Verwaltungsrecht

Flüchtlingseigenschaft, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Abschiebungsandrohung, mündlich Verhandlung, Klage auf Aufhebung, Drohende Genitalverstümmelung, Befähigung zum Richteramt, Psychische Erkrankung, Subsidiärer Schutzstatus, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Verwaltungsgerichte, Existenzminimum, Prozesskostenhilfebeschluss, Prozeßbevollmächtigter, Asylverfahren, Posttraumatische Belastungsstörung, Abschiebungsverbot, Gesamtergebnis des Verfahrens, Politische Verfolgung, Aufenthaltsverbot

Aktenzeichen  W 8 K 20.30200

Datum:
22.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6981
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Halbsatz 2 VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
AsylG § 3
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
AsylG § 25
AufenthG § 60a Abs. 2 c
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Buchst. d

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Nrn. 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Januar 2020 werden aufgehoben.     
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 28. Januar 2020 ist in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) und zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
Unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr nach Nigeria flüchtlingsrelevante Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Nach der in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung und insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks des Gerichts von der Klägerin hat die Klägerin ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor politischer (geschlechtsbezogener) Verfolgung verlassen. Gleichermaßen besteht für die Klägerin eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Nigeria. Die Würdigung der Angaben der Klägerin ist ureigene Aufgabe des Gerichts im Rahmen seiner Überzeugungsbildung gemäß § 108 VwGO.
Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe wie geschlechtsbezogene Aspekte (vgl. dazu Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie (§ 3a AsylG) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Die Verfolgung kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne von § 3 AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten (§ 3c Nr. 3 AsylG) und beim betreffenden Ausländer auch keine interne Schutzmöglichkeit nach § 3e AsylG besteht.
Die Tatsache, dass eine Klägerin bereits verfolgt wurde oder einem sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht der Klägerin vor Verfolgung begründet ist bzw. dass sie tatsächlich Gefahr läuft ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Klägerin erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Die Vorschrift privilegiert den betroffenen Ausländer durch eine Vermutung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab.
Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylG Nr. 1).
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – BVerwGE 71, 180).
Ausgehend von diesen Grundsätzen stellt die von der Klägerin geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründet kann. Denn eine drohende Beschneidung in Nigeria stellt eine an das Geschlecht anknüpfende politische Verfolgung dar, weil die zwangsweise Verstümmelung der Genitalien gerade darauf gerichtet ist, die sich weigernde Frau in ihrer politischen Überzeugung zu treffen, in dem sie der Tradition unterworfen wird und unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts zu einem verstümmelten Objekt gemacht wird. Der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann entsprechend dem Wortlaut des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG a.E. auch dann vorliegen, wenn die Verfolgungshandlung allein an das Geschlecht anknüpft (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2020 – Au 9 K 18.31082 – juris; SaarlVG, U.v. 24.8.2020 – 3 K 588/20 – juris; VG Würzburg, U.v. 25.3.2020 – W 10 K 20.30061; U.v. 21.6.2019 – W 10 K 19.30393; jeweils m.w.N.; siehe auch mit weiteren Hinweisen zur Rechtsprechung Radermacher, Weibliche Genitalverstümmelung im Asylverfahren – Problemstellungen und Hintergründe, Entscheiderbrief 07/2020, S. 4 ff.).
Nach Überzeugung des Gerichts drohte und droht der Klägerin in ihrem Einzelfall eine zwangsweise Genitalverstümmelung gegen ihren Willen.
