Verwaltungsrecht

Kein Ausschluss der rückwirkenden Gewährung von Fahrtkostenzuschuss und Fahrtkostenerstattung

Aktenzeichen  AN 6 K 18.00861

Datum:
3.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 17549
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
IntV a.F. § 4a

 

Leitsatz

§ 4a Abs. 1 der Integrationskursverordnung in der Fassung vom 1. März 2012 (§ 4a IntV a.F.) berechtigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht zu einer Verwaltungspraxis, die ihrer Wirkung nach einer materiell-rechtlichen Ausschlussfrist entspricht und durch die die rückwirkende Bewilligung von Fahrtkostenzuschuss oder Fahrtkostenerstattung ausgeschlossen wird.

Tenor

1. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger Fahrtkostenzuschuss zu den Fahrtkosten für seinen Integrationskurs im Zeitraum vom 6. November 2017 bis 31. Dezember 2017 zu bewilligen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

I.
Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung getroffen werden, da die Beteiligten dem übereinstimmend zustimmten, § 101 Abs. 2 VwGO.
II.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Dem Kläger steht für den Zeitraum vom 6. November bis 31. Dezember 2017 ein Anspruch auf Fahrtkostenzuschuss in Höhe der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Regelungen zu. Er hat jedoch keinen Anspruch auf Fahrtkostenerstattung. Der ausdrücklich auf Fahrtkostenerstattung gerichtete Klageantrag ist dahingehend auszulegen, dass der Kläger zumindest hilfsweise die Bewilligung eines Fahrtkostenzuschusses begehrt, eine Leistung, die sich als „Minus“ zu einer Fahrtkostenerstattung darstellt.
1. Anzuwendende Anspruchsgrundlage ist § 4a IntV in der Fassung vom 1. März 2012 (Art. 1 Nr. 2 der Zweiten Verordnung zur Änderung der Integrationskursverordnung – Verordnung vom 20.2.2012, BGBl. I S. 295, Nr. 10, im Folgenden: § 4a IntV a.F.). Bei dem Anspruch auf Fahrtkostenerstattung handelt es sich um einen Anspruch, der auf einen bestimmten Zeitraum bezogen ist, weshalb auf die für diesen Zeitraum maßgebliche Rechtslage abzustellen ist – hier die Zeit der Kursteilnahme im Jahr 2017. Gemäß § 22 Abs. 1 IntV kann die Fahrtkostenerstattung bis zum 31. Dezember 2017 nach der bis zum 28. Oktober 2015 geltenden Rechtslage erfolgen. Die Beklagte hat von dieser Befugnis Gebrauch gemacht; das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat im Verfahren selbst auf eine „Neuregelung zum 1. Januar 2018“ hingewiesen. Daraus geht hervor, dass die Beklagte bis zu diesem Tag die alte Rechtslage für maßgeblich hielt.
2. Der Kläger hat Anspruch auf Fahrtkostenzuschuss nach § 4a Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 IntV a.F.
aa) Nach § 4a Abs. 1 Satz 2 IntV a.F. erhalten Kursteilnehmer, die nach § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder 3 des Aufenthaltsgesetzes zur Teilnahme verpflichtet worden sind, sowie Teilnehmer, für die Satz 1 keine Anwendung findet und die nach § 9 Absatz 2 von der Kostenbeitragspflicht befreit worden sind, bei Bedarf einen Fahrtkostenzuschuss.
bb) Der Kläger wurde nach § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zur Integrationskursteilnahme verpflichtet. Offen bleiben kann, ob in diesem Fall auch eine Befreiung von der Kostenbeitragspflicht Voraussetzung des Anspruchs auf Fahrtkostenzuschuss ist, da der Kläger von der Kostenbeitragspflicht gemäß § 9 Abs. 2 IntV befreit wurde (Bescheid vom 16.11.2017).
cc) Dem Anspruch auf Fahrtkostenzuschuss steht nicht entgegen, dass der Antrag des Klägers auf Fahrtkostenzuschuss erst am 9. Januar 2018 bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einging, er also für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum Fahrtkostenzuschuss beantragte.
