Verwaltungsrecht

Kein Flüchtlingsschutz für in Deutschland verheiratete türkische Kurdin

Aktenzeichen  Au 6 K 18.30715

Datum:
4.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 25206
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4, § 77 Abs. 1, § 83b
AufenthG  § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. In der Türkei weist der Schutz von Frauen vor Gewaltdelikten noch große Defizite auf. Zwar besitzen auch unverheiratete Frauen nach einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt Anspruch auf staatlichen Schutz, jedoch erweist sich die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelung als lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeit für von Gewalt betroffenen Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern als ungenügend. (Rn. 27) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Zwangsverheiratung (vgl. VGH München BeckRS 2016, 45090) sowie daran anknüpfende “Ehrenmorde” bzw. “Blutrache” stellen grundsätzlich einen ernsthaften Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG dar. Eine kurdische Asylbewerberin besitzt insoweit jedoch in der Westtürkei die Möglichkeit der Inanspruchnahme internen Schutzes i.S.v. § 3e AsylG. (Rn. 36) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Eine erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kurdin würde im Falle ihrer Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind für Rückkehrer in die Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (VG Augsburg BeckRS 2018, 26861). (Rn. 41) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei einer Rückkehr in die Türkei nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden. Hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies indes das Risiko einer Verhaftung. (Rn. 44) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG kann sich wegen mangelhafter Berücksichtigung schutzwürdiger Belange als ermessensfehlerhaft erweisen, wenn zwischen dem Erlass der ablehnenden Asylentscheidung und dem nach § 77 Abs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt eine kurdische Asylbewerberin in Deutschland geheiratet hat und nunmehr mit ihrem Ehemann in ehelicher Lebensgemeinschaft lebt. (Rn. 47) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffer 6 ihres Bescheids vom 29. März 2018 wird die Beklagte verpflichtet, eine erneute Ermessensentscheidung über die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Klägerin nach § 11 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zu treffen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens vier Fünftel zu tragen, die Beklagte ein Fünftel.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über welche auf Grund des Verzichts der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist nur zu einem geringen Teil begründet. Die Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 29. März 2019 ist daher bis auf die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die Klägerin hat keine staatliche Verfolgung in der Türkei als Individualverfolgung geltend gemacht.
Hierbei ist der Bescheidsbegründung der Beklagten zu folgen, wonach die Klägerin keine fluchtrelevanten an sie individuell gerichteten staatlichen Bedrohungen oder gar Übergriffe geschildert hat, sondern diese ausdrücklich verneint hat (BAMF-Akte Bl. 77). Auf Frage, ob ihre Familie sie anderweitig verheiraten wollte, gab sie an, Versuche gab es, es sei aber nicht mehr so wie früher, man könne sich wehren (ebenda Bl. 77). Probleme mit Behörden oder Polizei in der Türkei verneinte sie; sie befürchte bei einer Rückkehr in die Türkei, da ihre Familie dagegen war, dass sie nach Deutschland zum Verlobten gehe, könnten diese sie bei einer Rückkehr aus der Familie ausstoßen (ebenda Bl. 77). Damit macht sie lediglich eine Ausstoßung aus ihrer Familie aus der Türkei geltend. Diese ist allerdings mangels Territorialgewalt kein territorial relevanter privater Verfolger im Sinne des § 3c AsylG; zudem läge keine Verfolgungshandlung wegen eines Verfolgungsmerkmals vor.
Dass die Türkei kein Interesse an ihrer Person hat. liegt zum einen am fehlenden politischen Bezug ihrer behaupteten Fluchtgründe, zum anderen aber auch daran, dass sie in der Türkei einen eigenen Reisepass erteilt erhalten und vor dem türkischen Generalkonsulat ihren heutigen Ehemann geheiratet hat.
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Türkei an ihr wegen ihres Ehemanns ein besonderes Interesse hätte, wenn sie beide Personen noch unter amtlicher Hilfeleistung in Deutschland miteinander verheiratet, obwohl sich dieser zweier schwerer Straftaten gegen türkische Einrichtungen in Deutschland schuldig gemacht hat.
aa) Für eine Verfolgung durch Unterlassen seitens des türkischen Staates bestehen ebenfalls keine Anhaltspunkte, denn dieser ist grundsätzlich schutzwillig und schutzfähig gegenüber bedrohten Frauen (dazu sogleich).
Der türkische Staat wurde von der Klägerin aber vor ihrer Ausreise gar nicht um Schutz angegangen, sie fühlte sich offenbar auch nicht von ihrer Familie bedroht, sondern wollte zu ihrem Freund nach Deutschland gelangen und diesen unter Umgehung des Visumsverfahrens heiraten, was ihr letztlich auch gelungen ist.
