Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  21 B 19.33749

Datum:
15.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 28963
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 55a Abs. 1, Abs. 3, § 57 Abs. 2
AsylG § 3c Nr. 2, Nr. 3, § 28 Abs. Abs. 1a
ERVV § 6 Abs. 1 Nr. 4
GG Art. 16a

 

Leitsatz

1. Unterlässt das Gericht einen im Hinblick auf die prozessuale Fürsorgepflicht rechtzeitig vor Ablauf der (Berufungsbegründungs-) Frist möglichen und gebotenen Hinweis an einen Beteiligten, ist unabhängig von einem etwaigen Verschulden des Beteiligten von Amts Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Asylrechtsstreit besteht Anlass zu weiterer Sachverhaltsaufklärung generell dann nicht, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht seine guten Gründe für eine drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert.  (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 11 K 16.30768 2016-07-20 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 20. Juli 2016 wird aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 101 Abs. 2 VwGO) ist zulässig (1.) und begründet (2.)
1. Die Berufung ist zulässig. Zwar ist die Berufungsbegründung der Beklagten dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung (§ 124a Abs. 6 Satz 1 VwGO) wirksam zugegangen (1.1). Allerdings ist dieser Mangel geheilt. Der Beklagten ist gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 1 VwGO die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und zwar im Hinblick auf die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts unabhängig davon, ob sie ohne Verschulden gehindert war, die Begründungsfrist einzuhalten (1.2).
1.1 Die Berufungsbegründung ist dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof am 31. Oktober 2019 und damit ersichtlich innerhalb der nach Zustellung des Zulassungsbeschlusses (28.10.2019) bis einschließlich 28. November 2019 währenden Monatsfrist (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 Alt. 1 BGB) als elektronisches Dokument über das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) zugegangen. Der Schriftsatz wurde jedoch entgegen § 55a Abs. 1 VwGO nicht nach Maßgabe des Absatzes 3 dieser Vorschrift und damit nicht wirksam eingereicht (vgl. R. P. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 55a Rn. 7 m.w.N.).
1.1.1 Ein elektronisches Dokument muss zur Sicherstellung seiner Authentizität und Integrität (vgl. dazu Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 55a Rn. 11 und 14) gemäß § 55a Abs. 3 VwGO mit einer qualifizierten elektronischen Signatur der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden.
Die Berufungsbegründung ist lediglich durch eine schlichte Namensangabe (einfach) signiert und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Prozessvertreters versehen. Davon geht auch die Beklagte aus. Eine qualifizierte elektronische Signatur wäre aber erforderlich gewesen, weil der Schriftsatz nicht nachweislich auf einem sicheren Übermittlungsweg zugegangen ist.
Ein solcher ist – soweit hier von Bedeutung – der Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten Postfach einer Behörde (besonderes Behördenpostfach) und der elektronischen Poststelle des Gerichts (§ 55a Abs. 4 Nr. 3 VwGO). Dabei muss beim Empfang einer Nachricht über das EGVP gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 4 der auf der Grundlage von § 55a Abs. 2 Satz 2 VwGO erlassenen Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung feststellbar sein, dass das elektronische Dokument vom Inhaber des Postfachs versandt wurde. Daran fehlt es hier. Das den Eingang der Berufungsbegründung im EGVP dokumentierende Prüfprotokoll vom 31. Oktober 2019 enthält nicht den sogenannten vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis, denn es fehlt der Vermerk „sicherer Übermittlungsweg aus einem besonderen Behördenpostfach“ (vgl. dazu HessVGH, B.v. 26.2.2020 – 4 A 2387/19.Z.A – juris Rn. 2; SächsOVG, B.v. 16.12.2019 – 4 A 1158/19.A – juris Rn. 5).
1.1.2 Von dem Formerfordernis der qualifizierten elektronischen Signatur kann – anders als bei einer Übermittlung durch Telefax – selbst dann nicht abgesehen werden, wenn sich aus den begleitenden Umständen die Urheberschaft und der Wille der Behörde hinreichend sicher ergibt, das elektronische Dokument in den Verkehr zu bringen. Elektronische Dokumente zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur mittels Datenverarbeitung erstellt werden und auf einem Datenträger gespeichert werden können, sondern ausschließlich in elektronischer Form von einem Computer zum anderen über das Internet übertragen werden. Während die prozessuale Schriftform allein die Urheberschaft eines Dokuments gewährleisten soll, dienen die hohen Anforderungen an die Signatur elektronischer Dokumente zusätzlich dem Schutz vor nachträglichen Änderungen, also ihrer Integrität. Abstriche von den dafür normierten Sicherheitsanforderungen können nicht zugelassen werden (BVerwG, U.v. 25.4.2012 – 8 C 18/11 – juris Rn. 17).