Nach den vorliegenden Erkenntnissen bzw. Erkenntnisquellen des Gerichts besteht in Nigeria die Gefahr Opfer einer weiblichen Genitalverstümmelung – FGM – (vgl. dazu auch Radermacher, Weibliche Genitalverstümmelung im Asylverfahren – Problemstellungen und Hintergründe, Entscheiderbrief 7/2020, S. 4 ff.) in Nigeria zu werden. In einigen Regionen – meist ländlichen Regionen – im Südwesten und der Region Süd-Süd ist die Genitalverstümmelung noch weit verbreitet; hingegen kommt sie im Norden eher weniger vor. Die weibliche Genitalverstümmelung ist in Nigeria mittlerweile durch Bundesgesetz unter Strafe gestellt. Dieses Gesetz ist aber bisher nur in einzelnen Bundesstaaten umgesetzt. Die Regierung unternahm einerseits im Jahr 2019 keine Anstrengungen, FGM zu unterbinden. Andererseits gibt es unterschiedliche Aufklärungskampagnen gerade auch seitens von NGOs, um einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Die Genitalverstümmelung ist insgesamt rückläufig – landesweit unter 20%. Für die Opfer von FGM bzw. für Frauen und Mädchen, die davon bedroht sind, gibt es grundsätzlich die Möglichkeit von Schutz und/oder Unterstützung durch staatliche Stellen und NGOs. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass es schwierig ist, diese in allen Regionen zu erhalten. Je gebildeter die Eltern sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie ihre Kinder beschneiden lassen. Wenn der Vater die Mutter bei ihrer Weigerung unterstützt, das gemeinsame Kind beschneiden zu lassen, dann können die Eltern dies auch verhindern. Allerdings gab es auch Einzelfälle, in denen Großeltern ein Kind beschneiden ließen (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, vom 23.11.2020, S. 51 ff. sowie vom 20.5.2020, S. 44 ff.).
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2020, vom 5.12.2020, S. 60) ist die weibliche Genitalverstümmelung nach wie vor verbreitet. In einigen, meist ländlichen Regionen im Südwesten und in der Region Süd-Süd ist die Praxis weit verbreitet, im Norden weniger. In einigen Bundesstaaten ist die Genitalverstümmelung inzwischen unter Strafe gestellt. Eine nationale Gesetzgebung gegen die Praxis existiert zwar seit 2015, ist aber in nur einzelnen Bundesstaaten umgesetzt worden. Verschiedene Aufklärungskampagnen versuchen, einen Bewusstseinswandel einzuleiten. Im traditionellen konservativen Norden, aber auch in anderen Landesteilen, sind alleinstehende Frauen oft erheblichem Druck der Familie ausgesetzt und können diesem häufig nur durch Umzug in eine Stadt entgehen, in der weder Familienangehörige noch Freunde der Familie leben.
Nach ACCORD (Anfragebeantwortung zu Nigeria: Verbreitung von FGM, rechtliche Bestimmungen und Organisationen vom 9.3.2020) scheint es, dass FGM rückläufig ist. Sie kommt unterschiedlich in den ethnischen Gruppen vor, meist bei Kleinkindern, aber auch bei älteren Kinder und bei Frauen. Das erlassene Bundesgesetz gegen FGM gilt jedoch nur im Hauptstadtterritorium. Andere Bundesstaate müssten erst entsprechende Gesetze erlassen, um ein landesweites Verbot zu erreichen. NGOs berichten, dass es seitens der Behörden wenige Bemühungen gebe, verabschiedete Gesetze mit positiven Auswirkungen für Frauen durchzusetzen. Dies gilt gerade für nicht ausreichend umgesetzte FGM-Gesetze. Die Umsetzung dieser Gesetze ist aufgrund kultureller Faktoren schwach. Zudem gibt es keine effektiven Überwachungsmechanismen zur Einhaltung und Umsetzung der Gesetze. Die vorgesehenen Strafen sind gering. Auch die nigerianische Bundesregierung hat im Jahr 2018 keine Maßnahmen zur Umsetzung ergriffen.
Nach Überzeugung des Gerichts sowie auch der Rechtsprechung kommt es auf den Einzelfall an, ob eine Genitalverstümmelung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und ob die Betreffende dieser entgehen kann.
Die einschlägige Rechtsprechung geht nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in verschiedenen Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist, wobei die Schätzungen auseinandergehen. Während teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis und einem Bewusstseinswandel ausgegangen wird, ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck sowohl auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Dabei variiert das Beschneidungsalter von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist auch abhängig von der Ethnie (VG Augsburg, U.v. 12.11.2020 – Au 9 K 18.31082 – juris; U.v. 29.10.2020 – Au 9 K 20.30841 – juris; U.v. 1.10.2020 – Au 9 K 20.30887 – juris jeweils m.w.N. sowie SaarlVG, U.v. 24.8.2020 – 3 K 588/20 – juris; VG Würzburg, U.v. 25.3.2020 – W 10 K 20.30061; U.v. 21.6.2019 – W 10 K 19.30393; VG Münster, U.v. 25.3.2019 – 5 K 5694/17.A – juris; VG Stuttgart, U.v. 20.8.2015 – A 7 K 1575/14 – juris; VG München, U.v. 3.5.2005 – M 21 K 03.52083, M 21 K 04.52030 – juris). Letztlich ist auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, ob eine Genitalverstümmelung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gedroht hat bzw. droht (BayVGH, B.v. 24.9.2020 – 7 ZB 20.31834; OVG Bln-Bbg, B.v. 20.8.2020 – OVG 11 N 81/20 – juris).
