Verwaltungsrecht

(Grundsicherung für Arbeitsuchende – Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG – vollziehbare Ausreisepflicht – Duldungsfiktion – Freizügigkeitsrecht als Familienangehöriger oder nahestehende Person – nichtehelicher Lebensgefährte und Vater des Kindes einer Unionsbürgerin- unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis – faktischer Zwang zum Verlassen des Unionsgebiets)

Aktenzeichen  L 2 AS 490/21 B ER

Datum:
29.12.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2021:1229.L2AS490.21B.ER.00
Normen:
§ 7 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 2
§ 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG
§ 1 Abs 4 AsylbLG
§ 50 Abs 1 AufenthG 2004
§ 58 Abs 2 AufenthG 2004
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Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Ist der Lebensgefährte einer Unionsbürgerin und Vater des gemeinsamen noch nicht schulpflichtigen Kindes selbst kein Unionsbürger und hat einen Aufenthaltstitel aus familiären Gründen beantragt, sodass die Abschiebung gem § 81 Abs 3 S 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ausgesetzt ist, kann er nach dem AsylbLG leistungsberechtigt sein. Es greift insoweit die Auffangvorschrift für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer gem § 1 Abs 1 Nr 5 AsylbLG, wenn kein Leistungsausschluss nach § 1 Abs 4 AsylbLG besteht. (Rn.33)


2. Das Unionsrecht verleiht dem Ausländer in diesem Fall keine eigene Rechtsposition, die ein Aufenthaltsrecht begründet. Er ist nicht freizügigkeitsberechtigt nach dem FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004). Ein Freizügigkeitsrecht ergibt sich nicht aus §§ 2 Abs 2 Nr 6, 3 Abs 1 S 1 FreizügG/EU, weil er kein Familienangehöriger der Unionsbürgerin ist. Es folgt auch nicht aus § 3a FreizügG/EU, wenn sein Lebensunterhalt nicht gesichert ist. Ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis scheidet aus, wenn nicht zu befürchten ist, dass die Unionsbürgerin mit dem Kind aufgrund der Abhängigkeit von ihm faktisch gezwungen ist, das Unionsgebiet insgesamt zu verlassen. Allein die faktische Notwendigkeit für die Unionsbürgerin, in einen anderen Mitgliedstaat zurückzukehren, weil nur dort alle Familienmitglieder einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, stellt keine mit dem faktischen Zwang zum Verlassen des Unionsgebietes vergleichbare Einschränkung ihres Unionsbürgerrechts dar. (Rn.38)

Verfahrensgang

vorgehend SG Halle (Saale) 29. Kammer, 2. August 2021, S 29 AS 744/21 ER, Beschluss

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 2. August 2021 (L 2 AS 490/21 B ER) wird zurückgewiesen. Der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. November 2021 (L 2 AS 642/21 B ER) wird mit Wirkung ab dem 1. Februar 2022 abgeändert. Die Beigeladene wird verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit vom 1. Februar bis zum 31. März 2022 vorläufig Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in gesetzlicher Höhe zu gewähren. Soweit das Sozialgericht den Antragsgegner zu Leistungen über den 31. Januar 2022 hinaus verpflichtet hat, wird der Beschluss aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Verfahren zu erstatten.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum Juli bis September 2021 (im Verfahren L 2 AS 490/21 B ER) und von Oktober 2021 bis März 2022 (im Verfahren L 2 AS 642/21 B ER).
Der am … 1988 geborene Antragsteller ist nigerianischer Staatsbürger. Er war nach eigenen Angaben 2009 im Wege des Familiennachzuges (zu seiner Mutter) nach Italien eingereist. Dort hatte er aufgrund einer Einzelarbeitserlaubnis auch eine Beschäftigung ausgeübt. Seine italienische Aufenthaltsgenehmigung („permesso di soggiorno“) aus familiären Gründen war bis zum 29. Mai 2020 gültig. Nach seinen Angaben ist er am 23. Januar 2020 aus V in Italien eingereist und in H. bei seiner hochschwangeren Lebensgefährtin angekommen. Seine Lebensgefährtin L, geb. am … 1987, ist italienische Staatsangehörige und bereits im September 2019 nach Deutschland eingereist und dort seit dem 27. September 2019 melderechtlich erfasst. Das gemeinsame Kind O ist am … 2020 in H. geboren worden und ebenfalls italienische Staatsangehörige. Der Antragsteller erkannte die Vaterschaft an. Zudem gaben die Eltern eine beurkundete Erklärung gem. § 1626a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ab, die elterliche Sorge gemeinsam übernehmen zu wollen. Nach seinen Angaben hätten er und Frau L sich in Italien kennengelernt und seien bereits dort seit 2014 ein Paar gewesen.
