Verwaltungsrecht

Kein Gehörsverstoß bei fehlender Erkennbarkeit der Entscheidungserheblichkeit

Aktenzeichen  14 ZB 19.30341

Datum:
16.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1241
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3
VwGO § 108 Abs. 2, § 138 Nr. 3

 

Leitsatz

Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt nicht schon vor, wenn sich das Gericht in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich mit jedem Vorbringen befasst hat. Vielmehr muss das Gericht Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen haben, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängen (ebenso BeckRS 9998, 28827). (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

RO 4 K 17.32745 2018-12-12 Urt VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund des Gehörsverstoßes (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) ist nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG genügenden Art und Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor.
1. Soweit die Antragsbegründung rügt, dass das Verwaltungsgericht – das den klägerischen Vortrag zu Vorfluchtgründen im Iran nicht geglaubt hat, weil der Kläger sich erstmals im gerichtlichen Verfahren darauf berief, homosexuell zu sein, worin das Verwaltungsgericht eine Steigerung des klägerischen Vortrags gesehen hat – nicht beachtet und bewertet habe, dass der Kläger als Argument für seinen erst nachträglich erstatteten Bericht zu seiner Homosexualität (unter anderem) auch vorgetragen habe, er habe aus Scham nicht mit einem iranischen Dolmetscher bei seiner Anhörung im Jahr 2017 vor dem Bundesamt über seine Homosexualität sprechen können, liegt darin kein Gehörsverstoß.
1.1. Zwar kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) darin liegen, dass entscheidungserheblicher Vortrag von einem Gericht nicht zur Kenntnis genommen wird oder unerwogen bleibt (BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85 u.a. – BVerfGE 83, 216/229 f.). Allerdings sind die Gerichte nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfG, B.v. 12.10.1988 – 1 BvR 818/88 – BVerfGE 79, 51/61 m.w.N.). Dies ist nur der Fall, wenn Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen werden, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (BVerwG, B.v. 1.10.1993 – 6 P 7.91 – NVwZ-RR 1994, 298 m.w.N.).
1.2. Vorliegend drängt sich Derartiges nicht auf. Es ist zu sehen, dass der Kläger in der gerichtlichen Verhandlung im direkten Anschluss an diejenige Passage, in der sich seine Ausführungen zur Scham finden (Sitzungsprotokoll S. 3 letzter Absatz), auch darauf hingewiesen hat, er habe gedacht, dass die Konversion und die Tätigkeit für Menschenrechte ausreichen würden, um anerkannt zu werden; auch habe er gedacht, es wäre ausreichend, weil er schon drei Jahre in Deutschland gewesen sei (Sitzungsprotokoll S. 3 letzter Absatz und S. 4 erster Absatz). Gerade diese Aussage zu den klägerischen Vorstellungen, was für eine Flüchtlingsanerkennung ausreichen sollte, zitiert aber explizit auch das Verwaltungsgericht in der kritisierten Würdigung des (aus Sicht des Verwaltungsgerichts unglaubhaften) klägerischen Vorverfolgungsvortrags (UA S. 5 zweiter Absatz neuntletzte bis siebtletzte Zeile). Angesichts dessen drängt sich hier nicht auf, das Verwaltungsgericht könnte klägerischen Vortrag übergangen haben, jedenfalls setzt sich die Antragsbegründung damit nicht detailliert genug auseinander und genügt insoweit nicht den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht nicht pauschal aus den bei der Bundesamtsanhörung unterbliebenen Ausführungen auf die Unglaubhaftigkeit der klägerischen Schilderungen geschlossen, sondern ist explizit auf das individuelle Vorbringen des Klägers, es falle ihm schwer, über seine Homosexualität zu sprechen, eingegangen und hat dies unter anderem unter Hinweis auf seinen im Zeitpunkt der Anhörung vor dem Bundesamt bereits dreijährigen Aufenthalt in Deutschland und die nach Mitteilung des Klägers auch in Deutschland bestehende Beziehung als nicht glaubhaft bewertet (UA S. 5 Mitte).
2. Ein Gehörsverstoß ergibt sich auch nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. Januar 2012 – W 6 K 10.30246 – (juris; vgl. UA S. 6 erster Absatz) sowie das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Januar 2009 – AN 18 K 08.30313 – (juris; vgl. UA S. 6 zweiter Absatz) nicht zuvor förmlich in das Verfahren eingeführt hatte.