Ausgehend von dieser Sach- und Rechtslage ist es der Klägerin gelungen, die für ihre Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise in ihrem Einzelfall geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin ist eine begründete Gefahr geschlechtsbezogener politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Gerade durch die persönlichen glaubhaften Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung über ihr Schicksal im Zusammenhang mit der ihr drohenden Genitalverstümmelung als Auslöser ihres Verfolgungsschicksals hat das Gericht keine Zweifel, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.
Die Klägerin hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ihr Schicksal glaubhaft geschildert. Bei der Würdigung der Aussagen der Klägerin ist zu bedenken, dass angesichts des sensiblen Charakters der Informationen, die die persönliche Intimsphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, allein daraus, dass diese Person, weil sie zögert, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren und gewisse Sachverhalte gegenüber dem Bundesamt für … nicht so deutlich bzw. anders angegeben hat, nicht geschlossen werden kann, dass sie deshalb unglaubwürdig ist (vgl. EuGH, U.v. 2.12.2014 – C-148/13 bis 150/13 – ABl. EU 2015, Nr. C 46 S. 4 – NVwZ 2015, 132; siehe auch Gärlich, Anmerkung, DVBl. 2015, 165, 167 ff.). Weiter ist zu bedenken, dass die sexuelle Entwicklung des Einzelnen und das Offenbaren von geschlechtsbezogenen Erlebnissen – gerade wenn sie traumatisierende Wirkung haben – individuell sehr unterschiedlich verlaufen und nicht zuletzt von der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seiner kulturellen, gesellschaftlichen und auch religiösen Prägung sowie seiner intellektuellen Disposition abhängen (vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 22/2015, Anm. 6 – zur Homosexualität).
Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin gerade in ihrem Heimatort tatsächlich eine geschlechtsbezogene Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gedroht hat, insbesondere in Form der Genitalverstümmelung, und bei einer Rückkehr erneut drohen würde. Das Gericht hat nicht den Eindruck, dass die Klägerin ihr Verfolgungsschicksal mit der wiederholt drohenden Genitalverstümmelung, den erfolgten und versuchten Vergewaltigungen und der daraus resultierenden psychischen Erkrankung nur aus asyltaktischen Gründen vorgibt. Vielmehr sprechen ihre Schilderungen von einem wirklich erlebten Schicksal.
Die Klägerin hat bei ihrem Vorbringen im behördlichen bzw. gerichtlichen Verfahren und insbesondere in der mündlichen Verhandlung nicht bloß abstrakt von einem ausgedachten, flüchtlingsrelevanten Sachverhalt berichtet, sondern in umfangreichen Ausführungen detailreich ihr Schicksal geschildert. Anders als bei einem erfundenen Schicksal erwähnte die Klägerin dabei auch immer wieder nebensächliche Details und lieferte so eine anschauliche Schilderung ihrer Erlebnisse. Hinzu kommen die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in ihre Gefühlslage und Gedankenwelt. Gerade die nicht verbalen Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit der Klägerin und für den wahren Inhalt ihrer Angaben. Dabei kommt das Auftreten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und die Art und Weise ihrer Aussage im Protokoll über die mündliche Verhandlung am 29. Juni 2020 nur ansatzweise zum Ausdruck, zumal kein Wortprotokoll geführt wurde. So musste etwa die Verhandlung für gut zehn Minuten unterbrochen werden, um der Klägerin, die sichtlich und für das Gericht auch offenkundig von ihrer Erinnerung mitgenommen wurde, eine Pause zu gönnen.