1.2 Der Beklagten ist gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung der Berufung zu gewähren. Sie hat am 29. November 2019 und damit binnen eines Monats, nachdem sie am 15. November 2019 Kenntnis von dem fehlenden vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis erlangt hatte, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt sowie die Berufungsbegründung formwirksam nachgeholt.
Es kann offenbleiben, ob die Beklagte ohne Verschulden gehindert war die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten (für Verschulden bei einem vergleichbaren Sachverhalt NdsOVG, B.v. 6.5.2020 – 2 LA 722.19 – juris Rn. 16 ff. m.w.N.; a.A. OVG SH, B.v. 18.12.2019 – 1 LA 72.19 – juris Rn. 5). Der Senat hätte die Beklagte nach Eingang der formunwirksamen Berufungsbegründung am 31. Oktober 2019 innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs so rechtzeitig vor dem Fristablauf (28.11.2019) auf das Fehlen einer qualifizierten elektronischen Signatur bzw. eines vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises hinweisen können, dass es der Beklagten möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren. Unterbleibt ein solcher im Hinblick auf die prozessuale Fürsorgepflicht gebotener Hinweis, ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unabhängig von einem etwaigen Verschulden zu gewähren (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 7 B 154.99 – juris Rn. 1, BAG, B.v. 5.6.2020 – 10 AZN 53.20 – juris Rn. 35 ff.).
2. Die Berufung ist begründet. Das Verwaltungsgericht Regensburg hat der Klage mit Urteil vom 20. Juli 2016 zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) weder nach § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG noch nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
2.1 Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer – soweit hier von Interesse – Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen lagen bei der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus der Arabischen Republik Syrien nicht vor (2.1.1), noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem die Klägerin ihr Herkunftsland verlassen hat (2.1.2).
2.1.1 Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. Umstände, aus denen sich eine bereits erlittene oder im Zeitpunkt der Ausreise unmittelbar drohende Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinn des § 3c Nr. 2 und 3 AsylG ergeben, hat die Klägerin nicht substantiiert und widerspruchsfrei geltend gemacht. Im Rahmen ihrer Anhörung durch das Bundesamt hat sie eine Bedrohung ihrer Person und ihrer Familie durch die Hisbollah verneint und im Einklang damit bekundet, sie habe im Fall einer Rückkehr (lediglich) Angst vor den Luftangriffen. Demgegenüber hat die Klägerin in der Klageschrift vom 5. Mai 2016 ausgeführt: Sie sei von der Hisbollah bedroht worden und habe sich in großer Gefahr befunden. Im Widerspruch zum Inhalt der über die Anhörung am 21. April 2016 angefertigten Niederschrift, wonach es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe und der Klägerin die Niederschrift rückübersetzt wurde, behauptet die Klägerin im Rahmen der Klagebegründung zudem, die Übersetzung bei der Anhörung sei nicht korrekt erfolgt. Die Klägerin hat ihr Vorbringen im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens nicht konkretisiert. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner weiteren Sachaufklärung. Im Asylrechtsstreit besteht Anlass zu weiterer Sachverhaltsaufklärung generell dann nicht, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflicht (§ 15 AsylG) seine guten Gründe für eine drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.1999 – 9 c 36.98 – juris Rn. 9).
2.1.2 Die Klägerin kann für einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nichts daraus für sich ableiten, dass gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen kann, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat. Ein solcher Nachfluchtgrund besteht nicht.