Frau L arbeitete vom 24. Juni bis zum 30. September 2020 als Kellnerin in einem Eiscafé in H.. Seit Mitte 2020 (nach dem Mietvertrag seit 15. August 2020) wohnt der Antragsteller mit Frau L und der gemeinsamen Tochter in einer 2-Zimmerwohnung in der S-Straße in H., wofür eine monatliche Gesamtmiete in Höhe von 380 €, bestehend aus der Grundmiete in Höhe von 280 €, Nebenkostenvorauszahlungen in Höhe von 37 € und Heizkostenvorauszahlungen in Höhe von 63 €, zu zahlen ist.
Mit Bescheid vom 3. Februar 2021 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller zusammen mit Frau L und dem Kind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bis zum 31. März 2021.
Am 17. Februar 2021 beantragte der Antragsteller einen elektronischen Aufenthaltstitel (eAT) bei der Beigeladenen (der Stadt H.). Er stellte einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen. Dabei gab er an, dass sein Lebensunterhalt nicht gesichert sei und er und seine Familie SGB II-Leistungen bezögen.
Die Beigeladene stellte ihm daraufhin eine Fiktionsbescheinigung wegen des laufenden Antrages aus. Die Abschiebung sei aufgrund dessen ausgesetzt (§ 81 Abs. 3 Satz 2 Aufenthaltsgesetz – AufenthG). Die diesbezügliche Bescheinigung wurde zuletzt bis zum 13. März 2022 verlängert (Bl. 109b GA). Eine Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme enthält die Bescheinigung nicht; eine solche sei dem Antragsteller nach seinen Angaben auch nicht erteilt worden. Eine Entscheidung über den Aufenthaltstitel wurde bisher noch nicht getroffen.
Den Weiterbewilligungsantrag auf Leistungen nach dem SGB II vom 17. März 2021 lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 29. März 2021 ab, für den Antragsteller unter Hinweis auf die Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG. Die Leistungsablehnung für die Lebensgefährtin begründete er damit, dass diese sich nach dem Verlust der Arbeitsstelle nur zum Zweck der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte. Hiergegen legten der Antragsteller und die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2021 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück, die Klage hiergegen ist unter dem Az. S 29 AS 695/21 beim Sozialgericht (SG) H. anhängig.
Am 15. April 2021 stellten der Antragsteller und seine Lebensgefährtin bei der Beigeladenen einen Antrag auf Gewährung von Sozialhilfe, den der Beigeladene auch als Antrag auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) auffasste.
Mit Bescheiden vom 1. Juni 2021 bewilligte die Beigeladene dem Antragsteller „laufende Leistungen nach § 1a des Asylbewerberleistungsgesetzes ab dem 01.05.2021 bis 31.05.2021“ in Höhe von 289,66 €. Weiter heißt es: „Die Beträge für die Folgemonate werde ich jeweils monatlich im Voraus an die in der Anlage aufgeführten Zahlungsempfänger gewähren, solange sich Ihre persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse nicht geändert haben.“ Er erhalte für Mai 2021 Leistungen nach § 1 Abs. 4 AsylbLG (Überbrückungsgeld). Bei dem Anhörungstermin am 11. Mai 2021 sei er umfassend hinsichtlich der Gewährung von Überbrückungsgeld beraten und belehrt worden. Die Lebensgefährtin des Antragstellers und seine Tochter erhielten mit gesondertem Bescheid einmalig eingeschränkte Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) für den Monat Mai 2021 in Höhe von 699,34 €, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Am 21. Juni 2021 wandte sich der Antragsteller mit einem mit „Widerspruch und Nachfrage ausbleibende Leistungen“ überschriebenen Schreiben an die Beigeladene. Ihm sei mit Bescheid vom 1. Juni 2021 ein Anspruch auf Asylbewerberleistungen bestätigt worden. Er habe für Juni 2021 keine Leistungen erhalten und befinde sich in einer existenzgefährdenden Situation. Die Erläuterungen zum „Überbrückungsgeld“ habe er mangels ausreichender Sprachkenntnisse nicht verstanden. Die Beigeladene forderte ihn im Rahmen des Widerspruchsverfahrens zur Vorlage weiterer Unterlagen auf und wartet wohl im Übrigen die Entscheidung in Bezug auf die Leistungsgewährung nach dem SGB II ab.