Bekannt ist, dass der Schutz von Frauen vor Gewaltdelikten in der Türkei noch große Defizite aufweist. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun zwar auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz. Insgesamt bleiben jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern ungenügend (vgl. Lagebericht ebenda S. 19; zu Zwangsverheiratungen und „Ehrenmorden“ S. 21 f.):
Das Heiratsalter ist im Jahr 2002 gesetzlich auf 17 Jahre für beide Geschlechter festgelegt worden (mit richterlichem Beschluss und Zustimmung der Eltern 16 Jahre). Diese Vorschrift wird allerdings häufig durch eine von einem Imam vollzogene, amtlich nicht anerkannte, Trauung umgangen. Nach Angaben des türkischen Amts für Statistik ist der Prozentsatz der 16-19 jährigen Frauen bei zivilen Eheschließungen zwischen 2006 und 2013 von 28% auf 24% gesunken. Einer Ende 2014 veröffentlichten Studie der Hacettepe-Universität zufolge wurden 3,3% der heute zwischen 20-49 jährigen Frauen in der Türkei im Alter unter 15 Jahren verheiratet, 20,8% vor ihrem 18. Geburtstag. Nichtregierungsorganisationen kritisieren, dass das Alter von minderjährigen Mädchen zunehmend nach oben „korrigiert“ werde, um eine zivile Heirat zu ermöglichen (vgl. Lagebericht ebenda S. 21).
In der Türkei kommt es immer noch zu so genannten „Ehrenmorden“, d. h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. „schamlosen Verhaltens“ aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines „Verbrechens in der Ehe“ verdächtigt werden. Dies schließt auch vergewaltigte Frauen ein. Auch Männer werden – vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) – Opfer von sog. „Ehrenmorden“, z. T. weil sie „schamlose Beziehungen“ zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die Ehre der Familie wiederherzustellen. Zu diesen Morden gibt es keine offiziellen statistischen Angaben; sie wurden seit 2008, als das Amt für Menschenrechte für das Jahr 2007 183 „Ehrenmorde“ an Frauen registrierte, nicht weitergeführt. Dem Anfang 2007 veröffentlichten Bericht einer „Ehrenmord“-Kommission des Parlaments zufolge kam es in den Jahren 2001 bis 2006 zu 1.190 sog. „Ehrenmorden“ und Blutrachedelikten, davon 710 an Männern und 480 an Frauen/Mädchen. Die generell bei Gewalt gegen Frauen steigenden Zahlen der letzten Jahre können ein Hinweis sein, dass mehr Straftaten bekannt und verfolgt werden bzw. Frauen eher bereit sind, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Diese Tendenz wird auch durch belastbare Aussagen des Menschenrechtsvereins İnsan Hakları Derneği (IHD) gestützt (vgl. Lagebericht ebenda S. 21 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 18.10.2018, S. 71 ff.). Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht (vgl. Lagebericht ebenda S. 22).
Nach den letzten verfügbaren Angaben des Generaldirektorats für Frauenstatusfragen sind 2007 und 2008 insgesamt 1.985 Frauen infolge häuslicher Gewalt gestorben. Polizeilich erfasst wurden im Zeitraum Februar 2010 bis August 2011 rund 80.000 Fälle häuslicher Gewalt. NROs gehen jedoch grundsätzlich davon aus, dass sich nur eine von acht Frauen bei häuslicher Gewalt überhaupt an Außenstehende wendet. Eine im Januar 2009 vom Generaldirektorat veröffentlichte Studie zu Gewalt an Frauen in der Familie kommt zu dem Schluss, dass jede fünfte Frau ab 15 Jahren von körperlicher Gewalt und jede dritte von sexuellen Übergriffen betroffen ist. Jede siebte Frau gab zudem an, als Kind (unter 15) sexuell missbraucht worden zu sein (vgl. Lagebericht ebenda S. 22).
Regierung und Nichtregierungsorganisationen bestätigen, dass sich die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert hat. Dennoch wurde Erhebungen türkischer Frauen-NROs zufolge 2011 73% der um staatlichen Schutz bittenden Frauen die Unterstützung verwehrt. Eine im Juli 2012 vorgestellte Studie des türkischen Innenministeriums bestätigt, dass Behörden und Polizei auf kommunaler Ebene häufig nur unzureichend über die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zum Schutz von Opfern häuslicher Gewalt informiert sind. Seit 2005 müssen Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohnern, soweit es ihre finanzielle Kapazität erlaubt, Frauenhäuser einrichten. Tatsächlich existieren nach Angaben des türkischen Familienministeriums Ende 2017 insgesamt 137 staatliche Frauenhäuser mit einer Kapazität von insgesamt 3.443 Plätzen. Nach Aussage staatlicher Stellen stehen diese Einrichtungen auch Rückkehrern zur Verfügung (vgl. Lagebericht ebenda S. 22).
