Verwaltungsrecht

Keine Befreiung von der Residenzpflicht für Geduldeten

Aktenzeichen  W 10 E 18.32094

Datum:
3.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 38600
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 61 Abs. 1d S. 1, S. 3
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

Im Rahmen der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der „sonstigen humanitären Gründe von vergleichbarem Gewicht“ in § 61 Abs. 1d S. 3 AufenthG, die eine Ausnahme von der Wohnsitzpflicht rechtfertigen, sind nicht lediglich die bereits bestehende Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen iSd § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG, sondern darüber hinaus auch persönliche Bindungen zu anderen Personen außerhalb der Kernfamilie schutzwürdig, soweit diese Bindungen von ihrem Gewicht her den innerhalb der Kernfamilie bestehenden Bindungen vergleichbar sind. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die vorläufige Befreiung von der Residenzpflicht in der zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft sowie die vorläufige Gestattung der Wohnsitznahme bei seiner Verlobten im Wege der einstweiligen Anordnung.
Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsangehöriger. Er stellte am 2. Juni 2015 im Bundesgebiet einen Asylantrag, der mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde.
Die hiergegen erhobene Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 4. Mai 2018 rechtskräftig als offensichtlich unbegründet abgewiesen (Az. W 4 K 17.32286).
Am 29. Juni 2017 wurde dem Antragsteller eine Duldung mit einer Geltungsdauer von einem Monat sowie einer Wohnsitzauflage gemäß § 61 Abs. 1d AufenthG erteilt (S. 125 der Behördenakte). Diese Duldung wurde unter Beibehalten der Wohnsitzauflage am 11. August 2017 bis zum 11. September 2017 verlängert (S. 91 der Behördenakte).
Am 7. September 2017 beantragte der Antragsteller die erneute Verlängerung der Duldung. Dies begründete er u.a. damit, dass er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, einer deutschen Staatsangehörigen, am 24. August 2017 beim Standesamt wegen der beabsichtigten Eheschließung vorgesprochen habe. Dieser Antrag wurde vom Antragsgegner bislang nicht verbeschieden, nachdem der Antragsteller zum 13. September 2017 als untergetaucht bzw. nach „unbekannt“ abgemeldet wurde, nachdem er in der Gemeinschaftsunterkunft nicht angetroffen werden konnte und dem Anschein nach ausgezogen war.
Aufgrund eines am 16. Juni 2018 erlittenen lebensbedrohlichen Myokardinfarktes Typ 2 befand sich der Antragsteller vom 16. bis 25. Juni 2018 in intensivmedizinischer und anschließend vom 25. bis 27. Juni 2018 in stationärer Behandlung im Universitätsklinikum E … Am 28. Juni 2018 ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigte beantragen, ihm eine Duldung wegen Reiseunfähigkeit auszustellen sowie ihn nach E … umzuverteilen bzw. von der Wohnpflicht zu entbinden, da er aufgrund der akuten Erkrankung der Versorgung und Betreuung durch eine Vertrauensperson bedürfe. Die erforderliche Versorgung und Betreuung werde durch seine Verlobte wahrgenommen.
Mit Schreiben vom 21. August 2018 teilte die Verlobte dem Antragsgegner mit (S. 219 der Behördenakte), dass sie beabsichtige, den Antragsteller zu ehelichen. Die erforderlichen Dokumente zur Eheschließung lägen bereits vor und es werde das Verfahren zur Urkundenprüfung eingeleitete, nach dessen Abschluss die Anmeldung zur Eheschließung erfolgen könne. Des Weiteren teilte sie mit, dass sie vom Antragsteller ein Kind erwarte und sich in der 14. Schwangerschaftswoche befinde. Es sei ihr wichtig, dass der Antragsteller die Schwangerschaft und Geburt des Kindes begleiten könne. Außerdem benötige sie aufgrund der schwangerschaftsbedingten Beeinträchtigungen Unterstützung seitens des Antragstellers. Der errechnete Geburtstermin, der sich aus der dem Schreiben beigefügten Terminübersicht ergibt, ist der 21. Februar 2019.