Am 2. Juli 2021 haben der Antragsteller, Frau L und die gemeinsame Tochter einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim SG H. gestellt (S 29 AS 744/21 ER, Voraktenzeichen zum Verfahren L 2 AS 490/21 B ER). Frau L arbeite seit dem 1. Juli 2021 mit einem bis zum 31. Oktober 2021 befristeten Arbeitsvertrag als Reinigungskraft mit 30 Wochenstunden bei der Firma M. GmbH (Arbeitsvertrag Bl. 28 GA), zuvor sei sie vom 12. bis zum 30. Juni 2021 im Rahmen eines Minijobs dort tätig gewesen. Mit Bescheid vom 15. Juli 2021 bewilligte der Antragsgegner Frau L und der gemeinsamen Tochter vorläufig Leistungen ab dem 1. Juli bis zum 30. September 2021. Hierbei berücksichtigte er die Wohnkosten zu 2/3. Der Antragsteller habe hingegen keinen Anspruch auf Leistungen, weil ein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG bestehe. Seine Lebensgefährtin und die gemeinsame Tochter haben daraufhin das einstweilige Rechtsschutzverfahren für erledigt erklärt.
Mit Beschluss vom 2. August 2021 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Form von Regelbedarfen und Kosten der Unterkunft für die Zeit vom 1. Juli bis zum 30. September 2021 zu gewähren. Der Antragsteller erfülle die Voraussetzungen für die Annahme der Eigenschaft einer nahestehenden Person i. S. des § 3a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU), da er mit seiner Lebensgefährtin, die über ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin verfüge und einem anderthalbjährigen Kind als Familie zusammenlebe. Aus diesem Grund sei im Rahmen einer Folgenabwägung davon auszugehen, dass dem Antragsteller auf Antrag nach § 3a FreizügG/EU ein Recht zum Aufenthalt verliehen werde. Die Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG führe nicht zu einer Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG und daraus folgend zu einem Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II. Sie begründe nur einen Anspruch auf ein einmaliges Überbrückungsgeld nach § 1 Abs. 4 AsylbLG.
Gegen den ihm am 4. August 2021 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 18. August 2021 Beschwerde eingelegt. Entgegen der Darstellung des SG lägen die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht als nahestehender Person gem. § 3a FreizügG/EU nicht vor. Denn die Verleihung eines solchen Aufenthaltsrechts setze voraus, dass analog § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, auf den § 11 Abs. 5 FreizügG/EU Bezug nehme, der Lebensunterhalt des Antragstellers gesichert sei. Hieran fehle es, wie auch das vorliegende Verfahren zeige.
Der Antragsteller hat beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen. Der Berichterstatter hat die Stadt H. mit Beschluss vom 20. Oktober 2021 beigeladen, weil diese als Träger der Leistungen nach dem AsylbLG als leistungspflichtig in Betracht komme. Der Beigeladenen wurde aufgegeben, sich zur Leistungspflicht nach dem AsylbLG zu äußern.
Am 17. August 2021 stellte die Lebensgefährtin des Antragstellers für die Bedarfsgemeinschaft einen Antrag auf Weiterbewilligung der Leistungen ab dem 1. Oktober 2021 bei dem Antragsgegner. Sie legte einen bis zum 31. März 2022 verlängerten Arbeitsvertrag mit der Firma M. GmbH vor (Bl. 55 f. GA).
