Verwaltungsrecht

Kein Flüchtlingsschutz für einen Konvertiten aus dem Iran

Aktenzeichen  AN 1 K 16.30555

Datum:
17.2.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 150265
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1a, § 71 Abs. 1 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1 lit. a

 

Leitsatz

1 Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grds. sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Asylbewerber muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zum christlichen Glauben auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung beruht. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Soweit der Bevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 6. Februar 2017 erklärt hat, der Antrag, die Beklagte zu verpflichten, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen, werde nicht mehr aufrechterhalten, ist die Klage konkludent teilweise zurückgenommen worden und das Verfahren insoweit unmittelbar beendet. Eines gesonderten Einstellungsbeschlusses nach § 92 Abs. 3 VwGO bedarf es in diesem Fall nicht. Die Kostenentscheidung kann vielmehr im Urteil über den noch anhängig gebliebenen Teil des Rechtsstreits getroffen werden (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2005 – 3 C 50.04, DVBl 2006, 118; Kopp/Schenke, VwGO, RdNr. 27 zu § 92).
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2016 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). Der Kläger hat keinen Rechtsanspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
Gegenstand der Prüfung ist dabei nur die seit Abschluss des ersten Asylverfahrens geänderte Sachlage, nachdem es sich bei dem Antrag des Klägers um einen Folgeantrag (§ 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG) handelt, dessen Beachtlichkeit vom Bundesamt angenommen wurde.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Mit der zum 1. Dezember 2013 in Kraft getretenen Neuregelung des § 3 Abs. 1 AsylG durch das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 wurden die europarechtlichen Vorgaben für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Teil der Gewährung internationalen Schutzes aus der Richtlinie 2011/95/EU (nachfolgend: RL), welche die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) abgelöst hat, im Asylverfahrensgesetz umgesetzt. Für die in der Neufassung inhaltlich geänderten Bestimmungen war den Mitgliedstaaten eine Umsetzungsfrist bis zum 21. Dezember 2013 eingeräumt worden (Art. 39 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU)
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 1 RL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die
a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist oder
b) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der unter Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist.
Als Verfolgung in diesem Sinne können nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL) unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
1.die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
2.gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
3.unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
4.Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
5.Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 fallen,
6.Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist gemäß § 3b AsylG Folgendes zu berücksichtigen:
1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2. der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3. der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4. eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn
a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und
b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5. unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG (vgl. Art. 5 Abs. 2 RL) kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zu erleiden, auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. § 3 Abs. 1 AsylG greift deshalb auch dann ein, wenn beispielsweise politische Verfolgung wegen eines für die Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG, § 28 Abs. 1 AsylG unbeachtlichen Nachfluchtgrundes droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.1992 – 9 C 59/91).
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen.
Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) RL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; Beschluss vom 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; Urteil vom 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; Urteil vom 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12, NVwZ 2013, 936).
Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteile vom 20.2.2013, a.a.O. und vom 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162).
Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Kläger erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL).
Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.
Art. 4 Abs. 4 RL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 2.7.1980 – 1 BvR 147, 181, 182/80 – BVerfGE 54, 341; dem folgend Urteil vom 31.3.1981 – 9 C 237.80 – Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (Urteil vom 18.2.1997 – 9 C 9.96, BVerwGE 104, 97), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, Urteil vom 27.4.1982 – 9 C 308.81, BVerwGE 65, 250). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, Urteil vom 18.2.1997 – 9 C 9.96, a.a.O.). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend BVerwG, Urteile vom 25.9.1984 – 9 C 17.84, BVerwGE 70, 169 und vom 5.11.1991 – 9 C 118.90, BVerwGE 89, 162) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (BVerwG, Urteil vom 3.11.1992 – 9 C 21.92, BVerwGE 91, 150), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (BVerwG, Urteile vom 17.10.1995 – 9 C 9.95, BVerwGE 99, 324 zu § 53 Abs. 6 AuslG und vom 4.6.1996 – 9 C 134.95 – InfAuslR 1996, 289 zu § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK).