Insoweit ist die Klägerin – wie von der Beklagten in ihrem Bescheid ausführlich und nachvollziehbar gewürdigt – zunächst auf diese Möglichkeiten staatlichen Schutzes zu verweisen, die sie bisher nicht beantragt bzw. beansprucht hat. Zudem ist die Klägerin bisher von ihrer Familie nicht bedroht worden; eine „Ausstoßung“ würde die Klägerin lediglich auf sich selbst gestellt lassen. Auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid zur zumutbaren inländischen Fluchtalternative wird verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO; § 77 Abs. 2 AsylG).
bb) Für eine Verfolgung durch aktives Handeln seitens des türkischen Staates bestehen erst recht keine Anhaltspunkte.
Gegen ein landesweites staatliches Verfolgungsinteresse spricht der ihr ausgestellte und belassene, nicht mit einer Sperre versehene Reisepass. Angesichts der nicht erst aber besonders seit dem Putschversuch im Juli 2016 bekannt strengen Erteilungsvoraussetzungen für Reisepässe und der Grenzkontrollen (dazu unten), ist nicht von einer staatlichen Verfolgung durch aktives staatliches Handeln auszugehen.
b) Die Klägerin hat keine staatliche Verfolgung als Gruppenverfolgung in der Türkei geltend gemacht. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung liegen auch sonst nicht vor (vgl. in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 13.11.2018 – Au 6 K 17.33234 – juris Rn. 26 ff.).
c) Schließlich steht der nicht staatlich verfolgten Klägerin eine sichere inländische Zuflucht in der Westtürkei offen.
Die erwerbsfähige Klägerin ist – wie vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid ausgeführt – grundsätzlich im Stande, ihr Existenzminimum – ggf. unter (ergänzender) Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung (vgl. zu § 60 Abs. 5 AufenthG) in zumutbarer Weise zu sichern. Zusätzlicher Schutz z.B. in Frauenhäusern ist kapazitätsmäßig in den städtischen Siedlungsregionen der Westtürkei eher erreichbar als im kurdisch dominierten traditionell geprägten Südosten der Türkei (vgl. oben).
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Sie hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihr bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Auch wenn eine Zwangsverheiratung (vgl. BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 13a B 15.30241 – NVwZ 2016, 1271 f. Rn. 18 ff.) und erst recht ein daran anknüpfender sog. „Ehrenmord“ bzw. eine sog. „Blutrache“ einen ernsthaften Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG darstellen kann, ist die Klägerin hier nicht in einer solchen Gefahr und zudem auf den o.g. und von ihr bis zu ihrer Ausreise nicht in Anspruch genommenen internen Schutz zu verweisen (§ 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid wird verwiesen (§ 117 Abs. 5 VwGO; § 77 Abs. 2 AsylG).
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
a) Der Klägerin steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.25.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
aa) Die erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Klägerin würde im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass ihre elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären (vgl. oben zur zumutbaren inländischen Fluchtalternative). Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 – Au 6 K 17.33922 – juris Rn. 89 ff.).
bb) Die Klägerin würden im Fall ihrer Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen einer Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht ebenda S. 29).
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Lagebericht ebenda S. 29). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Da die Klägerin in keinerlei Zusammenhang mit dem Putsch steht, danach noch einen Reisepass ausgestellt erhalten und zuletzt sogar von türkischen Behörden in Deutschland verheiratet worden ist, ist nicht damit zu rechnen und auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie mit dem Putsch oder sonst den über zehn Jahre zurückliegenden Straftaten des Ehemanns in Deutschland in Verbindung gebracht würde. Die Einreisekontrollen als solche stellen keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.
b) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Klägerin nicht vor.
4. Lediglich die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG erweist sich wegen stärker zu berücksichtigender schutzwürdiger Belange der Klägerin – zwischen dem Erlass des Bescheids und dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach § 77 Abs. 2 AsylG hat sie ihren Ehemann in Deutschland geheiratet und lebt mit ihm in ehelicher Lebensgemeinschaft – als ermessensfehlerhaft (§ 114 VwGO – Ermessensdefizit), damit nicht rechtmäßig und ist daher aufzuheben; im Übrigen ist die Klage mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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