Am 22. August 2018 sprach der Antragsteller bei der Zentralen Ausländerbehörde wegen der Verlängerung seiner Duldung vor. Am 23. August 2018 befand er sich wegen akuter Gesundheitsbeschwerden im … …-Krankenhaus, S … Ab dem 27. August 2018 wurde der Antragsteller der Gemeinschaftsunterkunft in … A …G … zugewiesen (S. 227 der Behördenakte).
Unter dem 4. Oktober 2018 ließ der Antragsteller u.a. gemäß § 123 VwGO beantragen,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorübergehend von der Residenzpflicht in der Gemeinschaftsunterkunft TGU G … A …, zu befreien und dem Antragsteller vorübergehend die Wohnsitznahme in E … E …, zu gestatten.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Antragsteller bereits im Vorfeld der Abmeldung aus der zugewiesenen Unterkunft zum 13. September 2017 mit seiner Verlobten vorgesprochen und mitgeteilt habe, dass er sich gelegentlich bei seiner Verlobten in E … aufhalte. Der Antragsteller sei zu Unrecht abgemeldet worden. Seine persönlichen Gegenstände hätten sich in seinem Zimmer befunden. Ihm sei ohne Ankündigung sein Zimmer vorenthalten worden. Es sei auch auf den bereits gestellten Antrag auf Verlängerung der Duldung hingewiesen und gebeten worden, einen Vorsprachetermin mitzuteilen, insbesondere, weil der Antragsteller nunmehr keine Bleibe mehr in G … gehabt habe und sich gerne in S … wieder neu angemeldet hätte. In der Folgezeit sei keinerlei Rückmeldung des Antragsgegners erfolgt. Am 16. Juni 2018 habe der Antragsteller einen lebensbedrohlichen Myokardinfarkt Typ 2 erlitten und habe intensivmedizinischer Behandlung in E … bedurft. Seit seiner Entlassung aus dem Klinikum bis heute sei der Antragsteller auf die Unterstützung seiner Verlobten angewiesen. Hinzu komme, dass die Verlobte Lehrerin sei und vor diesem Hintergrund zeitlich nur begrenzt abkömmlich sei, um den Antragsteller in einer Gemeinschaftsunterkunft in Bayern versorgen und unterstützen zu können. Der Antragsteller bedürfe allerdings der Versorgung und Betreuung durch eine Vertrauensperson. Nach Entlassung aus dem Krankenhaus habe er zudem einer Medikation bedurft, die in sehr kurzen zeitlichen Intervallen ärztlicherseits zu überprüfen gewesen sei. Hinzu komme, dass der Antragsteller und seine Verlobte ein gemeinsames Kind erwarteten. Die Vaterschaftserklärung stehe beim Jugendamt in E … am 16. Oktober 2018 an. Hinsichtlich der Eheschließung lägen die Ledigkeitsbescheinigung sowie die Geburtsurkunde des Antragstellers vor. Der Antragsteller und seine Verlobte beabsichtigten, die Ehe zu schließen, sobald alle Beglaubigungen vorlägen. Trotz dieser Umstände habe sich der Antragsteller mit seiner Verlobten am 22. August 2018 in der Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber in S … vorgestellt. Aufgrund seines besonders prekären Gesundheitszustandes sei es nicht angezeigt gewesen, in einer Gemeinschaftsunterkunft zu verbleiben. Am 23. August 2018 sei der Gesundheitszustand des Antragstellers derart schlecht gewesen, dass er sich abends in das Krankenhaus … in S … begeben habe. Ausweislich der von dort ausgestellten Bescheinigung seien erhöhte Troponinwerte festgestellt worden (mit Verweis auf das Attest vom 23.8.2018, Anlage 