2.1. Eine gerichtliche Entscheidung darf gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO nur auf solche Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Diesen besonderen Anforderungen unterliegt nicht die bloße Bezugnahme auf “Rechtsausführungen und rechtliche Schlussfolgerungen” in anderen Entscheidungen (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.1983 – 9 C 860.82 – BVerwGE 67, 83; BayVGH, B.v. 25.8.2016 – 14 ZB 16.30133 – juris Rn. 9). Dagegen findet das besagte Gebot des rechtlichen Gehörs Anwendung auf die Verwertung “tatsächlicher Feststellungen” aus anderen gerichtlichen Verfahren für den zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreit und wird verletzt, wenn ein Gericht “anstelle einer eigenen Beweiserhebung” auf Entscheidungen mit umfangreichen tatsächlichen Feststellungen verweist, ohne die Entscheidungen den Beteiligten so zugänglich zu machen, dass sie sich dazu hätten äußern können (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 11 m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.8.2016 – 14 ZB 16.30133 – juris Rn. 9). Jedoch ist eine derartige Bezugnahme auf tatsächliche Feststellungen nicht gegeben, wenn ein Gericht eine eigene selbständige tatrichterliche Würdigung tatsächlicher Feststellungen vornimmt und andere Entscheidungen nur als “bestätigenden Beleg” dafür heranzieht, dass andere Gerichte die Lage (einer bestimmten Gruppe) in einem Land tatrichterlich in ähnlicher Weise gewürdigt und deshalb rechtlich “die gleichen Schlussfolgerungen” gezogen haben. Solche Bezugnahmen unterliegen nicht den besonderen Anforderungen des § 108 Abs. 2 VwGO (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 11 m.w.N.) und führen auch dann nicht zu einem Gehörsverstoß, wenn die in Bezug genommenen anderen Entscheidungen nicht zuvor in das Verfahren einbezogen worden sein sollten.
2.2. Die verwaltungsgerichtliche Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 18. Januar 2012 – W 6 K 10.30246 – (juris; vgl. UA S. 6 erster Absatz) ohne vorherige Einführung in das Verfahren führt nicht zu einem Gehörsverstoß, weil sie nur als Beleg dafür dient, dass andere Gerichte “die gleichen Schlussfolgerungen” gezogen haben wie das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil, wobei das Verwaltungsgericht gerade in diesem Kontext durchaus eine eigene, selbständige tatrichterliche Würdigung tatsächlicher Feststellungen vorgenommen hat.
Das besagte Zitat bezieht sich auf die Erkenntnis des Verwaltungsgerichts, dass eine religiöse Betätigung von muslimischen Konvertiten im Iran selbst im häuslich-privaten oder nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich nicht mehr gefahrlos möglich sei (UA S. 6 erster Absatz). Dem unmittelbar vorangestellt hat das Verwaltungsgericht die Aussage, aufgrund der aktuellen asylrelevanten Lage, welche sich “aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln” ergebe, bestehe nach Ansicht des Gerichts im Iran für christliche Konvertiten, die ihren Glauben in Gemeinschaft mit anderen ausüben würden, die beachtliche Gefahr von Verfolgungshandlungen (UA S. 5 letzter Absatz bis S. 6 erster Absatz). Letzteres stellt eine eigenständige Auswertung der einbezogenen Erkenntnismittel durch das Verwaltungsgericht selbst dar, wobei das besagte Zitat lediglich als Beleg dafür zu verstehen ist, dass das Verwaltungsgericht Würzburg die gleichen Schlüsse gezogen hat wie das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil.
2.3. Die verwaltungsgerichtliche Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Januar 2009 – AN 18 K 08.30313 – (juris; vgl. UA S. 6 zweiter Absatz) ohne vorherige Einführung in das Verfahren stellt schon deshalb keinen Gehörsverstoß dar, weil dieses Zitat in der Sache keine tatsächlichen Feststellungen, sondern ein rechtliches Kriterium betrifft, nämlich das Erfordernis (auch) einer individuellen Prognose der zu erwartenden religionsbezogenen Verhaltensweise bei Rückkehr in das Heimatland (vgl. UA S. 6 Mitte des zweiten Absatzes). Es geht insoweit nicht um eine Bezugnahme auf tatsächliche Aussagen im besagten Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach, sondern um die (rechtliche) Erkenntnis, dass die vorzunehmende Prognose, ob der Ausländer nach Rückkehr in sein Heimatland anknüpfend an die Religion Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist, “zunächst eine Prognose des vom Ausländer entsprechend seiner Religion im Heimatland zu erwartenden Verhaltens” voraussetzt (UA S. 6 Mitte des zweiten Absatzes). Dabei liegt in diesem Kontext die für das Verwaltungsgericht entscheidende “Sachverhaltsaussage” nicht im besagten Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach, sondern darin, dass der Kläger selbst mitgeteilt habe, das Christentum “beiseitegelegt” zu haben und auch keine Kirche mehr zu besuchen (vgl. UA S. 6 vorletzter Absatz), wozu sich das zitierte Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach wiederum nicht äußert.
3. Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Kläger, der dieses Rechtsmittel vorliegend ohne Erfolg eingelegt hat (§ 154 Abs. 2 VwGO). Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird die angegriffene Entscheidung rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).
Dieser Beschluss ist nach § 80 AsylG i.V.m. § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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