Die Beklagte beruft sich darauf, dass die rückwirkende Gewährung von Fahrtkostenerstattung oder eines Fahrtkostenzuschusses ab dem 1. Januar 2018 nicht mehr möglich sei. Sie stützt dies auf eine ihrer Auffassung nach auf § 4a Abs. 1 IntV beruhende Verwaltungspraxis, die sie durch verschiedene Trägerrundschreiben vorab bekanntgemacht hatte. Diese Verwaltungspraxis ist jedoch rechtswidrig und kann einem Antrag auf Fahrtkostenerstattung oder Fahrtkostenzuschuss nicht entgegengehalten werden. § 4a Abs. 1 IntV a.F. berechtigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht zu einer Verwaltungspraxis, die ihrer Wirkung nach einer materiell-rechtlichen Ausschlussfrist entspricht und durch die die rückwirkende Bewilligung von Fahrtkostenzuschuss oder Fahrtkostenerstattung ausgeschlossen wird.
(1) Die Verwaltungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat die Wirkung einer materiell-rechtlichen Ausschlussfrist, da die Geltendmachung eines gesetzlich vorgesehenen Anspruchs nach dem Verstreichen eines bestimmten Termins (dem jeweiligen Modulende) ausgeschlossen sein soll.
(2) Soll ein durch Gesetz vorgesehener Anspruch durch Verwaltungspraxis eingeschränkt werden, so bedarf dies nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer gesetzlichen Rechtsgrundlage (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.1993 – 6 C 10/92 – NVwZ 1994, 575 ff). Diese Rechtsprechung wird von der Kommentarliteratur geteilt (vgl. Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, § 31 Rn. 13; vgl. Mattes, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Auflage 2019, § 31 Rn. 7). Dies beruht auf dem Gedanken, dass Regelungen, die in Rechtspositionen der Bürger eingreifen, wegen des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes einer gesetzlichen Grundlage bedürfen.
(3) Der Ausschluss rückwirkender Anträge auf Fahrtkostenerstattung findet keine Grundlage im Gesetz. Einzig § 4a Abs. 1 IntV a.F. kommt als gesetzliche Rechtsgrundlage in Betracht; auf Grundlage dieser Vorschrift kann jedoch eine Ausschlussfrist nicht vorgesehen werden.
Der Wortlaut der Vorschrift bietet keinen Anhaltspunkt für eine solche Verwaltungspraxis.
Das aus § 22 VwVfG abgeleitete Antragserfordernis stellt ebenfalls keine hinreichende Rechtsgrundlage dar. Ein Antrag kann auch nachträglich gestellt werden (vgl. hierzu auch VG Ansbach, U.v. 5.3.2020 – AN 6 K 18.01349 – juris, Rn. 34). Dies gilt auch dann, wenn das Verwaltungsverfahren erst durch Antrag eingeleitet wird; das durch Antrag eingeleitete Verfahren bezieht sich dann auf einen zurückliegenden Zeitraum.
Auch auf das Erfordernis des „Bedarfs“ (§ 4a Abs. 1 Satz 2 IntV a.F.) bzw. der Notwendigkeit (§ 4a Abs. 1 Satz 1 IntV a.F.) kann ein Ausschluss rückwirkender Gewährung von Fahrtkostenerstattung oder Fahrtkostenzuschuss nicht gestützt werden. Beide Tatbestandsmerkmale zielen darauf ab, den jeweiligen Anspruch davon abhängig zu machen, ob öffentliche Verkehrsmittel benötigt werden, um die Strecke zum Kursort zurückzulegen. Dies bestimmt sich in erster Linie durch die Entfernung von der Wohnung (mindestens drei Kilometer) und zusätzlich in besonderen Fällen durch persönliche Eigenarten der betreffenden Person (vgl. VG Ansbach, B.v. 15.2.2016 – AN 6 K 15.00789 – BeckRS 2016, 45663, Rn. 34). Nicht maßgeblich ist demgegenüber, wann der verwaltungsverfahrensrechtliche Antrag gestellt wurde.
Soweit die Beklagte vorgetragen hat, § 4a IntV a.F. bezwecke, den Fahrtkostenzuschuss auf den unerlässlichen Zeitraum zu begrenzen, steht dies einer rückwirkenden Bewilligung nicht entgegen. Ganz im Gegenteil kann gerade bei einer rückwirkenden Bewilligung mindestens gleichermaßen genau und verlässlich wie bei einer Bewilligung für die Zukunft bestimmt werden, für welchen Zeitraum und für welche Kurstage die Leistung zu bewilligen ist. Änderungen der persönlichen Verhältnisse im Bewilligungszeitraum können ebenfalls, da sie in der Vergangenheit liegen, verlässlich berücksichtigt werden.