Der Antragsteller, Frau L sowie die gemeinsame Tochter haben am 7. Oktober 2021 einen neuerlichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim SG gestellt (S 29 AS 1095/21 ER, Voraktenzeichen zum Verfahren L 2 AS 642/21 B ER). Sie verfügten nur über das Einkommen von Frau L in Höhe von 1.248 € brutto, bzw. 981,35 € netto und über ein Guthaben auf dem Girokonto in Höhe von 47,62 €. Der Antragsgegner bewilligte Frau L und der gemeinsamen Tochter mit Bescheid vom 9. November 2021 vorläufig Leistungen für Oktober 2021 bis März 2022 in Höhe von 260,77 € monatlich. Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf Leistungen, weil ein Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG bestehe. Daraufhin hat nur der Antragsteller das Verfahren fortgesetzt.
Mit Beschluss vom 17. November 2021 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Form von Regelbedarf und Kosten der Unterkunft für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. März 2022 zu gewähren. Die Begründung entspricht derjenigen im Beschluss der Kammer vom 2. August 2021.
Hiergegen hat der Antragsgegner am 18. November 2021 Beschwerde eingelegt. Entgegen der Darstellung des SG lägen die Voraussetzungen für ein Freizügigkeitsrecht als nahestehender Person gem. § 3a FreizügG/EU nicht vor.
Mit Beschluss vom 23. November 2021 hat der Berichterstatter auch in diesem Verfahren die Stadt H. beigeladen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Beschlüsse des Sozialgerichts Halle vom 2. August und 17. November 2021 aufzuheben und die Anträge abzulehnen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerden zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzlichen Entscheidungen für zutreffend. Leistungen nach dem AsylbLG beziehe er nicht, weshalb ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II fehlgehe. Zur Nachfrage nach der Betreuungssituation hat er dargestellt, dass er seit der Geburt der Tochter die elterliche Sorge auch ausübe. Die Tochter werde von ihm, insbesondere wenn seine Lebensgefährtin zur Arbeit gehe, betreut und erzogen. Er habe ein enges und liebevolles Verhältnis zu seiner Tochter.
Die Beigeladene hat keinen gesonderten Antrag gestellt und in der Sache – über die Darstellung der Abläufe hinaus – keine weiteren Ausführungen gemacht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners und der Beigeladenen verwiesen. Diese sind bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden.
II.
1. Die Beschwerden sind statthaft und nicht gemäß § 172 Abs. 3 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. In der Hauptsache bedürfte die Berufung jeweils keiner Zulassung, weil die vom SG zugesprochenen Ansprüche des Antragstellers den für eine zulassungsfreie Berufung notwendigen Wert des Beschwerdegegenstands von mehr als 750,00 Euro erreichen (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Dem Antragsteller sind im Verfahren L 2 AS 490/21 B ER Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der anteiligen Kosten für Unterkunft und Heizung für drei Monate und im Verfahren L 2 AS 642/21 B ER für sechs Monate zugesprochen worden. Die Beschwerden sind auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden.
2. Das SG hat den Antragsgegner zu Unrecht zur Leistungsgewährung für den Zeitraum 1. Juli 2021 bis zum 31. März 2022 verpflichtet. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Leistungen nicht gegen den Antragsgegner, sondern gegen die Beigeladene. Gleichwohl ist die Beschwerde in Bezug auf die bereits ausgezahlten Leistungen für den Zeitraum 1. Juli bis zum 30. September 2021 und damit die Beschwerde im Verfahren L 2 AS 490/21 B ER insgesamt und in Bezug auf den Leistungszeitraum 1. Oktober 2021 bis 31. Januar 2022 die Beschwerde im Verfahren L 2 AS 642/21 B ER teilweise zurückzuweisen. Der Antragsgegner kann in der vorliegenden besonderen Situation einer Leistungspflicht eines vorrangig zuständigen anderen Trägers kein rechtliches Interesse an einer rückwirkenden Änderung seiner vorläufigen Leistungsverpflichtung geltend machen (vgl. LSG B.-B., Beschluss vom 5. Oktober 2021 – L 15 AY 21/21 B ER – juris Rn. 1). Ob die Beigeladene dem Antragsgegner die bereits ausgezahlten Leistungen zu erstatten haben wird, muss nicht in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes geklärt werden. Der Beginn der künftigen Verpflichtung der Beigeladenen ist im Interesse eines einheitlichen Beginns mit dem 1. Februar 2022 vom Senat festgelegt worden.