14). Hinzu sei gekommen, dass der Antragsteller keine Medikamente für längere Zeit aus E … habe mitnehmen können, weil diese von Seiten des Arztes alle drei bis vier Tage engmaschig überprüft und dann neu eingestellt werden müssten. Vor diesem Hintergrund sei es angezeigt gewesen, dass der Antragsteller zunächst zusammen mit seiner Verlobten wieder nach E … zurückkehre. Während des gesamten Zeitraumes habe sich der Antragsteller bemüht, seine Verlobte und die Bevollmächtigte auf den bereits gestellten Umverteilungsantrag hinzuweisen und darum gebeten, dass diese bewilligt würden. Am 5. September 2018 habe der Antragsteller sodann in der Gemeinschaftsunterkunft in G … vorgesprochen, welcher er seitens der Zentralen Ausländerbehörde zugewiesen worden sei. Dabei habe er unter Vorlage von Medikamentenplänen, Attesten und sonstigen medizinischen Belegen darauf hingewiesen, welche Arzttermine er in Kürze in E … wahrzunehmen habe. Die Umverteilung bzw. Entbindung von der Residenzpflicht in A … sei jedoch bis heute nicht verbeschieden worden. Aufgrund der prekären gesundheitlichen Situation des Antragstellers könne es ihm nicht weiter zugemutet werden, allein in einer Gemeinschaftsunterkunft mit der dort bestehenden erhöhten Infektionsgefahr zu verbringen. Hinzu komme, dass er alle vier bis sieben Tage nach E … zu seinem behandelnden Arzt wegen der erneuten Einstellung seiner Medikation fahren müsste. Dies stelle kardiologisch eine große Belastung dar. Hinzu komme, dass er auf die Unterstützung seiner Verlobten angewiesen sei. Diese sei in E … nicht abkömmlich. Im Hinblick auf die Einleitung des Urkundenprüfverfahrens zur Eheschließung und in Anbetracht des Umstandes, dass der Antragsteller zudem von seiner Verlobten ein gemeinsames Kind erwarte, welches die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen werde, sei ihm eine Duldung zu erteilen.
Über die gleichzeitig erhobene Klage (Az. W 10 K 18.32091) wurde noch nicht entschieden.
Für den Antragsgegner erwiderte die Regierung von …, Zentrale Ausländerbehörde, mit Schreiben vom 11. Oktober 2018, die Unterbringung von Asylbewerbern, Umverteilung und Gestattung des Auszugs aus einer Gemeinschaftsunterkunft in eine Privatwohnung richte sich nach dem Aufnahmegesetz bzw. nach der DV-Asyl. Zuständig für den Vollzug dieser Rechtsvorschriften im Rahmen des Aufnahmegesetzes und der DV-Asyl sei die Regierung von …, Sachgebiet 14, und nicht die Zentrale Ausländerbehörde. Insoweit wäre das Sachgebiet 14 Antragsgegner bzw. Beklagter.
Unter dem 16. Oktober 2018 ließ der Antragsteller mitteilen, dass die Anerkennung der Vaterschaft des ungeborenen Kindes bevorstehe. Des Weiteren legte er Ablichtungen der erforderlichen Dokumente zur Eheschließung (Ledigkeitsbescheinigung, Geburtsurkunde) vor. Mit Schriftsatz der Antragstellerbevollmächtigten vom 23. November 2018 wurden weitere ärztliche Bescheinigungen vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in der Sache keinen Erfolg, weil dem Antragsteller der erforderliche Anordnungsanspruch nicht zusteht.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Anordnungsanspruch) und es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.
