Fall die Feststellung eines Abschiebungsverbots nicht zur Gewährleistung der Rechte der Grundrechte-Charta ausreiche, auch wenn es die Ausstellung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis und die zumindest teilweise oder vorläufige Gewährung von Rechten und Vorteilen zur Deckung der Grundbedürfnisse vorsehe, da das deutsche Recht ohne ein neues Asylverfahren nicht die Anerkennung dieser (Flüchtlings-)Eigenschaft und die Gewährung der damit verbundenen Rechte in Deutschland vorsehe (EuGH, a.a.O. Rn. 40, 42). Nach dem Ergebnis dieser Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie kann im Einzelfall wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV, Art. 288 Satz 4 AEUV i.V.m. Art. 4 Abs. 3 Satz 3 EUV) eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (i.d.F. von Art. 6 Nr. 7 G. v. 31.7.2016 I 1939 mWv 6.8.2016), der Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie umsetzt (vgl. BVerwG, U.v. 19.1.2019 – 1 C 15/18 – DVBl. 2019, 632-641, juris Rn. 29), im Asylverfahren nur dann ausgesprochen werden, wenn eine Verletzung des Art. 3 EMRK/4 GrCH verneint wird. Dem Vorliegen extremer materieller Not, die einer menschenrechtswidrigen Behandlung gleichgestellt werden muss, kann nicht mit der Feststellung eines Abschiebungsverbots im Anschluss an die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG Rechnung getragen werden.
2. Mit ihrer Grundsatzrüge hat die Beklagte auch keine Divergenz nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG dargelegt (BVerfG, B.v. 21.1.2000 – 2 BvR 2125/97 – NVwZ-Beil. 2000, 33). Aus ihrem Vortrag im Antrag auf Zulassung der Berufung ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht von gänzlich anderen Maßstäben für die Beurteilung einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgegangen sei. Vielmehr macht die Beklagte mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung geltend, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht vom Vorliegen menschenrechtswidriger Zustände für anerkannte Schutzberechtigte in Bulgarien ausgegangen und formuliert damit ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Diese bilden jedoch nach § 78 Abs. 3 AsylG keinen Zulassungsgrund.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.
Mit der Ablehnung des Antrags auf Berufungszulassung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).


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