Die Beigeladene kann zur Leistungsgewährung verpflichtet werden, obwohl nur der Antragsgegner Beschwerde gegen den Beschluss des SG eingelegt hat. Gem. § 75 Abs. 5 SGG kann u. a. ein Träger der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nach notwendiger Beiladung verurteilt werden, wenn die Ansprüche gegen den Beklagten und den Beigeladenen in Wechselwirkung stehen. Die Vorschrift ist auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anwendbar (B. Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG 13. Aufl. 2020, § 75 Rn. 18c). Vorliegend ist die Stadt H. notwendig zum Verfahren beigeladen worden, weil sie als Träger der Leistungen nach dem AsylbLG als Leistungspflichtige statt des Antragsgegners als Träger der SGB II-Leistungen in Betracht kommt. Das Gericht kann auch noch im Verfahren über das Rechtsmittel den in Wahrheit leistungspflichtigen Träger nach Beiladung verurteilen (bzw. verpflichten) (vgl. BSG, Urteil vom 30. Oktober 2013 – B 7 AY 2/12 R – juris). Es ist davon auszugehen, dass der Antragsteller hilfsweise die Leistungen auch von der Beigeladenen begehrt, was er mit seinem Widerspruch gegen die Leistungsablehnung von Leistungen nach dem AsylbLG deutlich gemacht hat.
Das Gericht kann nach § 86b Abs. 2 SGG eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 41).
Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 14. März 2019 – 1 BvR 169/19 – juris Rn. 15 m.w.N.).
a) Vorliegend hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Leistungen gegen die Beigeladene glaubhaft gemacht.
aa) Einer Leistungsverpflichtung der Beigeladenen steht keine von ihr erlassene bestandskräftig ablehnende Entscheidung entgegen. Ist bei der Beigeladenen schon ein Vorverfahren durchgeführt worden und hat sie den Anspruch durch bindenden Verwaltungsakt für den entsprechenden Zeitraum abgelehnt, kann sie nicht mehr verurteilt bzw. verpflichtet werden. Eine solche entgegenstehende bestandskräftige Entscheidung fehlt hier für den gesamten streitgegenständlichen Leistungszeitraum vom 1. Juli 2021 bis zum 31. März 2022. Der Antragsteller hat die einzige Entscheidung der Beigeladenen über die Leistungsgewährung, mit der ihm mit Bescheid vom 1. Juni 2021 Überbrückungsleistungen für den Monat Mai 2021 bewilligt und zugleich weitergehende Leistungen abgelehnt wurden, mit einem Widerspruch angegriffen. Das betreffende Schreiben vom 21. Juni 2021 war mit der Bezeichnung „Widerspruch“ überschrieben, wenn es auch zugleich einen Fortzahlungsantrag enthielt. Damit hat der Antragsteller zu erkennen gegeben, dass er eine etwaige weitergehende Leistungsablehnung nicht gegen sich gelten lassen will. Die Beigeladene hat das Schreiben auch als Widerspruch behandelt und insoweit weitere Ermittlungen angestellt. Aus der beigezogenen Verwaltungsakte der Beigeladenen ist weder eine weitere Entscheidung über Leistungsansprüche des Antragstellers noch über seinen Widerspruch ersichtlich.
bb) Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass dem Antragsteller ein Leistungsanspruch gegen die Beigeladene nach dem AsylbLG zusteht. Dieser Anspruch sperrt zugleich gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II einen Anspruch nach dem SGB II gegen den Antragsgegner. Nach dieser Vorschrift sind von der Leistungsgewährung nach dem SGB II Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG ausgeschlossen. Hierzu gehört der Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Er fällt zwar nicht unter die die Regelungen des § 1 Abs. 1 Nr. 1, 1a und Nr. 2 AsylbLG, welche die Dauer des laufenden Asylverfahrens betreffen. So hat der Antragsteller kein Asylgesuch geäußert, sondern ein Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen geltend gemacht. Auch ist er nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis (Abs. 1 Nr. 3) oder einer Duldung nach § 60a AufenthG (Abs. 1 Nr. 4). Eine solche Duldung begründet eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder wegen Abschiebungshindernissen. Vereinzelt wird in der Literatur auch für die Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vertreten, § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG analog anzuwenden (so Frerichs in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG Rn. 130 [Stand: 4. November 2021]). Hierfür fehlt es aber an der Voraussetzung einer gesetzlichen Regelungslücke, weil § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG als Auffangvorschrift ein Leistungsrecht in solchen Fällen vermittelt.