Art. 4 Abs. 4 RL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten jedoch auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, Urteil vom 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a., Abdulla). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 – 10 C 5/09, BVerwGE 136, 377).
Für das Eingreifen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist nicht nur im Rahmen des Flüchtlingsschutzes sondern auch im Rahmen des subsidiären Schutzes erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem früher erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung – bei gleichbleibender Ausgangssituation – aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, Urteil vom 27.4.2010 – 10 C 4/09, BVerwGE 136, 360).
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 – NVwZ 2012, 1612) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a RL angesehen werden können.
Die Rechtsprechung kann auf § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG übertragen werden, der Art. 9 Abs. 1 lit. a RL in nationales Recht umgesetzt hat.
Der Gerichtshof sieht in dem in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GR-Charta) verankerten Recht auf Religionsfreiheit ein grundlegendes Menschenrecht, das eines der Fundamente einer demokratischen Gesellschaft darstellt und Art. 9 EMRK entspricht. Ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit kann so gravierend sein, dass er einem der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Fälle gleichgesetzt werden kann, auf die Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie als Anhaltspunkt für die Feststellung verweist, welche Handlungen insbesondere als Verfolgung gelten (EuGH a.a.O. Rn. 57). Allerdings stellt nicht jeder Eingriff in das durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta garantierte Recht auf Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dar (Rn. 58). Zunächst muss es sich um eine Verletzung dieser Freiheit handeln, die nicht durch gesetzlich vorgesehene Einschränkungen der Grundrechtsausübung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GR-Charta gedeckt ist. Weiterhin muss eine schwerwiegende Rechtsverletzung vorliegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt (Rn. 59). Das setzt nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie voraus, dass die Eingriffshandlungen einer Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf (Rn. 61).
Zu den Handlungen, die nach der Rechtsprechung des EuGH eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit des Antragstellers, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben. Der Gerichtshof hält es mit der weiten Definition des Religionsbegriffs in Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie nicht für vereinbar, die Beachtlichkeit einer Verletzungshandlung danach zu beurteilen, ob diese in einen Kernbereich der privaten Glaubensbetätigung (forum internum) oder in einen weiteren Bereich der öffentlichen Glaubensausübung (forum externum) eingreift (Rn. 62 f.).
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich dieser Auslegung angeschlossen (Urteil vom 20.2.2013 – 10 C 23.12, NVwZ 2013, 936) und hält an der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2004/83/EG vertretenen, hiervon abweichenden Rechtsauffassung für den Flüchtlingsschutz (vgl. Urteil vom 20.1.2004 – 1 C 9.03, BVerwGE 120, 16) nicht mehr fest. Folglich ist bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, nicht darauf abzustellen, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird, sondern auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen (Rn. 65 mit Verweis auf Rn. 52 der Schlussanträge des Generalanwalts).
Ob eine Verletzung des durch Art. 10 Abs. 1 der GR-Charta garantierten Rechts eine Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a AsylG (Art. 9 Abs. 1 RL) darstellt, richtet sich danach, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Demnach kann es sich bei einer Verletzung des Rechts auf Religionsfreiheit um eine Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 lit. a RL) handeln, wenn der Asylbewerber aufgrund der Ausübung dieser Freiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 3c AsylG (Art. 6 RL) genannten Akteure strafrechtlich verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (Rn. 67). Darüber hinaus ist auch die im Fall der Religionsausübung drohende Gefahr einer Verletzung von Leib und Leben sowie der (physischen) Freiheit hinreichend schwerwiegend, um die Verletzung der Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung zu bewerten.
Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit gemäß § 3a AsylG (Art. 9 Abs. 1 RL) setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Das ergibt sich insbesondere aus der Aussage des Gerichtshofs in Rn. 69, dass schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 lit. a RL) und somit eine Verfolgung darstellen kann, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an.