1. Dem Antragsteller steht kein Anordnungsanspruch auf vorübergehende Befreiung von der Pflicht zur Wohnsitznahme zu. Im Falle des Antragstellers folgt die Residenzpflicht aus § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG. Danach ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, dessen Lebensunterhalt (§ 2 Abs. 3 AufenthG) nicht gesichert ist, verpflichtet, an einem bestimmten Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen. Da diese sogenannte Wohnsitzauflage nicht als Nebenbestimmung im Sinne des Art. 36 BayVwVfG zur Duldung erlassen wird, sondern einen eigenständigen Verwaltungsakt darstellt (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AufenthG, § 61 Rn. 9), wirkt die räumliche Beschränkung über die Geltungsdauer der Duldung hinweg bis zu ihrer Änderung oder Aufhebung fort. Anderenfalls könnte sich ein Ausländer der Wohnpflicht entziehen, indem er keine Verlängerung seiner Duldung mehr beantragt (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Rn. 9 zu § 61 AufenthG). Dagegen kann die räumliche Beschränkung vorliegend nicht (mehr) auf § 59a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestützt werden. Zwar bleiben nach dieser Vorschrift räumliche Beschränkungen auch nach Erlöschen der Aufenthaltsgestattung des Asylverfahrens in Kraft, bis sie aufgehoben werden. Dem Antragsteller, dessen Aufenthaltsgestattung gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG mit dem Eintritt der Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes erloschen ist, wurde aber am 29. Juni 2017 eine Duldungsbescheinigung mit Wohnsitzauflage gemäß § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG ausgestellt. Damit ist diese Vorschrift vorrangig gegenüber der allgemeinen Residenzpflicht nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Bergmann/Dienelt a.a.O.). Dies dürfte auch für das Verhältnis zu § 12 Abs. 5 AufenthG gelten. Ein Fall des Erlöschens der räumlichen Beschränkung gemäß § 61 Abs. 1b AufenthG liegt nicht vor, weil sich der Antragsteller nicht seit drei Monaten ununterbrochen erlaubt, geduldet oder gestattet im Bundesgebiet aufhält. Denn die Duldung des Antragstellers wurde nach dem Ablauf der letzten Duldungsbescheinigung am 11. September 2017 nicht mehr verlängert.
a) Die Residenzpflicht besteht, soweit die Ausländerbehörde nichts anderes bestimmt hat, an dem Wohnort, an dem der Ausländer zum Zeitpunkt der Entscheidung über die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gewohnt hat (§ 61 Abs. 1d Satz 2 AufenthG). Dem Antragsteller wurde allerdings mit Bescheid der Regierung von …, Zentrale Ausländerbehörde Bayern (ZAB) vom 23. August 2018 ein anderer Wohnsitz zugewiesen, nämlich die TGU G … in A … Dort hat der Antragsteller seinen Wohnsitz zu nehmen. Soweit der Antragsteller diesen ihm zugewiesenen Wohnsitz vorübergehend verlassen möchte, bedarf er hierfür gemäß § 61 Abs. 1d Satz 4 AufenthG im Übrigen keiner Erlaubnis (Bergmann/Dienelt a.a.O.).