(1) Für den Antragsteller greift die Regelung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Danach sind Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, leistungsberechtigt. Es handelt sich nach seinem Sinn und Zweck um einen Auffangtatbestand, bei dem sämtliche von Abs. 1 Nr. 4 erfassten Fälle auch von Abs. 1 Nr. 5 umfasst werden (Leopold in: Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 55; vgl. auch Frerichs in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG Rn. 141 [Stand: 4. November 2021]).
Der Antragsteller ist vollziehbar ausreisepflichtig i. S. der §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG. Ausreisepflichtig sind Ausländer, wenn sie einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzen und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Ein Aufenthaltstitel ist erforderlich, wenn – wie im Fall des Antragstellers – kein Asylantrag gestellt wurde und auch das Recht der Europäischen Union nichts anderes bestimmt (vgl. § 4 AufenthG). Der Antragsteller verfügt über kein Aufenthaltsrecht, weder aus Unionsrecht noch aus seiner Duldungsfiktion.
Im Einzelnen gilt:
(a) Das Unionsrecht verleiht dem Antragsteller insoweit keine eigene Rechtsposition, die ein Aufenthaltsrecht begründet. Das Unionsrecht genießt Vorrang vor dem nationalen Recht, dies gilt auch für die Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004, Abl. L 158, S. 123) auf der das FreizügG/EU beruht. Insofern wird in § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG klargestellt, dass das AufenthG keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem FreizügG/EU bestimmt wird.
Der Antragsteller hat kein eigenes Freizügigkeitsrecht nach dem FreizügG/EU. Er ist als nigerianischer Staatsbürger kein Unionsbürger und im Sinne des Freizügigkeitsrechts auch nicht Familienangehöriger eines Unionsbürgers. Insbesondere ist er nicht Familienangehöriger seiner Lebensgefährtin L im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Dies sind nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU a) der Ehegatte, b) der Lebenspartner, c) die Verwandten in gerader absteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird, und d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der Person oder des Ehegatten oder des Lebenspartners, denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Der Antragsteller ist aber mit Frau L nicht verheiratet. Seine Tochter, die selbst ein von ihrer Mutter (Frau L) abgeleitetes Freizügigkeitsrecht besitzt, kann ihm kein Aufenthaltsrecht nach den §§ 3 und 4 FreizügG/EU vermitteln.
Ein etwaiges Aufenthaltsrecht kann der Antragsteller – entgegen der Auffassung des SG – auch nicht aus § 3a FreizügG/EU als nahestehende Person im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 4 lit. c FreizügG/EU von seiner Lebensgefährtin, Frau L, ableiten. Es fehlen schon die weiteren Voraussetzungen für dieses Freizügigkeitsrecht. Denn ein solche Recht zum Aufenthalt könnte ihm aufgrund der Regelung des § 11 Abs. 5 FreizügG/EU nur zustehen bzw. verliehen werden, wenn gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG der Lebensunterhalt gesichert ist. Der Lebensunterhalt eines Ausländers ist dann gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann (§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG). Dies ist hier aber gerade nicht der Fall, wie der frühere Bezug von Leistungen nach dem SGB II und die weiter vorgebrachte Hilfebedürftigkeit zeigen.
Auch andere Aufenthaltsrechte nach Unionsrecht außerhalb des FreizügG/EU bestehen nicht. Für den Antragsteller lässt sich auch kein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union ableiten (vgl. dazu Europäischer Gerichtshof [EuGH], Urteil vom 6. Oktober 2020 – C-181/19 – juris). Denn dies setzt voraus, dass das Kind des Antragstellers die Schule besucht. Die Tochter ist jedoch nicht im schulpflichtigen Alter.