Darüber hinaus ist zu betonen, dass – wie auch schon angeführt – die Reaktionen auf traumatisierte Ereignisse von Mensch zu Mensch unterschiedlich sind. Das Gericht hat den persönlichen Eindruck von der Klägerin, dass diese gerade nicht künstlich dramatisieren und tränenreich ihr Schicksal schildern wollte, sondern dass sie im Gegenteil bewusst versucht hat, übermäßige Gefühlsregungen zu blocken und nach außen ihre Beherrschung zu behalten. Die Klägerin hat dabei gerade nicht emotionslos gewirkt, sondern durch den Versuch einer gewissen Distanzierung überhaupt über sich gebracht, ausführlich über die traumatisierenden Erlebnisse zu sprechen und die zahlreichen Fragen des Gerichts zu beantworten. Ins Bild passt ergänzend die Aussage des Beistandes der Klägerin, die betonte, dass die Klägerin eine starke Frau sei.
Die Klägerin schilderte glaubhaft die drohende Genitalverstümmelung und nannte dabei auch Details, wie sie etwa ihre Schulzeit beschrieb, auch mit dem Wechsel im Hinblick auf ihre Geschwister, und auch, dass sie zwischenzeitlich als Krankenschwester bzw. als Aushilfskrankenschwester gearbeitet habe. Dabei erwähnte sie Details wie etwa, dass sie am Tag ihrer Flucht verletzt und mitgenommen gewesen sei und gleichwohl extra noch ihre Schuluniform habe anziehen wollen, um so an der Prüfung teilzunehmen. Sie habe die Prüfung bestanden, aber die sei nicht perfekt gewesen. Die Klägerin konnte in dem Zusammenhang auf Nachfragen des Gerichts auch zu Nebensächlichkeiten ohne Zögern antworten.
Die Klägerin erzählte weiter, wie sie dann in Lagos in ein Restaurant gekommen sei. Sie konnte auch dort Details des Restaurants und ihrer Übernachtungsstelle beschreiben. Sie erklärte, es sei kein fester Bau aus Beton gewesen, sondern etwas Leichtes wie ein Gartenhaus. Auf ausdrückliche Nachfrage des Gerichts schilderte sie auch die näheren Umstände zu dem Mann, der dann mit vier Freunden zurückgekommen sei und sie dann nachts vergewaltigt habe. Sie erklärte dabei ausdrücklich: Sie habe sich schmutzig gefühlt.
Ihre Schilderungen decken sich mit ihrem vorherigen Vorbringen, ohne dass große Widersprüche zu erkennen sind, auch wenn sie die Vergewaltigungen erstmals im Vorfeld der mündlichen Verhandlung und dann in der mündlichen Verhandlung erwähnte. Die Klägerin gab auf Nachfrage dazu nachvollziebar an, sie sei sich unsicher gewesen. Die Vergewaltigungen seien ein Teil ihres Lebens. Aber sie habe sie nicht erzählen wollen. Es sei ein Teil ihres Lebens gewesen, den sie habe vergessen wollen. Weiter brachte sie in der mündlichen Verhandlung vor, sie habe versucht, die Erlebnisse wegzudrücken und nicht daran zu denken. Sie habe versucht, normal zu sein. Es sei in Afrika nicht üblich, dass man gleich eine psychische Behandlung angeboten bekomme. Sie sei verletzt gewesen, aber sie habe weiterleben wollen. Hätte es eine Möglichkeit psychischer Behandlung gegeben, hätte sie diese angenommen.
Bildreich und anschaulich schilderte die Klägerin ihren weiteren Werdegang, den Aufenthalt in Senegal. Die Klägerin beschrieb weiter die Umstände ihrer Rückkehr in ihren Heimatdort, weil sie habe heiraten wollen und es bei ihnen Brauch gewesen sei, sich die Zustimmung abzuholen. Sie habe sich entschlossen, zurückzugehen und traditional zu heiraten, zumal sie davon ausgegangen sei, dass die Ältesten bei ihr von der Pflicht einer Beschneidung absehen würden, weil ihre jüngere Schwester in ihrer Abwesenheit beschnitten worden und letztlich wegen der Krankheit Tetanus daran verstorben sei. Die Klägerin führte aus, dass ihr Hochzeit vorbereitet worden und die Familie ihres Mannes zu ihrer Familie gekommen sei. Bei ihnen sei es Tradition, dass die Ältesten die zu verheiratende Frau quasi freigäben. Die Ältesten seien gekommen und hätten sie als die wiedererkannt, die seinerzeit vor der Beschneidung geflüchtet sei. Sie hätten die traditionelle Hochzeit unter einem Vorwand abgebrochen. In Wirklichkeit habe man sie, die Klägerin, beschneiden und anderweitig verheiraten wollen. In dem Zusammenhang blieb die Klägerin bei ihren Ausführungen nicht im Allgemeinen, sondern beschrieb wieder detailreich etwa die Reaktion ihres Bräutigams, der das Ganze nicht verstanden und sie verlassen habe, weil er sehr viel Geld verloren habe für die ganze Reise von Senegal nach Nigeria, die die Familie organisiert habe.