b) Gemäß § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG kann die Ausländerbehörde die Wohnsitzauflage von Amts wegen oder auf Antrag des Ausländers ändern; hierbei sind die Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht zu berücksichtigen. Es handelt sich um eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen der Antragsgegner die im Streit stehenden privaten und öffentlichen Interessen gegeneinander abzuwägen hat. Dem privaten Interesse an der (hier vorübergehenden) Aufhebung der Wohnsitzpflicht stehen erhebliche öffentliche Interessen entgegen. Durch Wohnsitzauflagen soll eine gerechte Verteilung der mit dem Zuzug von Ausländern verbundenen Lasten auf die Gemeinden sichergestellt werden (vgl. OVG NRW, B.v. 10.3.2010 – 18 B 1702/09 – juris Rn. 34). Die Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe der „sonstigen humanitären Gründe von vergleichbarem Gewicht“ in § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG, welche eine Ausnahme von der Wohnsitzpflicht rechtfertigen, hat in Einklang mit den Wertungen des Grundgesetzes, insbesondere des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GG, des Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) sowie des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu erfolgen. Vor diesem verfassungs-, unions- und konventionsrechtlichen Hintergrund sind nicht lediglich die bereits bestehende Haushaltsgemeinschaft von Familienangehörigen i.S. des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG, sondern darüber hinaus auch persönliche Bindungen zu anderen Personen außerhalb der Kernfamilie schutzwürdig, soweit diese Bindungen von ihrem Gewicht her den innerhalb der Kernfamilie bestehenden Bindungen vergleichbar sind (vgl. Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Rn. 5 zu § 61 AufenthG; Rn. 5 zu § 53 AsylG). Dies umfasst gegebenenfalls auch die (erstmalige) Herstellung der Familieneinheit (Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 61 Rn. 72; Bergmann/Dienelt a.a.O.). Deshalb gilt auch für die vergleichbare Situation des länderübergreifenden Wohnsitzwechsels zur Herstellung oder Wahrung der Familieneinheit, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 GG es der für den vorgesehenen Aufenthaltsort zuständigen Ausländerbehörde verbieten, den Ausländer auf die Herstellung der Familieneinheit in einem anderen Bundesland zu verweisen, es sei denn, eine Ausländerbehörde dieses Bundeslandes hat verbindlich ihre Bereitschaft zur Aufnahme der gesamten Familie erklärt oder deren dahingehende Verpflichtung ist verbindlich, etwa durch ein Verwaltungsgericht, festgestellt worden (OVG NRW, B.v. 29.11.2005 – 19 B 2364/03 – juris). Diese für den länderübergreifenden Wohnsitzwechsel geltenden Grundsätze sind erst recht heranzuziehen, soweit es wie vorliegend lediglich um eine vorübergehende Befreiung von der Residenzpflicht nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG geht (für deren Änderung allerdings die Ausländerbehörde des bisherigen Wohnsitzes zuständig ist, vgl. Bergmann/Dienelt a.a.O., Rn. 9).
c) Gemessen an diesen Grundsätzen liegen dringende familiäre Gründe für eine vorläufige Befreiung von der räumlichen Beschränkung des Antragstellers jedoch nicht vor.
Zwar beabsichtigt der Antragsteller nach seinen Bekundungen und den Aussagen seiner derzeitigen Lebensgefährtin, diese zu ehelichen. Seine Verlobte hat in E … ihren Wohnsitz sowie ihren Lebensmittelpunkt und ist dort als Lehrerin berufstätig. Die Zusammenführung mit dem künftigen Ehepartner zur Eheschließung kann einen von Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG geschützten familiären Belang von verfassungsrechtlichem Rang darstellen, welcher im Rahmen der Befreiung von der Wohnsitzpflicht zu berücksichtigen ist (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, § 61 Rn. 72; Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, Rn. 5 zu § 61 AufenthG). Die Eheschließung steht aber im Falle des Antragstellers noch nicht unmittelbar bevor. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragstellers und seiner Verlobten wurden zwar bereits für die Eheschließung notwendige Unterlagen (Ledigkeitsbescheinigung, Geburtsurkunde) dem zuständigen Standesamt vorgelegt und das Urkundenprüfverfahren eingeleitet. Ablichtungen dieser Dokumente hat der Antragsteller sowohl bei der Ausländerbehörde als auch im gerichtlichen Verfahren vorgelegt (S. 201 ff. der Ausländerakte). Es geht daraus jedoch weder hervor, ob die Urkundenprüfung bereits abgeschlossen ist, noch, ob das Standesamt die vorgelegten Urkunden als ausreichend erachtet. Wie die Verlobte des Antragstellers in ihrer Bekräftigung (S. 219 der Behördenakte) ausführt, wird die Anmeldung der Eheschließung nach Abschluss des Urkundenprüfverfahrens erfolgen. Da somit die Eheschließung noch nicht unmittelbar bevorsteht, kann (derzeit) noch kein hohes Schutzinteresse des Antragstellers an der Herstellung der Familieneinheit mit seiner künftigen Ehefrau festgestellt werden.
