Verwaltungsrecht

Keine Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach abgelehnter Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis bei Straftäter

Aktenzeichen  10 CS 16.649

Datum:
31.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 34 Abs. 3, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1
EMRK EMRK Art. 8
VwGO VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

Bescheinigt der Führungsbericht einer Justizvollzugsanstalt einem jugendlichen Straftäter einen “guten Behandlungsverlauf” und eine Reduzierung des Rückfallrisikos bei Bereitstellung eines geeigneten “sozialen Empfangsraums”, lässt dies nicht darauf schließen, dass von dem Betroffenen keine Gefahr mehr ausgeht, sondern lediglich, dass sich ein Rückfallrisiko bei Eintritt bestimmter Bedingungen als gemindert darstellt.   (red. LS Clemens Kurzidem)
Ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt nur dann in Betracht, wenn ein atypischer Fall vorliegt, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung eines Aufenthaltstitels mit der Systematik oder der grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist. Ein derartiger Ausnahmefall liegt insbesondere dann vor, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist. (red. LS Clemens Kurzidem)
Ob bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden kann, ist erst dann aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden, wenn feststeht, dass eine konkrete Gefährdung der öffentlichen Sicherheit iSd § 53 Abs. 1 AufenthG nach wie vor zu besorgen ist. Ein Ausnahmefall liegt danach vor, wenn die bestehende Wiederholungsgefahr aufgrund besonderer Umstände als Restrisiko in Kauf zu nehmen ist (wie VGH München BeckRS 2016, 51505). (red. LS Clemens Kurzidem)
Eine Wiedereinstellungszusage nach Haftentlassung, die die Möglichkeit zur Fortsetzung einer Ausbildung bietet, vermittelt einem Ausländer noch keine tiefgehende Verwurzelung in das wirtschaftliche oder soziale Leben im Inland, sondern eröffnet ihm allenfalls eine Perspektive für die Zukunft. (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

