Verwaltungsrecht

Gefahrenprognose bei Ausweisung

Aktenzeichen  10 ZB 19.2489

Datum:
3.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9562
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1

 

Leitsatz

Eine Ausweisung dient der Gefahrenabwehr, sie verfolgt keine Strafzwecke. Dies gilt auch für generalpräventive Ausweisungszwecke (Rn. 8). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 19.3940 2019-11-06 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein somalischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 2. Juli 2019 (in der Fassung vom 6. November 2019) weiter, mit dem er aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen, seine Abschiebung angedroht und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet und auf fünf (unter der Bedingung der Straffreiheit) bzw. sieben Jahre befristet wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne dieser Bestimmung bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist nicht der Fall.
Der Kläger wurde am 15. November 2013 unter anderem wegen neun Fällen der sexuellen Nötigung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und elf Monaten ohne Bewährung verurteilt. Vom 6. März 2013 bis 27. Juni 2014 befand er sich in Haft, sodann wurde der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt. Danach hielt er sich etwa zwei Jahre in Schweden auf, bevor er am 12. Februar 2017 wieder ins Bundesgebiet einreiste. Mit Entscheidung vom 24. März 2017 stellte das Amtsgericht ein Strafverfahren wegen Körperverletzung gegen eine Ermahnung nach § 47 JGG ein. Wegen Bedrohung wurde er am 6. März 2018 unter Einbeziehung des Urteils vom 15. November 2013 zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt; die Verurteilung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Schließlich wurde er am 22. November 2018 wegen versuchter Körperverletzung und Beleidigung zu vier Tagen Kurzarrest verurteilt und angewiesen, am sozialen Trainingskurs des Jugendamts teilzunehmen.
Das Verwaltungsgericht hat bei der im Rahmen der Ausweisung (§ 53 Abs. 1 AufenthG) zu treffenden Gefahrenprognose festgestellt, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass der Kläger erneut erheblich straffällig werde. Bei ihm handele es sich um einen Wiederholungstäter und Bewährungsversager, der sich trotz Haft, Ermahnung und offener Bewährung zu weiteren Straftaten habe hinreißen lassen. Zuletzt sei in dem Strafurteil vom 21. November 2018 auf die erhebliche Rückfallgeschwindigkeit und sein „offensichtlich noch nicht bewältigtes Aggressionsproblem“ hingewiesen worden. In der mündlichen Verhandlung habe das Verwaltungsgericht nicht den Eindruck gewinnen können, dass er sich mit seinem Verhalten intensiv auseinandergesetzt und sich Gedanken darüber gemacht habe, wie er sich in Zukunft davor bewahren wolle, wieder aggressiv in Erscheinung zu treten. Dieser Eindruck werde bestätigt durch die Bescheinigung über den absolvierten sozialen Trainingskurs, die die zweitschlechteste aller möglichen Bewertungsvarianten aufweise. Es sei beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger mangels verinnerlichter Bewältigungsstrategien in belastenden und konfliktbehafteten Situationen mit aggressivem Verhalten reagieren und in alte Muster verfallen werden. Erschwerend komme hinzu, dass er weder einen Schulabschluss noch eine Berufsausbildung habe und keiner geregelten Arbeit nachgehe. Auch hier sei erkennbar, dass der Kläger sich mit der Situation nicht auseinandergesetzt habe und Bemühungen vermissen lasse, in Zukunft wirklich etwas ändern zu wollen. Darüber hinaus lebe der Kläger in einem instabilen Umfeld.