Dieselben Erwägungen gelten im Hinblick auf die beabsichtigte Herstellung der Familieneinheit mit dem erwarteten Kind. Da derzeit nicht feststeht, dass es sich bei dem ungeborenen Kind – wie der Antragsteller und seine Verlobte vortragen – um ein gemeinsames Kind handelt, weil weder die natürliche Vaterschaft des Antragstellers nachgewiesen noch die rechtliche Vaterschaft schon durch Anerkennung begründet wurde, vermag dieser Gesichtspunkt das öffentliche Interesse an der Wohnsitzverpflichtung derzeit nicht zu überwiegen.
Dass der Antragsteller die Befreiung von der Wohnsitzauflage auch im Hinblick auf die Unterstützung der Verlobten während ihrer Schwangerschaft begehrt, ist zwar nachvollziehbar. Dieser Gesichtspunkt vermag jedoch, für sich genommen, unter den oben genannten Umständen (Eheschließung nicht unmittelbar bevorstehend, Vaterschaft nicht feststehend) nicht zur Annahme einer nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK zu schützenden familiären Schutz- und Beistandsgemeinschaft führen.
d) Des Weiteren ist nicht glaubhaft gemacht, dass die vom Antragsteller vorgetragenen und durch ärztliche Atteste belegten Erkrankungen (insbesondere Zustand nach akutem Myokardinfarkt Typ 2) die Anwesenheit des Antragstellers in E … zwingend erfordern. Zwar wird in den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen ein fortbestehender engmaschiger Beobachtungs- und Behandlungsbedarf geltend gemacht, es ist ihnen jedoch nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zu entnehmen, dass die erforderlichen Untersuchungen und Behandlungen zwingend in E … erfolgen müssen und nicht ebenso gut am Ort der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung des Antragstellers (Großraum Würzburg) erfolgen könnten. Der Antragsteller kann einen Behandlungsschein für Asylbewerber nach § 4 AsylbLG beantragen, der in Anbetracht des dargelegten Behandlungsbedarfs mit hoher Wahrscheinlichkeit auch erteilt werden würde.
Bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 61 Abs. 1d Satz 3 AufenthG vorzunehmenden Abwägung sind unter anderem auch dem Ausländer durch die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft drohende oder bereits eingetretene gesundheitliche Schäden von besonderem Gewicht (vgl. VG Freiburg (Breisgau), U.v. 18.12.2003 – 1 K 2104/02 – juris Rn. 12). Insoweit ist im Attest vom 15. November 2018 der Gemeinschaftspraxis Dres. med. …, E …, ausgeführt, dass eine Unterbringung des Antragstellers in einer Gemeinschaftsunterkunft aus medizinischen Gründen nicht zu verantworten sei. Damit ist jedoch nicht dezidiert dargelegt, weshalb die gesundheitlichen Gründe der Unterbringung in der Gemeinschaftsunterkunft entgegenstehen (vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, B.v. 25.1.2018 – 11 B 1/18 – juris Rn. 42). Dies gilt auch für die vorgelegten Atteste älteren Datums. Die ärztliche Bescheinigung vom 27. August 2018 (S. 241 der Behördenakte), in der von einer unzureichenden Unterbringungssituation gesprochen wird, bezieht sich auf eine damals erlittene akute Belastungssituation des Antragstellers und ist daher im vorliegenden Verfahren nicht mehr verwertbar. Zwar bescheinigen spätere Atteste eine Chronifizierung der psychischen Belastung (vgl. Akte des Verfahrens W 10 E 18.32095). Auch daraus geht jedoch nicht hervor, aus welchen Gründen und unter welchen Umständen dem Antragsteller die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft aus medizinischen Gründen unzumutbar sein soll.
Nach alledem war der Antrag abzulehnen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.


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