Davon wäre nur dann auszugehen, wenn der Klägerin bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände ihres Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihr nicht zuzumuten ist, in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Die „verständige Würdigung aller Umstände“ hat dabei eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe zum Inhalt. Im Rahmen dieser Prognose ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es ist maßgebend, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Klägerin Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ Betrachtungsweise weniger als 50 v.H. Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der im Rahmen der Prognose vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist in dieser Hinsicht damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage der Klägerin nach Abwägung aller bekannten Umstände eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint. Ergeben die Gesamtumstände des Falles die „reale Möglichkeit“ einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37 und zu Art. 16a GG U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach diesem Maßstab und nach der Erkenntnislage im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung hat der Senat unter Berücksichtigung des Charakters des syrischen Staates (a)) die Überzeugung gewonnen, dass der Klägerin bei einer unterstellten Rückkehr nach Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle allein wegen einer (illegalen) Ausreise, ihres Asylantrags und des damit verbundenen Aufenthalts in Deutschland eine politische Verfolgung nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (b)). Die Klägerin muss eine Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte auch nicht wegen ihrer Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet (Homs) befürchten (c)).
a) Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich unter erheblichen Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht – Essay“ vom 19. Februar 2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet im Ganzen betrachtet zielgerichtet und ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder schon unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 8 – im Folgenden: UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017 – unter Verweis auf: United States Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2015, 13.4.2016; Amnesty International, Human Slaughterhouse: Mass Hangings and Extermination at Saydnaya Prison, Syria, 7.2.2017; UN Human Rights Council, Out of Sight, out of Mind: Deaths in Detention in the Syrian Arab Republic, 3.2.2016). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Mittlerweile sollen etwa 17.000 Menschen in syrischen Gefängnissen durch Folter oder aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen gestorben sein. Das syrische Regime macht in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten, sondern benennt zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und ähnliches (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 15).
b) Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle mit äußerster Härte vorgehen, ist es zur Überzeugung des Senats in Übereinstimmung mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin allein wegen ihrer (illegalen) Ausreise, ihres Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositionelle betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (ebenso mit zum Teil abweichender Begründung: VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; U.v. 23.10.2018 – A 3 S 791.18; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 24.1.2018 – 2 LB 237.17; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 – 1 Bf 81/17.A; NdsOVG, U.v. 3.4.2019 – 2 LB 341.19; OVG NW, U.v. 12.12.2018 – 14 A 667/18.A; OVG RhPf, U.v. 12.4.2018 – 1 A 10988.16; OVG Saarl, U.v. 14.11.2018 – 1 A 609.17; OVG SH, U.v. 7.3.2019 – 2 LB 29.18; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 – 3 KO 155.18 – alle juris).
Insoweit wird zur Darlegung der maßgebenden Erwägungen auf die bisherige Rechtsprechung des Senats Bezug genommen (vgl. etwa U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – juris Rn. 27 ff.). Der Bericht des Auswärtigen Amts vom 20. November 2019 über die Lage in der Arabischen Republik Syrien und dessen Fortschreibung vom 19. Mai 2020 geben keinen Anlass von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Darin ist unter anderem ausgeführt, immer wieder seien Rückkehrer, insbesondere – aber nicht nur – solche, die als oppositionell oder regimekritisch bekannt seien oder auch nur als solche erachtet würden, erneuter Vertreibung, Sanktionen bzw. Repressionen bis hin zu unmittelbarer Gefährdung für Leib und Leben ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 20.11.2019, S. 21); selbst bislang als regimenah geltende Personen könnten aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich Opfer von Repressionen werden (Auswärtiges Amt, Fortschreibung des Berichts über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 19.5.2020, S. 4). Diese Ausführungen sind zu allgemein gehalten, um daraus die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung jedweden Rückkehrers ableiten zu können (so bereits OVG NW, U.v. 18.3.2020 – 14 A 2778/17.A – juris Rn. 37).