Die Klägerin schilderte nach der Zeit in Senegal, wie sie dann gutgläubig mit einem Freund zusammen nach Europa, Frankreich, gekommen sei und dieser sie dort habe zur Prostitution zwingen wollen. Zuvor habe er sie vergewaltigen wollen. Insoweit erwähnte sie erneut Einzelheiten, wie der Vergewaltiger etwa nur mit einem Handtuch bekleidet zu ihr gekommen sei. Er habe zu ihr gesagt, bevor sie zu seinen Kunden gehe und mit denen schlafe, wolle er mit ihr schlafen, weil er den besseren Teil von ihr haben wolle. Sie habe zunächst erst nachgedacht, was in der Vergangenheit passiert sei. Dann habe sie gekämpft. Auch insoweit konnte sie in der mündlichen Verhandlung auf die Nachfragen des Gerichts plausible und konkrete Antworten geben.
Die Klägerin hatte weiter zuvor auf Frage des Gerichts auch schon angesprochen auf die Widersprüchlichkeit, dass einerseits vom Koffer, andererseits von einer Tasche die Rede gewesen sei, die näheren Umstände ihrer Flucht dargelegt und plausibel erklärt, dass sie ihren Koffer nicht habe mitnehmen können und dass sie dann einige Wochen auf verschiedene Bahnhöfe, quasi auf der Straße, übernachtet habe. Bei dieser Gelegenheit sei ihre Tasche abhandengekommen.
Weiter beschrieb die Klägerin ausführlich insbesondere auf ausdrückliche Nachfragen des Gerichts ihre psychischen Folgen der Erlebnisse. Die Klägerin erzählte so nicht von sich aus vermeintlich Angelerntes, sondern antwortete vielfach auf diverse Nachfragen des Gerichts. Dies gilt etwa für die Frage, welche Rolle bei den psychischen Problemen der letzte Vergewaltigungsversuch gespielt habe bzw. die Vergewaltigungen in der Heimat. Die Klägerin gab an, dass sich die Auswirkungen so gestalteten, dass sie keine Beziehung zu Männern mehr führen könne, dass sie Alpträume und Flashbacks habe, dass sie Stimmen höre, dass sie immer ängstlich sei und dass sie, wenn sie versuche einzuschlafen, nicht einschlafen könne. Sie höre Stimmen und glaube, jemand klopfe an die Tür. Sie könne nicht mit einem Mann in einem Raum sein. Sie räumte ehrlich ein, dass die Probleme unterschiedlich aufträten. Es gebe auch Tage, an denen sie keine Probleme habe. Sie erklärte, auch Suizidgedanken gehabt zu haben. Es sei nicht nur die Vergewaltigung, sondern alles habe sie bedrückt. Etwa als sie nach Frankreich habe abgeschoben werden sollen, habe sie Angst bekommen, dass sie ihren Vergewaltiger wieder treffe. Dieser sei häufig in ihren Träumen vorgekommen.
Nicht zuletzt der Beistand bekräftigte ihre Ausführungen, gerade was die Reaktionen und die psychischen Probleme anbelangt. So erzählte der Beistand, dass die Klägerin aus Angst erst später von ihren Vergewaltigungen erzählt habe; dies seien Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen. Der Beistand berichtete, dass die Klägerin Suizidabsichten geäußert und aus Angst zeitweise mit einem Messer neben sich geschlafen habe und dass immer wieder ihre Probleme und ihre Erinnerungen hochkämen.
Die Klägerin gab schließlich auch ehrlich – und ohne aufzubauschen oder zu dramatisieren – auf die Frage des Gerichts, was bei einer Rückkehr nach Nigeria passieren würde, an, es könnte zwei Dinge geben, entweder würde sie Selbstmord begehen oder zum anderen versuchen, wieder zu flüchten, sie würde nicht in Nigeria bleiben. Sie habe Angst vor einer Beschneidung, wenn sie zurückmüsste und auch, wenn sie in Zukunft mal ein Kind, insbesondere ein Mädchen, bekommen würde, das beschnitten werden sollte. Sie habe auch Angst, die Vergewaltiger in Nigeria wieder zu treffen.