Mit dem Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags kann der Kläger die vom Verwaltungsgericht getroffene Gefahrenprognose nicht in Frage stellen. Er meint, das Verwaltungsgericht habe keine überzeugenden Gründe darlegen können, warum es von der strafrichterlichen Prognose bei der Strafaussetzung zur Bewährung abgewichen sei. Es halte ihm vor, er habe in der mündlichen Verhandlung sämtliche Ausführungen dazu vermissen lassen, wie er künftig ein weniger aggressives Verhalten an den Tag legen wolle. Entscheidend für die Wiederholungsgefahr sei aber nicht, wie gut er sich in der mündlichen Verhandlung artikulieren könne – er tue sich sprachlich in Deutsch und auch emotional nicht ganz leicht – sondern wie er sich tatsächlich seit der letzten Verurteilung am 6. März 2018 verhalten habe; die Verurteilung vom 22. November 2018 müsse wegen der geringen Schwere der Tat außer Betracht bleiben. Die ganz überwiegende Mehrzahl seiner Straftaten habe er im Februar und März 2013, d.h. als Jugendlicher mit gerade einmal 14 Jahren, begangen. Diese sexualbezogenen Straftaten habe er nicht mehr wiederholt; insoweit sei allein sein weiteres, positives Verhalten entscheidend. Dies bedeute, dass er sich insoweit fast sieben Jahre straffrei geführt habe. Die späteren Straftaten müssten hiervon getrennt gesehen werden, lägen aber auch bereits mehr als zwei Jahre zurück.
Dieser Vortrag wird den ausführlichen und differenzierten Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht gerecht. Dieses hat seine Prognose zu Recht auf das Gesamtbild, das es von der Persönlichkeit des Klägers gewonnen hat, gestützt. Die von ihm begangen Straftaten können dabei nicht schematisch danach sortiert werden, wie lange sie jeweils zurückliegen. Auch können die von ihm nach 2013 begangenen Straftaten bei der Gefahrenprognose nicht einfach außer Betracht bleiben, weil sie nach seiner Meinung nur eine geringe Schwere aufwiesen bzw. von den sexualbezogenen Straftaten getrennt werden müssten. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass alle diese Straftaten eine erhebliche Gewaltbereitschaft des Klägers widerspiegeln, die er noch nicht bewältigt hat; es fehle bereits an einer ausreichenden Einsicht in das Problem und an Vorstellungen dazu, wie er es angehen wolle. Dass er sich womöglich aufgrund sprachlicher und emotionaler Hemmungen in der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend artikulieren konnte, kann diese Mängel nicht erklären. Vielmehr lässt sich auch den Lebensverhältnissen des Klägers entnehmen, dass er keine ernsthaften Bemühungen unternimmt, um in seiner Situation Verbesserungen zu erreichen und sein künftiges Leben zu strukturieren und zu stabilisieren. Er hat keine eigene Wohnung, sondern übernachtet bei Freunden, und er war offensichtlich auch immer nur sporadisch beschäftigt. Auf alle diese weiteren Gesichtspunkte in den Erwägungen des Verwaltungsgerichts geht die Begründung des Zulassungsantrags nicht ein.
Keine ernsthaften Zweifel kann der Kläger auch hinsichtlich der generalpräventiven Erwägungen des Verwaltungsgerichts vortragen. Soweit er darauf hinweist, dass seine Straftaten ja mit einer zweijährigen Jugendstrafe geahndet worden seien, ist dem entgegenzuhalten, dass eine Ausweisung keine Strafzwecke verfolgt, sondern der Gefahrenabwehr dient, dies gilt auch für generalpräventive Ausweisungszwecke. Wenn er behauptet, er habe anderen Ausländern mit seinem korrekten Verhalten in der Haft und dann auch in seiner Bewährungszeit ein gutes Beispiel gegeben, trifft dies offensichtlich nicht zu. Die Verurteilungen von 2018 erfolgten während der (derzeit immer noch bis zum 5. September 2021 laufenden) Bewährungszeit. Auch von einem „korrekten Verhalten in der Haft“ kann keine Rede sein; die Bescheinigung der JVA L. vom 27. August 2014 legt dar, dass gegen den Kläger während seines Aufenthalts dort fünfmal Disziplinarmaßnahmen, fast ausschließlich wegen Tätlichkeiten bzw. aggressivem Verhalten, verhängt wurden.
Gegen die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung der öffentlichen Interessen an der Ausreise des Klägers und seinen Interessen an einem weiterem Verbleib im Bundesgebiet (§ 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG) sowie hinsichtlich der Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung (§ 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 AufenthG) wurde im Zulassungsverfahren nichts vorgetragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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