Es besteht für den Antragsteller auch kein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann einem Drittstaatsangehörigen ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, welches aus Art. 20 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) abgeleitet wird. Es gebe besondere Sachverhalte, in denen einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden müsse. Dies gelte wenn sich der Unionsbürger infolge der Verweigerung des Aufenthaltsrechts de facto gezwungen sähe, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C – 82/16 – juris Rn. 51 m. w. N.). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) kann ein solches Aufenthaltsrecht entstehen, wenn die Versagung eines Aufenthaltsrechts für den drittstaatsangehörigen Elternteil dazu führen würde, dass das Kind und der Unionsbürger faktisch gezwungen wären, den Drittstaatsangehörigen bei der Ausreise aus dem Unionsgebiet zu folgen und sich in das außereuropäische Ausland zu begeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2018 – 1 C 16.17 – juris Rn. 35). Ungeachtet der Frage, ob zwischen dem Antragsteller und seiner Tochter ein solches besonderes Abhängigkeitsverhältnis besteht, liegen diese Voraussetzungen hier nicht vor. Denn der Antragsteller kann in Italien, wo er auch zuvor ein Aufenthaltsrecht hatte, einen Aufenthaltserlaubnisanspruch geltend machen. Einem etwaigen aus Art. 20 AEUV folgenden Aufenthaltserlaubnisanspruch des Antragstellers hat Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union in gleicher Weise Rechnung zu tragen wie die Bundesrepublik Deutschland, wenn seine Tochter, die italienische Staatsangehörige ist, andernfalls faktisch gezwungen wäre das Unionsgebiet gemeinsam mit ihm zu verlassen und z. B. nach Nigeria zu reisen (vgl. zu einer Abschiebung nach Bulgarien: Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. November 2020 – 18 A 1020/19 – juris Rn. 19 f.). Dass es dem Antragsteller auf diesem Weg unmöglich sein soll, ein Aufenthaltsrecht in Italien zu erlangen, ist nicht ersichtlich oder vorgetragen.
Ein solches unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis lässt sich auch nicht in einer erweiternden Auslegung aus Art. 21 AEUV herleiten. Dies könnte unter dem Gesichtspunkt diskutiert werden, dass die freizügigkeitsberechtigte Partnerin des Antragstellers aufgrund eines Abhängigkeitsverhältnisses ihres Kindes sowohl von ihr als auch dem Antragsteller gezwungen wäre, mit dem Kind und ihrem Partner Deutschland zu verlassen und in Italien zu leben. Hierdurch könnte der „effet utile“ ihres Rechts auf Freizügigkeit beeinträchtigt sein (in diesem Sinne: Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat, Rundschreiben an die für das Aufenthaltsrecht zuständigen Ministerien und Senatsverwaltungen der Länder vom 7. April 2020, M3-21002/67#1, Seite 11, Blatt 5 ff. der Verwaltungsakte der Beigeladenen). Eine solche umfassende Schutzwirkung gibt aber das Freizügigkeitsrecht in Art. 21 AEUV nicht her. Es ist Frau L zuzumuten, notfalls in ihr Heimatland Italien zurückzukehren, wenn nur dort alle Familienmitglieder, einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Die faktische Einschränkung der Möglichkeit oder des Rechts sich innerhalb der Union den Aufenthaltsort auszusuchen, stellt keine vergleichbar große Einschränkung dar, wie ein erzwungenes Verlassen der gesamten Union und betrifft damit nicht den Kernbereich des Unionsbürgerrechts. Sie beeinträchtigt weniger stark, da Unionsbürgern aufgrund von europäisch verankerten sozialen Schutzrechten bei einem Wechsel des Staates innerhalb des Unionsgebietes ein Schutzstatus erhalten bleibt. Die unionsrechtlichen Vorschriften sehen zudem selbst Einschränkungen des Freizügigkeitsrechts vor, wie sie der deutsche Gesetzgeber im FreizügG/EU und im Aufenthaltsgesetz vorgesehen hat. Auf der Einräumung der Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV (ehemals Art. 18 EGV) beruhen die Regelungen der Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG). Die Regelungen in Art. 7 der Unionsbürgerrichtlinie zum Daueraufenthaltsrecht auch für Familienangehörige – wozu der Antragsteller gemäß Art. 2 Nr. 2 der Unionsbürgerrichtlinie nicht gehört – bilden die Grundlage für die gleichwirkende deutsche Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU. Insofern enthält schon das Unionsrecht eine Begrenzung der Freizügigkeit für drittstaatsangehörige Elternteile und nimmt Nachteile für die gesamte Familie in Kauf.