Unabhängig davon ergibt sich aus hinzugekommenen Erkenntnissen ein Bild, das die bisherige Rechtsprechung des Senats bestätigt. So ist nach den Feststellungen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien (EZKS) davon auszugehen, dass an den internationalen Flughäfen Syriens über bestimmte, als regimekritisch wahrgenommene Personen computergestützt Informationen vorliegen. Deshalb drohen einem Rückkehrer, der nicht explizit als politischer Oppositioneller aufgefallen ist, keine Repressionen (vgl. EZKS, Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11.3.2019). Das entspricht den Erkenntnissen der kanadischen Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde. Danach wird eine Person, die auf einer Fahndungsliste steht, bei der Einreise am Flughafen verhaftet, während Syrer, die nicht in einer Fahndungsliste angeführt sind, im Allgemeinen unbehelligt bleiben (Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests SYR106356.E, 9.9.2019, S. 3). Nach den dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vorliegenden Informationen kann die Aufnahme in die Listen der Personen, die als regimefeindlich angesehen werden, aus sehr unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zu den als regimefeindlich erachteten Personen gehören nach einigen dem österreichischen Bundesamt zur Verfügung stehenden Quellen unter anderem medizinisches Personal, insbesondere wenn die Person diese Tätigkeit in einem von der Regierung belagerten oppositionellen Gebiet ausgeführt hat, Aktivisten, Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren oder Informationen oder Fotos von Geschehnissen in Syrien wie Angriffe der Regierung verbreitet haben, sowie allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation – Syrien, 17.10.2019, S. 89). Angesichts dieser konkreten Aufzählung von Personen, die seitens der syrischen Regierung als oppositionell oder regimefeindlich erachtet werden, ist eine vollkommen willkürliche Aufnahme in die Liste der regimefeindlichen Personen zur Überzeugung des Senats nicht der Regelfall. Die Tatsache, dass der syrische Staat nicht unterschiedslos jeden Rückkehrer als regierungsfeindlich betrachtet, zeigt sich zudem daran, dass selbst die illegale Ausreise im Falle einer Rückkehr nicht beachtlich wahrscheinlich eine Verfolgungsgefahr begründet. Vielmehr haben nur solche Personen Probleme bei der Rückkehr, die anderweitig in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten sind (vgl. Accord – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Syrien: Information zur Anwendung des Gesetzes Nr. 18 von 2014 bezüglich der illegalen Ausreise, 9.8.2019; The Danish Immigration Service, Syria – Consequences of illegal exit, consequences of leaving a civil servant position without notice and the situation of Kurds in Damascus, Juni 2019, S. 7).
c) Es ist zur Überzeugung des Senats auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die syrischen Sicherheitskräfte die Klägerin im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien im Hinblick darauf menschenrechtswidrig behandeln werden, dass sie aus Homs stammt. Die Klägerin hat insbesondere in Bezug auf ihren Herkunftsort keine Umstände vorgetragen, die sich in ihrem konkreten Fall als risikoerhöhend darstellen. Nach Auswertung der Erkenntnislage besteht für einen Rückkehrer allein wegen der Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel keine Rückkehrgefährdung (vgl. Urteil des Senats vom 20.6.2018 – 21 B 18.30853 – juris Rn. 49 ff.; ebenso VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; BayVGH, B.v. 30.6.2020 – 20 B 19.31187; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, U.v. 20.2.2019 – 2 LB 122.18; OVG Hamburg, U.v. 11.1.2018 – 1 Bf 81/17.A; HessVGH, U.v. 25.9.2019 – 8 A 638/17.A; NdsOVG, U.v. 16.7.2020 – 2 LB 39.20; OVG NW, U.v. 13.3.2020 – 14 A 2778/17.A; OVG RhPf, B.v. 6.2.2018 – 1 A 10849/17.OVG; OVG Saarl, U.v. 25.7.2018 – 1 A 621.17; SächsOVG, U.v. 6.2.2019 – 5 A 1066/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 – 5 LB 34.19 – alle juris).
Zwar erwähnt der UNHCR in seinen aktuellen Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom April 2017 erneut Berichte, die darauf hindeuten würden, dass die syrische Regierung im Allgemeinen solche Zivilpersonen als der bewaffneten Opposition zugehörig betrachte, die in Gebieten wohnen oder aus Gebieten stammen würden, in denen es zu Protesten der Bevölkerung gekommen sei und/oder in denen die bewaffnete Opposition in Erscheinung trete oder (zumindest zeitweise) die Kontrolle übernommen habe (vgl. UNHCR, Relevant Country of Origin Information to Assist with the Application of UNHCR´s Country Guidance on Syria, 7.5.2020, S. 12). Allerdings wird das lediglich unter Verweis auf die 5. aktualisierte Fassung der „UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen“ belegt. Diesen Erwägungen kann jedoch nicht entnommen werden, dass allein die Herkunft aus einem (vermeintlichen) Oppositionsgebiet eine Rückkehrgefährdung mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit begründet, denn darin kommt der UNHCR letztlich zu dem Ergebnis: „UNHCR ist der Auffassung, dass … Zivilpersonen, die aus Gebieten stammen …, die als regierungsfeindlich angesehen werden, je nach den Umständen des Einzelfalls aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politischen Meinung und/oder anderer maßgeblicher Gründe wahrscheinlich internationalen Schutz benötigen.“ (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017, S. 43 – kursive Hervorhebung durch den Senat). Das bestätigt, dass es keinen Generalverdacht gegen alle Rückkehrer aus entsprechenden Regionen gibt (vgl. OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17 – juris Rn. 47).