Diesem Verständnis der Entscheidung, das den Flüchtlingsschutz gegenüber der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorverlagert, steht nicht entgegen, dass der Gerichtshof in seinen Ausführungen auf die Gefahr abstellt, die dem Ausländer bei „Ausübung dieser Freiheit“ (Rn. 67 und 72) bzw. der „religiösen Betätigung“ (Rn. 73, 78 und 79 f.) droht. Denn damit nimmt dieser lediglich den Wortlaut der entsprechenden Vorlagefragen 2a und 3 des Bundesverwaltungsgerichts auf, ohne dass darin eine notwendige Voraussetzung für die Flüchtlingsanerkennung liegt. Könnte nicht schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a RL darstellen, blieben Betroffene gerade in solchen Ländern schutzlos, in denen die angedrohten Sanktionen besonders schwerwiegend und so umfassend sind, dass sich Gläubige genötigt sehen, auf die Glaubenspraktizierung zu verzichten (so auch Lübbe, ZAR 2012, 433 ).
Nach der Rechtsprechung des EuGH hängt die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL) zu erfüllen, von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (Rn. 70). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (siehe oben Ziff. 2.3.2). Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (so auch Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen vom 19. April 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11, Rs. C-71/11 und Rn. 82).
Als relevanten subjektiven Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit sieht der Gerichtshof den Umstand an, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (Rn. 70). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet (Rn. 71).
Der EuGH hat die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bestätigt, dass es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers ankommt, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (vgl. Beschluss vom 9.12.2010 – 10 C 19.09, BVerwGE 138, 270, Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist.
Der vom EuGH entwickelte Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nach dem Verständnis des Bundesverwaltungsgerichts nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glauben verzichten müsste. Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten.
Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a.a.O.).
Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung.
Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass der Kläger seinen Glauben in seinem Heimatland nicht in einer in die Öffentlichkeit wirkenden Weise praktiziert hat, sind die Gründe hierfür aufzuklären. Denn der Verzicht auf eine verfolgungsrelevante Glaubensbetätigung im Herkunftsland kennzeichnet die religiöse Identität eines Gläubigen dann nicht, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung erfolgte.
Ergibt die Prüfung, dass der Kläger seinen Glauben in Deutschland nicht in einer Weise praktiziert, die ihn in seinem Heimatland der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, spricht dies regelmäßig dagegen, dass eine solche Glaubensbetätigung für seine religiöse Identität prägend ist, es sei denn, der Betroffene kann gewichtige Gründe hierfür vorbringen. Praktiziert er seinen Glauben hingegen in entsprechender Weise, ist weiter zu prüfen, ob diese Form der Glaubensausübung für den Kläger zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist und nicht etwa nur deshalb erfolgt, um die Anerkennung als Flüchtling zu erreichen.
Hierzu muss er die inneren Beweggründe glaubhaft machen, die ihn zur Konversion veranlasst haben. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung zum christlichen Glauben auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit einer identitätsprägenden festen Überzeugung beruht.
Wann eine solche Prägung anzuerkennen ist, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Nach dem aus der Gesamtheit des Verwaltungs- und ggfs. gerichtlichen Verfahrens gewonnenen Eindruck muss sich der Schutzsuchende aus voller innerer Überzeugung von seinem bisherigen Bekenntnis gelöst und dem anderen Glauben zugewandt haben. Hat er eine christliche Religion angenommen, genügt es im Regelfall nicht, dass der Schutzsuchende lediglich formal zum Christentum übergetreten ist, indem er getauft wurde. Andererseits kann nicht verlangt werden, dass der Konvertierte so fest im Glauben verankert ist, dass er bereit ist, in seinem Herkunftsland für den Glauben selbst schwere Menschenrechtsverletzungen hinzunehmen.
Von einem Erwachsenen, der sich zum Bekenntniswechsel entschlossen hat, darf im Regelfall erwartet werden, dass er mit den wesentlichen Grundzügen seiner neuen Religion vertraut ist. Welche Anforderungen im Einzelnen zu stellen sind, richtet sich vorwiegend nach seiner Persönlichkeit und seiner intellektuellen Disposition.
Überdies wird regelmäßig nur dann anzunehmen sein, dass der Konvertit ernstlich gewillt ist, seine christliche Religion auch in seinem Heimatstaat auszuüben, wenn er seine Lebensführung bereits in Deutschland dauerhaft an den grundlegenden Geboten der neu angenommenen Konfession ausgerichtet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.2.2013, a.a.O.).
Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann aber nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 Buchst. a RL) angesehen werden, wenn der Asylbewerber – über die soeben genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus – bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Das bedeutet – wie oben bereits dargelegt –, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen.
Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Kläger ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne § 3a Abs. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 RL) gelten können (vgl. Urteil des EuGH vom 5.9.2012, a.a.O. Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 1 lit. b RL) ergibt.
§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1. Die Maßnahmen im Sinne von Nr. 2 können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen.
In Nr. 1 beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition“). Während die „Art“ der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung“ eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt, in: Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30).
Der Europäische Gerichtshof geht in seinem Urteil vom 5. September 2012 (Rn. 69) davon aus, dass das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie (§ 3 a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) darstellen kann. Das Verbot kann von so schwerwiegender „Art“ sein, dass es für sich allein die tatbestandliche Voraussetzung von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG) erfüllt. Andere Maßnahmen können hingegen unter Umständen nur aufgrund ihrer Wiederholung vergleichbar gravierend wirken wie ein generelles Verbot.
Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Nr. 1 mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative der Nr. 2 in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG (Art. 9 Abs. 2 RL) aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL) erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht.
Nach diesen Maßstäben liegt beim Kläger kein beachtlicher Nachfluchtgrund vor, weil das Gericht dem Kläger die behauptete nachhaltige, innere Überzeugung vom Christentum nicht glaubt.
Das Gericht geht nicht von einer im Verfahren beachtlichen Konversion zum Christentum aus, weil die Angaben des Klägers in der persönlichen Befragung nicht ehrlich und aufrichtig erschienen. Da bereits nach eigenen Angaben des Klägers die Motivation für den Glaubenswechsel und den Wandel im Umgang mit seiner Straftat eng zusammenhängen, erscheint es nicht angezeigt, bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit nach dem Vorbringen zur Konversion und zum persönlichen Umgang mit der von ihm begangenen Vergewaltigung zu unterscheiden.
Maßgeblich ist für diese Einschätzung vor allem, dass das Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger sich nicht – wie behauptet – ernsthaft und reuig mit der von ihm begangenen Straftat auseinandergesetzt hat, sondern das diesbezügliche Vorbringen als verfahrenstaktisch motiviert anzusehen ist. Damit teilt das Gericht die Auffassung des Regierungsdirektors … von der Justizvollzugsanstalt … vom 20. Juni 2014, dass der Kläger insoweit manipulativ vorgehe, als er sich sogar überhöflich benehme, „um sein Gegenüber für sich und seine Belange einzunehmen“ und sich bei Fehlschlagen dieser Strategie abwende. Dabei ergab sich für das Gericht ein vergleichbares Bild in der persönlichen Befragung des Klägers insbesondere hinsichtlich seines Umgangs mit der begangenen Straftat. Insbesondere konnte der Kläger hierbei nicht glaubhaft vermitteln, dass er sich tatsächlich aufrichtig mit dieser Tat auseinandersetzt. Zwar finden sich inzwischen entgegenstehende Anhaltspunkte (vgl. beispielsweise die Bescheinigung der Bewährungshelferin … vom 2. März 2016 und die Behauptungen des Klägers in der persönlichen Befragung durch das Gericht). Allerdings erscheint dies wegen der erfolgten Verurteilung insofern auch alternativlos, was dem Kläger mittlerweile auch klar zu sein scheint.
In der mündlichen Verhandlung äußerte der Kläger zu der Frage, ob er sich jemals bei dem Vergewaltigungsopfer entschuldigt habe, er habe fest vorgehabt, dies in der Hauptverhandlung beim Landgericht (Berufungsverhandlung) persönlich zu tun. Erst nach einigem Nachdenken gab er an, nach seiner Freilassung habe er die Frau nicht zusätzlich damit belasten wollen und dass er hoffe, dass sie mittlerweile die Tat verkraftet habe.