(b) Die Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG führt nicht zu einem Aufenthaltsrecht. Sie beseitigt weder die Ausreisepflicht noch deren Vollziehbarkeit, sie setzt nur – wie die Duldung selbst – die Vollstreckung in Form des Vollzugs der Abschiebung zeitweise aus (zur Duldung: Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60a AufenthG Rn. 19). In den Genuss einer solchen fiktiven Duldung gelangt, wer ohne einen Aufenthaltstitel über einen rechtmäßigen Aufenthalt verfügte und erst nach dessen Beendigung einen Aufenthaltstitel beantragt (Samel in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 81 AufenthG Rn. 42). Der Antragsteller kam mit einem noch gültigen Aufenthaltstitel aus Italien in das Bundesgebiet. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Voraussetzungen für die Duldungsfiktion vorlagen. Auch wenn der Antragsteller nicht zu Recht in den Genuss einer Duldungsfiktion gekommen wäre und eine solche auch nicht durch die Entscheidung der Beigeladenen feststünde, würde dies an der Leistungsberechtigung nach dem AsylbLG nichts ändern. Selbst der Ausländer, der sich unrechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält und ggf. sich sogar in Abschiebehaft befindet, ist leistungsberechtigt nach dem AsylbLG (vgl. Frerichs in: jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1 AsylbLG Rn. 144 [Stand: 4. November 2021]). Auch nach den Gesetzesmaterialien zählen zu dem von § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG erfassten Personenkreis sowohl Ausländer, die keinen Asylantrag gestellt und denen keine Aufenthaltsgenehmigung erteilt worden ist, so dass sie vollziehbar zur Ausreise verpflichtet sind, als auch Ausländer, die nach Ablehnung des Asylantrages noch nicht ausgereist oder abgeschoben worden sind (BT-Drs. 13/2746 S. 15, damals noch zu § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Bei einem unrechtmäßigen Aufenthalt wird nur zusätzlich geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG vorliegen (z. B. Verhinderung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen aus selbst zu vertretenden Gründen usw.), wofür vorliegend aber keine Anhaltspunkte bestehen.
(2) Es besteht auch kein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 AsylbLG, der eine Leistungsberechtigung nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG ausschließt. Danach soll Sekundärmigration von bereits anerkannten Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union verhindert werden und solchen Ausländern keine Leistungen zugutekommen, die in einem anderen Mitgliedstaat bereits einen Flüchtlingsstatus innehatten. Entgegen der ursprünglichen Einschätzung der Beigeladenen gehört der Antragsteller nicht zu diesem Personenkreis. Denn er ist nicht als Flüchtling mit Schutzstatus in Italien erfasst worden, sondern kam als Familienangehöriger mit einem eigenen Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen nach Italien. Im Verlauf des Verfahrens hat der Antragsteller durch Vorlage der entsprechenden Unterlagen nachgewiesen, dass er in Italien nicht als Asylbewerber erfasst wurde, sondern eine Aufenthaltsberechtigung aus familiären Gründen und eine Arbeitserlaubnis besaß.
(3) Es ergibt sich voraussichtlich auch ein Leistungsanspruch des Antragstellers. Der Antragsteller verfügt über kein weiteres einer Leistungspflicht entgegenstehendes Einkommen oder Vermögen (§ 7 AsylbLG). Auch Familienangehörige, die mit ihm im Haushalt leben, können seinen Bedarf nicht abdecken. Seine Lebensgefährtin ist trotz ihres monatlichen Einkommens von ca. 980 € netto aus ihrer Erwerbstätigkeit ergänzend auf SGB II-Leistungen angewiesen.
b) Es besteht auch die erforderliche Eilbedürftigkeit für die vorläufige Entscheidung. Der Antragsteller ist zur Sicherung seines Lebensunterhaltes auf die Leistungsgewährung angewiesen. Er verfügt über kein sonstiges Einkommen, um eine Hauptsacheentscheidung abwarten zu können.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Hierbei war zu berücksichtigen, dass die Beigeladene auch für die Zeit vom 1. Juli bis zum 31. Januar 2022 voraussichtlich nach materiellem Recht leistungspflichtig ist. Nur aus prozessualen Gründen wurde die Beigeladene im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für diesen Zeitraum nicht zur Leistung verpflichtet, weil bereits ein anderer Leistungsträger in Vorleistung getreten ist.
4. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (vgl. § 177 SGG).


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