Nach dem Gesamteindruck bestehen für das Gericht keine Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Klägerin zu ihrer Verfolgungsgeschichte, insbesondere auch der ihr drohenden Genitalverstümmelung. Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Klägerin die Wahrheit gesagt hat. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach den traditionellen Gepflogenheiten in ihrem Heimatort infolge der Macht der Dorfältesten die Genitalverstümmelung drohen würde.
Dass die Klägerin nicht schon früher von den Vergewaltigungen in Nigeria gesprochen hat, hängt zur Überzeugung des Gerichts zum einen mit ihrer traumabedingten psychischen Verfassung und den Verdrängungsmechanismen zusammen und zum anderen mit dem Umstand, dass die zurückliegenden Vergewaltigungen vom neueren Geschehen, insbesondere dem letzten Vergewaltigungsversucht in Frankreich, überlagert wurden. Vielmehr war das Vorbringen der Klägerin durchweg anschaulich und eingehend. Sie wich den Fragen des Gerichts nicht aus und antwortete, ohne zu Übertreibungen zu neigen und ohne sich in Widersprüche zu verlieren, detailliert auf die zahlreichen Fragen des Gerichts. Ihr Vorbringen war insgesamt glaubhaft (vgl. auch VG Magdeburg, U.v. 28.1.2020 – 6 A 40/19 MD – asyl.net: M28077; https://www.asyl.net/rsdb/m28077/).
In dem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass auch die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid nicht dargelegt hat, geschweige denn begründet hat, dass das Vorbringen der Klägerin bei der Bundesamtsanhörung nicht glaubhaft gewesen sei. Vielmehr verwies die Beklagte auf das Bestehen eines internen Schutzes in Nigeria nach § 3e AsylG.
Der Verweis der Beklagten auf eine mögliche inländische Aufenthaltsalternative deckt sich mit den vorliegenden Erkenntnissen, wonach eine alleinstehende Frau einer drohenden weiblichen Genitalverstümmelung häufig nur durch Umzug in einer anderen Stadt entgehen könne (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2020, vom 5.12.2020, S. 16 und 17 sowie der Rechtsprechung des erkennenden Gerichts sowie zahlreicher anderer Gerichte; VG Würzburg, U.v. 23.11.2020 – W 8 K 20.30667 – juris; U.v. 5.10.2020 – W 8 K 20.30551 – juris; U.v. 10.8.2020 – W 8 K 20.30485 – juris; U.v. 25.3.2020 – W 10 K 20.30061; U.v. 21.6.2019 – W 10 K 19.30393; jeweils m.w.N. sowie VG Augsburg, U.v. 12.11.2020 – Au 9 K 18.31082 – juris; U.v. 29.10.2020 – Au 9 K 20.30841 – juris; U.v. 1.10.2020 – Au 9 K 20.30887 – juris; U.v. 17.9.2020 – Au 9 K 20.30940 – juris; U.v. 20.2.2020 – Au 9 K 17.35117 – juris; SaarlVG, U.v. 24.8.2020 – 3 K 588/20 – juris; BayVGH, B.v. 20.11.2019 – 10 ZB 19.33495 – juris).
Im vorliegenden Einzelfall besteht für die Klägerin allerdings keine interne Schutzmöglichkeit in Nigeria und insbesondere keine zumutbare Aufenthaltsalternative, weil der nigerianische Staat zum einen nicht willens und in der Lage ist, der Klägerin in ihrem Heimatort effektiven Schutz gerade vor dem Ansinnen der Dorfältesten zu bieten, wie die oben zitierten Erkenntnisquellen belegen, und weil sich die Klägerin zum anderen aufgrund ihrer psychischen Erkrankung das Existenzminimum in Nigeria nicht sichern könnte (vgl. ebenso VG Magdeburg, U.v. 28.1.2020 – 6 A 40/19 MD – asyl.net: M28077; https://www.asyl.net/rsdb/m28077/; VG Würzburg, U.v. 21.6.2019 – W 10 K 19.30393; VG Münster, U.v. 25.3.2019 – 5 K 5694/17.A – juris; VG Stuttgart, U.v. 20.8.2015 – A 7 K 1575/14 – juris; VG München, U.v. 3.5.2005 – M 21 K 03.52083, M 21 K 04.52030; juris; VG Aachen, U.v. 12.8.2003 – 2 K 1924/00.A – juris).