Die Aussage, es wäre seine feste Absicht gewesen, sich beim Opfer zu entschuldigen, steht dabei im deutlichen Widerspruch zu früheren Angaben. Noch zum Zeitpunkt der o.g. Stellungnahme der JVA … (Juni 2014) und damit fast ein halbes Jahr nach der Verurteilung hat der Kläger jede Therapie abgelehnt und sich als zu Unrecht verurteilt angesehen, vielmehr sei er im Verfahren anwaltlich schlecht vertreten gewesen. Dies deckt sich auch mit seiner eigenen Angabe, er habe erst während seines Gefängnisaufenthalts sein Unrecht eingesehen. Berücksichtigt man diesen zeitlichen Ablauf, ist die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung als so ernsthafte und ihm angeblich wichtige Absicht, sich schon so lange vor Einsicht des Unrechts deswegen bei seinem Opfer entschuldigen zu wollen, nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr drängte sich dem Gericht der Eindruck auf, der Kläger habe sich inzwischen mit der Verurteilung als nicht mehr rückgängig zu machender Tatsache abgefunden und verspreche sich mittlerweile mehr durch einen vermeintlich offenen und reuevollen Umgang mit Straftat und Verurteilung – allerdings nicht aus einer inneren Überzeugung hinaus, sondern aus verfahrenstaktischen Gründen.
Gerade unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger inzwischen – und auch bedingt durch seinen Glaubenswechsel – seine persönliche Schuld der Tat anerkannt haben will, wäre eine Auseinandersetzung auch mit den Folgen der Straftat für das Opfer zu erwarten gewesen. Mag auch die Annahme des Bevollmächtigten des Klägers zutreffen, dass bei einer erneuten Kontaktaufnahme auch zum Zwecke der Entschuldigung die Gefahr einer Verschlimmerung beim Opfer bestehen könnte, schien es sich keinesfalls auch um entsprechende Überlegungen des Klägers selbst zu handeln. Vielmehr schien dieser noch überhaupt nicht auf die Idee gekommen zu sein, dass neben des behaupteten „Eingestehens der Schuld gegenüber Gott“ auch ein Eingestehen gegenüber dem Opfer bedeutend sein könnte. Erst auf mehrfache Nachfrage konnte er einen Grund angeben (er wolle das Opfer nicht daran erinnern), der sich dem Gericht mehr als rettende Idee als eine vorherige Überlegung dargestellt hat.
Deshalb kann aus Sicht des Gerichts offen bleiben, ob – wie vom Bundesamt angenommen – bereits der mehrfache Religionswechsel (erst zum Bahaitum, dann zum Christentum) für eine mangelnde Ernsthaftigkeit und damit gegen eine tiefe innere Überzeugung vom christlichen Glauben spricht. Allerdings kommt das Gericht auch hinsichtlich dieses (vorherigen) Glaubenswechsels zum Bahaitum zu der Einschätzung, dass dieser Wechsel nicht auf einer inneren Überzeugung basiert, sondern aus asyltaktischer Motivation erfolgt ist. Hierfür sprechen schon die Angaben des Klägers, dass er zwar an Veranstaltungen teilgenommen habe, aber schlussendlich selbst allenfalls interessiert an dem Glauben gewesen sei. Auch das asyltaktische Vorgehen bei Stellung des Folgeantrags spricht nach Auffassung des Gerichts für entsprechende taktische Erwägungen bei der nachfolgenden Konversion.
Aus den Gründen der fehlenden Glaubwürdigkeit hinsichtlich einer ernsthaften, inneren Überzeugung kann es auch nicht auf die inhaltlichen Kenntnisse des Klägers von christlichen Glaubensinhalten ankommen. Eine derartige feste innere Überzeugung lässt sich insbesondere nicht bereits aus dem formalen Akt der Taufe herleiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25.8.2015 – 1 B 40/15; BayVGH, Beschluss vom 16.11.2015 – 14 ZB 13.30207; OVG NW, Beschluss vom 27.4.2015 – 13 A 440/15.A). Das BVerwG geht dabei insbesondere davon aus, dass trotz ähnlicher Voraussetzungen die staatliche und kirchliche Würdigung unabhängig voneinander zu erfolgen haben (BVerwG, a.a.O., Rdnr. 11).