M 9 S 15.5525 2016-03-07 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I.
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,– Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller, ein 1995 geborener türkischer Staatsangehöriger, verfolgt mit seiner Beschwerde die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage (M 9 K 15.5524) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. November 2015 weiter, mit dem sein Antrag auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 3 AufenthG abgelehnt (und der Antragsteller ausgewiesen) wurde.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht München hat zutreffend entschieden, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abzulehnen ist, weil die in der Hauptsache erhobene Klage hinsichtlich der Ablehnung des Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und der Abschiebungsanordnung/-androhung in dem streitgegenständlichen Bescheid voraussichtlich erfolglos bleiben wird.
Das Verwaltungsgericht hat im Beschluss vom 7. März 2016 die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis in Nr. 2 des Bescheids als rechtmäßig angesehen, da ein Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bestehe und es damit an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG fehle. Gründe für ein Abweichen vom Regelfall seien nicht vorgetragen oder nach Aktenlage erkennbar. Auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung komme es hier nicht an; ungeachtet dessen bestünden aber auch gegen die Ausweisung keine rechtlichen Bedenken.
Zur Beschwerdebegründung trägt der Antragsteller im Wesentlichen vor, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts lägen sehr wohl Gründe vor, die ein Abweichen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG rechtfertigten. Er habe vor seinem Haftantritt eine Ausbildung bei einem Unternehmen für Fußbodentechnik begonnen; von dessen Geschäftsführer sei ihm ein hervorragendes Zeugnis erteilt worden, er sei als absolut zuverlässig, fleißig und außerordentlich leistungsfähig beschrieben worden. Er könne dort auch nach der Verbüßung seiner Haftstrafe die Ausbildung beenden. Ferner lebten seine Angehörigen und Verwandten in Deutschland, außer seinen Großeltern, zu denen er aber keinen Kontakt habe und die er lediglich zweimal in seinem Leben bei Urlauben gesehen habe. Er beherrsche die deutsche Sprache fließend, die türkische jedoch nur ungenügend. Er könne sich auf die Schutzwürdigkeit als faktischer Inländer berufen. Diese dargelegten Lebensumstände seien derart bedeutsam, dass sie das Gewicht der gesetzlichen Regelerteilungsvoraussetzung beseitigten. Ferner stehe die vom Verwaltungsgericht angestellte Prognose, vom Antragsteller gehe eine konkrete Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer erheblicher Gewaltstraftaten und gegenwärtig nach wie vor eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, in eindeutigem Widerspruch zu den Beurteilungen der sozialtherapeutischen Abteilung der Justizvollzugsanstalt (zuletzt im Führungsbericht vom 7.4.2016). Von einer konkreten Wiederholungsgefahr beim Antragsteller nach seiner Haftentlassung könne danach nicht mehr ausgegangen werden.
Diese vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof seine Prüfung nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Abänderung oder Aufhebung des angefochtenen Beschlusses. Die vom Verwaltungsgericht getroffene Wertung, dass die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsanordnung bzw. -androhung in dem streitgegenständlichen Bescheid rechtmäßig sind, kann er damit nicht erschüttern.
Dass vom Antragsteller keine Gefahr mehr ausgehen würde, die ein Ausweisungsinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AufenthG begründet, kann das Gericht nicht erkennen. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Antragsteller aufgrund von § 53 Abs. 3 AufenthG i. V. m. Art. 7 Satz 1, Art. 14 ARB 1/80 nur ausgewiesen werden darf, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Diese Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht bejaht und dabei dargelegt, dass, ausgehend von der hohen Rückfallgeschwindigkeit und den einschlägigen Vorstrafen sowie unter Berücksichtigung der negativen Sozialprognose in den Strafurteilen, die Antragsgegnerin zu Recht festgestellt habe, dass der Antragsteller zunehmend gewalttätiger werde. Da der Antragsteller nach den strafrichterlichen Feststellungen keine Einsicht in seine Alkoholproblematik gezeigt habe, sei die Prognose, dass sich an diesem Verhalten ohne Therapie nichts ändern werde, zutreffend, da eine Therapie zunächst Einsicht in das Problem voraussetze. Bezüglich der Teilnahme an dem Therapieprogramm in der Justizvollzugsanstalt sei noch kein Erfolg abzusehen. Auch das gute Verhalten im Vollzug sei noch kein ausreichendes Indiz dafür, dass der Antragsteller nach seiner Entlassung nicht wieder trinke und dann gewalttätig werde. Diese Erwägungen konnte der Antragsteller mit seinem Verweis auf den Vollzugsbericht der Justizvollzugsanstalt vom 7. April 2016 nicht entscheidend in Zweifel ziehen. Aus diesem Bericht ergibt sich nämlich keineswegs, dass vom Antragsteller bereits jetzt keine Gefahr mehr ausgehe. In ihm ist ausgeführt, dass der Antragsteller, bei dem zu Haftbeginn ein mittleres Rückfallrisiko vorgelegen