Denn nach dem eigens eingeholten forensisch-psychiatrischen Gutachtens vom 20. November 2020 ist nach den – wie ausgeführt glaubhaften – Angaben der Klägerin davon auszugehen, dass die Rückkehr nach Nigeria einen erheblichen Trigger für intensivierte Flashbacks, Alpträume, Angst darstellt, was in der Vergangenheit zu einer massiven Verschlechterung der Symptomatik einschließlich Suizidalität geführt hat, was hochwahrscheinlich auch wieder bei einer Rückkehr nach Nigeria eintreten würde, auch wenn sich die Klägerin in einem anderen Landesteil niederlassen würde. Eine solche Verschlechterung ist laut Gutachter wahrscheinlich nicht durch eine medikamentöse Behandlung verhinderbar. Diese gutachterliche Aussage deckt sich im Ergebnis mit den zahlreichen weiteren teilweise qualifizierten (§ 60a Abs. 2c AufenthG) ärztlichen Unterlagen sowie auch mit der Wahrnehmung des Beistandes der Klägerin, die zuletzt ebenfalls betont hat, selbst wenn die Klägerin versuchen würde, das Existenzminimum zu sichern, könne sie es nicht schaffen, da die Trigger und ihre psychischen Probleme wieder hochkommen würden. Die Klägerin wäre nirgends in Nigeria sicher.
Im Gegensatz zu den Ausführungen des Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 1. Dezember 2020 hat das Gericht keine grundlegenden Bedenken gegen die Verwertbarkeit und Stimmigkeit des Gutachtens, das gerade auch zahlreiche andere ärztlichen Unterlagen beigezogen hat und das bei seiner Diagnose und seinen Schlussfolgerungen in Einklang mit diesen steht.
Soweit das Bundesamt rügt, dass der Gutachter die Angaben der Klägerin seiner Begutachtung zugrunde gelegt und diese nicht hinterfragt habe, ist darauf hinzuweisen, dass der Nachweis der traumatischen Lebensereignisse als Auslöser für die Symptomatik nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist. Denn es ist ausschließlich Sache des Gerichts, sich selbst nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO die notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivorbringens zu verschaffen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst dabei sowohl die Würdigung des Vorbringens im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich der vorliegenden ärztlichen Unterlagen sowie der Überprüfung der darin getroffenen Feststellung auf Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegen als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (so ausdrücklich BayVGH, B.v. 17.11.2020 – 13a ZB 19.31718 – juris; B.v. 20.2.2020 – 15 ZB 20.30194 – juris jeweils m.w.N. – letzterer Beschluss ausdrücklich mit Bezug auf ein Gutachten desselben Gutachters wie im vorliegenden Verfahren).
Soweit das Bundesamt einzelne Aspekte anspricht, die hätten hinterfragt werden müssen, ist ihm selbst vorzuhalten, dass das Bundesamt bei seiner eigenen Anhörung derartige Aspekte und vermeintliche Widersprüche zum Vorbringen der Klägerin dieser nicht vorgehalten und hinterfragt hat. Außerdem hat das Bundesamt selbst, wie schon erwähnt, im streitgegenständlichen Bescheid zu eventuellen Widersprüchen der Klägerin Dahingehendes nicht dargelegt. Vielmehr hat das Bundesamt im Bescheid ebenfalls das Vorbringen der Klägerin seiner Bewertung zugrunde gelegt.
Außerdem ist dem Bundesamt für … entgegenzuhalten, dass es in keiner der beiden mündlichen Verhandlung erschienen ist, um die von ihm aufgeworfenen vermeintlichen Zweifel selbst hinterfragen zu können. Demgegenüber hat das Gericht einen Großteil der nun vom Bundesamt nach Gutachtenserlass kritisierten Aspekte, etwa die Sache mit der Handtasche, die Einzelheiten des Kampfs in Frankreich bei der versuchten Vergewaltigung, die Umstände der Vergewaltigungen in Nigeria usw. in der mündlichen Verhandlung angesprochen und der Klägerin vorgehalten und sich so selbst – im Gegensatz zum Bundesamt für … – einen persönlichen Eindruck als Grundlage der Entscheidung verschafft. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2020 auch ausführlich den Umstand angesprochen, dass die Vergewaltigungen in Nigeria erst im Frühjahr 2020 erstmals erwähnt worden sind.