Im Einklang damit kann Auskünften des Auswärtigen Amts entnommen werden, dass eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus regierungsfeindlichen Gebieten letztlich nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände anzunehmen ist und es deshalb vom Einzelfall abhängig ist, ob Personen, die aus oppositionsnahen Gebieten kommen, bei ihrer Einreise nach Syrien festgenommen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.2.2019 und Auskunft an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 17.10.2017).
Die Auskunft von Amnesty International an das Verwaltungsgericht Magdeburg vom 13. September 2018 (S. 2), wonach (allein) wegen der Herkunft aus einem vormals durch die Opposition besetzten Gebiet die Gefahr bestehe, dass die betreffende Person bei der Einreise aufgrund ihrer Herkunft festgenommen oder misshandelt werden könnte, veranlasst keine andere Bewertung. Amnesty International verweist insoweit lediglich auf die Herkunftslandinformationen des UNHCR vom November 2017, die eine solche Einschätzung – wie dargelegt – nicht tragen (so bereits OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17 – juris Rn. 48). Im Übrigen wird die Einschätzung des Senats, wonach allein die Herkunft aus einem (vermeintlich) regierungsfeindlichen Gebiet in der Regel nicht beachtlich wahrscheinlich dazu führt, dass die syrischen staatlichen Stellen dem Betroffenen eine oppositionelle Gesinnung zusprechen und ihn deshalb verfolgen, auch durch die Erkenntnisse des Dänischen Einwanderungsdienstes/Dänischen Flüchtlingsrats bestätigt (Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria – Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.).
Im Ergebnis besteht zur Überzeugung des Senats eine Verfolgungsgefahr für Rückkehrer aus bestimmten Gebieten nicht bereits allgemein, sondern nur bei Vorliegen zusätzlicher Umstände, die den Rückkehrer in irgendeiner Weise in „Oppositionsnähe“ bringen. Solche zusätzlichen Umstände hat die Klägerin nicht vorgetragen.
2.2 Die Klägerin hat auch keinen von der Flüchtlingsanerkennung ihres Ehemannes abgeleiteten Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 AsylG.
Danach wird auf Antrag auch dem Ehegatten eines international Schutzberechtigten die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn 1. die Flüchtlingszuerkennung des Schutzberechtigten unanfechtbar ist, 2. die Ehe mit dem Schutzberechtigten schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Schutzberechtigte politisch verfolgt wird, 3. der Ehegatte vor der Anerkennung des Schutzberechtigten eingereist ist oder er den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt hat und 4. die Anerkennung des Schutzberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.
Dem Ehemann der Klägerin wurde zwar mit Bescheid des Bundeamts vom 10. August 2015 unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein daraus abzuleitender Anspruch der Klägerin besteht jedoch nicht. Sie ist nach der Anerkennung ihres Ehemannes am 28. September 2015 nach Deutschland eingereist und hat erst mehr als ein halbes Jahr später (18. April 2016), mithin nicht unverzüglich nach der Einreise, Asyl beantragt. Unverzüglich bedeutet nach der auch im öffentlichen Recht geltenden Legaldefinition des § 121 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“. Der Antrag muß danach zwar nicht sofort, aber – unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände des Asylbewerbers – alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits dem Asylbewerber eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG als Ordnungsvorschrift verfolgte öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen ist eine Frist von zwei Wochen in der Regel angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, daß der Antrag nicht früher gestellt werden konnte (vgl. BVerwG, U.v.13.5.1997 – 9 C 35.96 – NVwZ 1997, 1137/1138 zur unverzüglichen Antragstellung nach Geburt; BayVGH, U.v. 9.9.2019 – 20 B 19.32017 – juris Rn. 53). Besondere Umstände, die es hätten rechtfertigen können, den Antrag auf Familienflüchtlingsschutz erst mehr als sechs Monate nach der Einreise zu stellen, sind von der Klägerin weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
5. Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


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