Demnach kann die Vorschrift des § 4a Abs. 1 IntV a.F. nicht so ausgelegt werden, dass sie eine Grundlage für die von dem Bundesamt vorgetragene Verwaltungspraxis bilden kann. Ein solches Verständnis der Vorschrift führt auch nicht zu einem Wertungswiderspruch im Hinblick auf § 9 Abs. 2 IntV. Die rückwirkende Befreiung von der Kostenbeitragspflicht ist aus Gründen, die in § 9 IntV angelegt sind, und die für die Konstellation der Befreiung von dem Kurskostenbeitrag spezifisch sind, ausgeschlossen. Dies beruht auf einer Auslegung des § 9 Abs. 2 IntV, bei der die besondere Situation der Leistung des Kurskostenbeitrages berücksichtigt werden muss. In dieser Situation stehen sich nämlich, anders als bei der Bewilligung von Fahrtkostenzuschuss oder Fahrtkostenerstattung – nicht nur Kursteilnehmer und Bundesamt gegenüber, sondern es ist auch – als Leistungsempfänger – der Kursträger beteiligt (§ 9 Abs. 3 IntV). Die Gründe für den Ausschluss der rückwirkenden Befreiung nach § 9 Abs. 2 IntV können daher nicht auf andere Leistungen übertragen werden. Erforderlich ist vielmehr eine Auslegung der jeweiligen Anspruchsgrundlage (vgl. VG Ansbach, U.v. 5.3.2020 – AN 6 K 18.01349 – juris, Rn. 39). Ein Wertungswiderspruch ist auch nicht darin zu sehen, dass Fahrtkostenzuschuss in Fällen, in denen sowohl der Antrag auf Fahrtkostenzuschuss als auch der Antrag auf Befreiung von dem Kurskostenbeitrag nach Ende eines Moduls bei dem Bundesamt einging, nicht rückwirkend, in allen anderen Fällen aber durchaus rückwirkend bewilligt werden kann. Beide Fallkonstellationen unterscheiden sich dahingehend wesentlich voneinander, als in dem einen Fall die gesetzlichen Voraussetzungen der Fahrtkostenerstattung oder des Fahrtkostenzuschusses vorliegen, in dem anderen aber nicht. Wird der Antrag auf Befreiung von dem Kurskostenbeitrag nicht rechtzeitig gestellt, so können die gesetzlichen Voraussetzungen der Bewilligung von Fahrtkostenzuschuss zwar nicht mehr herbeigeführt werden. Dies betrifft jedoch ein anderes behördliches Verfahren (die Befreiung von dem Kurskostenbeitrag), das auf Grundlage einer anders auszulegenden Rechtsvorschrift (§ 9 Abs. 2 IntV) auf eine andere behördliche Vergünstigung gerichtet ist. Eine unterschiedliche Behandlung beider Fallgruppen erscheint aus diesem Grund nicht widersprüchlich.
dd) Nach alledem steht dem Kläger ein Anspruch auf Fahrtkostenzuschuss für den Zeitraum vom 6. November 2017 bis zum 31. Dezember 2017 zu. Offen bleiben können bei diesem Ergebnis die Fragen, wer für die Verzögerung bei der Übersendung des Antrages verantwortlich war und ob Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre.
3. Der Kläger hat demgegenüber keinen Anspruch auf Fahrtkostenerstattung nach § 4a Abs. 1 Satz 1 IntV a.F.
aa) Nach § 4a Abs. 1 Satz 1 IntV a.F. werden Teilnehmern, die nach § 44a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 oder Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes oder in sonstiger Weise nach § 3 Absatz 2b Satz 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch durch eine Eingliederungsvereinbarung zur Teilnahme verpflichtet worden sind, bei ordnungsgemäßer Teilnahme die notwendigen Fahrtkosten erstattet.
bb) Der Kläger erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Er wurde nach § 44a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG und nicht nach § 44a Abs. 1 Nr. 2 oder Satz 3 AufenthG oder durch eine Eingliederungsvereinbarung nach SGB II zur Kursteilnahme verpflichtet.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei wird berücksichtigt, dass der Kläger vollständige Fahrtkostenerstattung beantragte und lediglich hinsichtlich eines Anspruchs auf Fahrtkostenzuschuss obsiegt. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.
IV.
Die Berufung wird gemäß § 124a Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Frage des Ausschlusses der rückwirkenden Gewährung von Fahrtkostenzuschuss stellt sich auch in weiteren Verfahren vor dem erkennenden Gericht.


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