habe, sich seit Oktober 2015 in einem Behandlungsprogramm in der Sozialtherapeutischen Abteilung für jugendliche Gewaltstraftäter befinde; bei einem planmäßigen Durchlaufen dieses Behandlungsprogramms sei von einer „deutlichen Reduzierung des Rückfallrisikos gerade auch im Gewaltbereich auszugehen, so dass dann auch eine Entlassung zur Bewährung unter bestimmten Auflagen verantwortet werden kann“. Der Vollzugsbericht bescheinigt dem Antragsteller letztlich nur einen „guten Behandlungsverlauf“. Wenn dieser sich so fortsetze und auch der „soziale Empfangsraum“ sich so gestalte, dass er nicht zu seiner Familie zurückkehre, sondern in einem Betreuten Wohnen aufgenommen werde, sei das Rückfallrisiko soweit reduziert, dass eine Entlassung zur Bewährung verantwortbar erscheine. Hieraus ergibt sich, dass in dem Führungsbericht der Justizvollzuganstalt nicht bescheinigt wird, dass von ihm keine schwerwiegende Gefahr mehr ausgeht, sondern lediglich, dass sich das Rückfallrisiko in der Zukunft bei Eintritt mehrerer Bedingungen als gemindert darstellen würde. Die Gewalttherapie ist nach diesen Darstellungen noch nicht abgeschlossen, wenn auch der Antragsteller hier gute Perspektiven zeigt; gleiches gilt für die Suchttherapie, wobei in dem Führungsbericht eine weitere ambulante Suchtbehandlung auch noch nach einer Haftentlassung und eine entsprechende Bewährungsauflage für erforderlich gehalten wird.
Das Verwaltungsgericht ist auch zu Recht davon ausgegangen, dass ein Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG rechtfertigen würde, nicht vorliegt. Ein solcher wäre nur dann zu bejahen, wenn ein atypischer Fall gegeben ist, der so weit vom Regelfall abweicht, dass die Versagung des Aufenthaltstitels mit der Systematik oder der grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers nicht mehr vereinbar ist. Insbesondere liegt ein Ausnahmefall vor, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK geboten ist (Bender/Leuschner in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, AufenthG, § 5 Rn. 7). Weitere Kriterien für die Frage, ob ein atypischer, von der Regel abweichender Sachverhalt in Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG gegeben ist, konnten nach der Rechtsprechung zur vorherigen Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Bezug auf Straftaten insbesondere die Dauer des straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtaufenthaltsdauer und die schutzwürdigen Bindungen im Inland sein. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung aller einschlägigen öffentlichen und privaten Interessen zu entscheiden und stellt eine Rechtsentscheidung dar. Zu dieser Abwägung kommt es erst, wenn feststeht, dass eine konkrete Gefährdung der öffentlichen Sicherheit i. S. d. § 53 Abs. 1 AufenthG nach wie vor zu besorgen ist. Ein Ausnahmefall ist also dann zu bejahen, wenn die bestehende Wiederholungsgefahr aufgrund besonderer Umstände als Restrisiko in Kauf zu nehmen ist (BayVGH, B.v. 29.8.2016 – 10 AS 16.1602 – Rn. 24; Funke/Kaiser, GK-AufenthG, Stand: Juli 2016, § 5 Rn. 74).
Einen Ausnahmefall in diesem Sinn kann der Antragsteller in seinem Beschwerdevorbringen nicht darlegen. Obwohl der Antragsteller als sog. faktischer Inländer anzusehen ist, ist der Eingriff in sein Privat- und Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK als gerechtfertigt anzusehen. Der Antragsteller ist mittlerweile 21 Jahre alt, eine eigene Familie hat er nicht gegründet. Zwar leben – nach seinen Angaben – außer den Großeltern alle Familienangehörigen und Verwandten in Deutschland, doch beabsichtigt er nach einer Haftentlassung keine Rückkehr zu seinen Eltern, sondern soll wegen der früheren massiven Konflikte insbesondere mit seinem Vater und seinem älteren Bruder in einem Betreuten Einzelwohnen oder einer Therapeutischen Wohngemeinschaft untergebracht werden; dies hält der Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt als gesicherten sozialen Empfangsraum für erforderlich. Der Antragsteller spricht Türkisch – wenn auch nach eigenem Vortrag nicht sehr gut -, und es kann vom ihm erwartet werden, sich in der Türkei zurechtzufinden und ein eigenes Leben aufzubauen, unabhängig davon, ob er gemäß seinem Vorbringen seine Großeltern kaum kennt bzw. sich nicht mit ihnen versteht. Auch dass das Unternehmen, bei dem er vor seinem Haftantritt beschäftigt war bzw. eine Berufsausbildung begonnen hat, ihm eine Wiedereinstellung und die Fortsetzung der Ausbildung nach einer Haftentlassung zugesagt hat, begründet noch keine tiefgehende Verwurzelung in das wirtschaftliche oder soziale Leben im Inland, sondern eröffnet ihm allenfalls eine Perspektive für die Zukunft. Nach allem wiegen die Bleibeinteressen, insbesondere die schutzwürdigen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet, nicht so schwer, dass deswegen die noch bestehende erhebliche Gefahr der Begehung weiterer gravierender Straftaten hinzunehmen wäre.
Ob es außerdem noch, wie von der Antragsgegnerin in ihrem Schriftsatz vom 17. Mai 2015 geltend gemacht, an der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG mangelt, weil der Antragsteller keinen gültigen Pass besitzt, ist vorliegend nicht mehr erheblich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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