Soweit das Bundesamt weiter bemängelt, dass erstmals beim Gutachter von Flashbacks schon in Nigeria bzw. in Senegal berichtet worden sei, ist demgegenüber auf die entsprechenden Aussagen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 29. Juni 2020 zu verweisen. Dort gab sie auf Seite 6 des Protokolls ausdrücklich an, sie sei unsicher gewesen. Es sei ein Teil ihres Lebens. Aber sie habe es nicht erzählen wollen. Es sei ein Teil ihres Lebens gewesen, den sie habe vergessen wollen. Weiter führte sie auf Seite 8 des Protokolls auf ausdrückliche Frage des Gerichts nach Flashbacks aus, sie habe im Senegal keine psychischen Probleme gehabt. Sie habe versucht, die Erlebnisse wegzudrücken und nicht daran zu denken. Sie habe versucht, normal zu sein. Es sei in Afrika nicht üblich, dass man gleich eine psychische Behandlung angeboten bekomme. Sie sei verletzt gewesen, aber sie habe weiterleben wollen. Wenn es aber die Möglichkeit einer psychologischen Behandlung gegeben hätte, hätte sie diese angenommen. Die habe es aber nicht gegeben. Damit ist für das Gericht klar gewesen, dass schon in dem ganz frühen Stadium nach den ersten Vergewaltigungen psychische Probleme aufgetreten sind, die die Klägerin aber verdrängt hat und die nach Überzeugung des Gerichts von späteren Ereignissen überlagert worden sind und erst nach dem erneuten Vergewaltigungsversuch in Frankreich sowie mit der drohenden Abschiebung nach Frankreich bzw. später nach Nigeria wieder zum Ausbruch gekommen sind.
Ergänzend wird auf die zur Kritik des Bundesamtes eigens vom Gericht noch eingeholten Erläuterungen des Gutachters in seiner Stellungnahme vom 26. Dezember 2020 verwiesen, der dort unter anderem auch ausdrücklich und zutreffend darstellte, dass es nicht Aufgabe des Gutachters sei, den Wahrheitsgehalt der Angaben der Klägerin zu klären und außerdem – zu Recht – auf andere renommierte Beurteiler verwies, die in weiten Teilen zu den gleichen diagnostischen Aussagen gekommen seien wie der Gutachter.
Zusammenfassend steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin unter schweren psychischen Erkrankungen leidet, die ihr nicht erlauben, in Nigeria alleine fern von ihrem Heimatort zu leben. Eine adäquate medizinische Versorgung ist in Nigeria zudem nicht erhältlich. Ist die Gesundheitsversorgung insgesamt schon in Nigeria als mangelhaft zu bezeichnen, so gilt dies erst Recht im Hinblick auf psychische Erkrankungen. In Nigeria existiert kein dem westlichen Standard entsprechendes Psychiatriewesen, sondern es gibt allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, Stand: September 2020, vom 5.12.2020, S. 24 ff.; BfA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Nigeria, vom 23.11.2020, S. 73 ff.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Nigeria: Lage von Personen mit psychischen Erkrankungen vom 30.4.2020 m.w.N.). Selbst wenn es in Nigeria geeignete Medikamente geben würde, scheidet nach Auffassung des Gerichts aus, dass die Klägerin die finanziellen Mittel dafür dauerhaft erwirtschaften könnte. Des Weiteren hat der Gutachter ausdrücklich angemerkt, dass eine Verschlechterung bis hin zum Selbstmord infolge der in Nigeria zu erwartenden erheblichen Trigger durch eine medikamentöse Behandlung wahrscheinlich nicht verhindert werden könnte. Eine Rückkehr der Klägerin nach Nigeria ist ihr damit nicht zuzumuten und von Rechts wegen ausgeschlossen.
Nach alledem war der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nummern 1 und 3 bis 6 aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) sowie zur nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden (§ 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG).
Neben der Aufhebung der entsprechenden Antragsablehnung im Bundesamtsbescheid sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für … erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidungen (vgl. § 75 Nr. 11 AufenthG).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erfolgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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