Zusammenfassend ist deshalb festzuhalten, dass der behauptete Glaubenswechsel des Klägers zur Überzeugung des erkennenden Gerichts im Asylverfahren vorgeschoben ist und sich nicht in identitätsprägender Weise manifestiert hat. Der Einschätzung des Bundesamtes, dass der Kläger nicht aus einer auf Dauer angelegten Überzeugung diese Religion in seinem Heimatland ausüben werde, ist deshalb nach Auffassung des Gerichts nicht zu beanstanden.
Trotz des durch die Taufe formal vollzogenen Glaubensübertritts hat der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran keine Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten (vgl. BayVGH, Beschluss vom 16.11.2015 – 14 ZB 13.30207; OVG NW, Beschluss vom 27.4.2015 – 13 A 440/15.A).
Es ist auch den iranischen Behörden bekannt, dass iranische Staatsangehörige in Asylverfahren häufig die Konversion zum christlichen Glauben geltend machen, um so bessere Chancen im Asylverfahren zu erhalten. Hinzu kommt, dass sich iranische Staatsangehörige in der Bundesrepublik Deutschland „im Feindesland“ befinden, und es dort nach diesem Verständnis durchaus erlaubt ist, durch Täuschungshandlungen den Feind zu überlisten. Der rein formale Glaubensübertritt wird bei einer Rückkehr in den Iran somit keine nachteiligen Folgen für den Kläger haben. Damit ergeben sich auch keine Anhaltspunkte, dass dem Kläger wegen des kurzen Fernsehinterviews im … oder wegen der dem Gericht gezeigten Bilder im Messdienergewand Verfolgung drohen würde – bereits unabhängig davon, dass keine Hinweise ersichtlich sind, dass dieses kurze Video iranischen Stellen überhaupt bekannt geworden wäre.
Allein die Tatsache, dass der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst noch keine staatlichen Repressionen nach der Rückkehr in den Iran aus (vgl. BayVGH, Beschluss vom 25.2.2013 – 14 ZB 13.30023; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8.12.2016). Den iranischen Sicherheitsbehörden ist bekannt, dass Asylbewerber aus dem Iran überwiegend aus anderen als politischen Gründen versuchen, in Deutschland einen dauernden Aufenthalt zu erreichen und hierzu Asylverfahren betreiben, also eine Asylantragstellung keinen Rückschluss auf die politische Einstellung des Asylbewerbers zulässt. Der Kläger hat auch nicht wegen seiner politischen Einstellung Asyl beantragt.
Bei der Rückkehr kann es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt kommen, insbesondere zu Kontakten während dieser Zeit. Die Befragung geht in Ausnahmefällen mit einer ein- bis zweitägigen Inhaftierung einher. Keiner westlichen Botschaft ist aber bislang ein Fall bekannt geworden, in dem Zurückgeführte darüber hinaus staatlichen Repressionen ausgesetzt waren oder im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert wurden. Es gibt derzeit auch keine Hinweise auf eine Veränderung dieser Praxis (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.6.2011 – 13 A 1050/11.A; VG Düsseldorf, Urteile vom 11.10.2011 – 5 K 7134/10.A und vom 9.3.2011 – 5 K 3257/10.A, mit weiteren Hinweise zur ständigen Rechtsprechung des OVG NRW, Urteil vom 30.4.1992 – 16 A 1193/91.A, S. 14 ff., und Beschluss vom 28.9.1998 – 9 A 4328/98.A).
Aufgrund dieser gerichtlichen Würdigung kann im Ergebnis offen bleiben, ob eine Flüchtlingsanerkennung in Anbetracht der Verurteilung zu einer zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren nach § 3 Abs. 4 AsylG, § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG überhaupt in Frage käme.
Dem Kläger steht unter diesen Umständen auch kein Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG bzw. auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu.
Rechtsgrundlage der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sind §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylG. Hinsichtlich der Befristungsentscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot sind Ermessensfehler weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).


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