Verwaltungsrecht

Keine Duldung bei nicht glaubhaft gemachter Vater-Kind-Beziehung

Aktenzeichen  10 CE 21.2580

Datum:
11.11.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 41322
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
EMRK Art. 8
GG Art. 6
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Abschiebung kann nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK aus familiären Gründen rechtlich unmöglich sein, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einer ausländischen Person und ihrem – insbesondere noch sehr kleinen – Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet hat umso eher zurückzustehen, je gewichtiger das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet ist; diesem Aspekt kommt umso größere Bedeutung zu, je mehr das öffentliche Interesse nicht allein auf einwanderungspolitische Erwägungen, sondern darüber hinaus auf das Sicherheitsinteresse des Staates zurückzuführen ist. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse eines Ausländers können die Verwaltungsgerichte eine Wiederholungsgefahr nur dann abweichend von einer vorangehenden Strafaussetzungsentscheidung einer Strafvollstreckungskammer bejahen, wenn sie über eine breitere Tatsachengrundlage verfügen als erstere. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 9 E 21.4598 2021-09-14 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. In Abänderung von Nr.
III. des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 14. September 2021 wird der Streitwert für beide Instanzen jeweils auf 1.250 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag weiter, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm einstweilen wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung aufgrund familiärer Bindungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK jedenfalls eine Duldung bis zum sechsten Lebensmonat seines im Bundesgebiet geborenen deutschen Sohnes zu erteilen.
Der Antragsteller, ein am 22. November 1990 im Bundesgebiet geborener kosovarischer Staatsbürger, ist vielfach − überwiegend wegen Eigentums- und Gewaltdelikten − vorbestraft. Die Eintragungen im Zentralregister reichen zurück bis in das Jahr 2006.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 29. Januar 2013 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den Antragsteller nach § 53 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG a.F. aus dem Bundesgebiet aus (Nr. 1), befristete die Wirkung der Ausweisung auf sechs Jahre nach erfolgter Ausreise oder Abschiebung (Nr. 2), wobei es bestimmte, dass der Lauf der Frist gehemmt beziehungsweise unterbrochen wird bei unerlaubter Einreise vor Fristablauf und unerlaubtem Aufenthalt und sich die Frist nach Nr. 2 um die Zeit des unerlaubten Aufenthalts verlängert. Anlass war die − unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgericht Böblingen vom 21. Juni 2012 – am 18. Juli 2012 ergangene Verurteilung des Landgerichts Stuttgart zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen schwerer räuberischer Erpressung (im Folgenden: Bescheid v. 29.1.2013). Nach erfolgloser Durchführung eines Asylverfahrens wurde der Antragsteller am 9. Juli 2014 aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Im Frühjahr 2015 reiste er jedoch wieder in das Bundesgebiet ein.
Mit rechtskräftigem Urteil vom 8. Januar 2018 verurteilte das Landesgericht München I den Antragsteller − unter anderem − wegen unerlaubter Einreise nach Ausweisung und Abschiebung, schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren unter Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB ab dem 2. April 2019.
Mit Bescheid vom 10. Juli 2021 änderte die Antragsgegnerin das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Nr. 2 des Bescheides vom 29. Januar 2013 dahingehend ab, dass sie dieses unter der Bedingung nachgewiesener Straf- und Drogenfreiheit auf sieben Jahre und, wenn diese Bedingung nicht erfüllt wird, auf neun Jahre befristete, jeweils ab erneuter Ausreise beziehungsweise Abschiebung (Nr. 1), und ordnete die Abschiebung in den Kosovo nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht im Vollzug des Bescheides vom 29. Januar 2013 aus der Haft beziehungsweise aus der Unterbringung unter Fristsetzung von zwei Wochen an (Nr. 2).
Am 24. August 2020 ehelichte der Antragsteller während der Unterbringung in der Entziehungsanstalt eine deutsche Staatsangehörige (im Folgenden: Ehefrau).
Mit Beschluss vom 3. März 2021 setzte das Landgericht Deggendorf die Vollstreckung der weiteren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und des Restes der Freiheitsstrafe von sechs Jahren aus dem Urteil des Landgerichts München I vom 8. Januar 2018 aus (Nr. 1), setzte die Dauer der kraft Gesetzes eintretenden Führungsaufsicht sowie der Bewährungszeit auf fünf Jahre fest (Nr. 2), unterstellte den Antragsteller für diese Dauer der örtlich zuständigen Führungsaufsichtsstelle und dem örtlichen Bewährungshelfer (Nr. 3), erteilte dem Antragsteller für diese Dauer eine Reihe von strafbewehrten Weisungen – zugleich als Bewährungsweisungen − gemäß § 68b Abs. 1 StGB (Nr. 4) und weitere Weisungen – ebenfalls zugleich als Bewährungsweisungen − gemäß § 68b Abs. 2 StGB (Nr. 5).
Am 24. März 2021 wurde der Antragsteller aus der Entziehungsanstalt entlassen.
Am … 2021 wurde der Sohn des Antragstellers geboren, der ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
Am 15. Juli 2021 beantragte der Antragsteller bei der Antragsgegnerin, ihm einstweilen eine Duldung bis zum sechsten Lebensmonat seines im Bundesgebiet geborenen deutschen Sohnes zu erteilen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf ein Jahr nach erfolgter Ausreise zu verkürzen und bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Duldungsantrag die Ausreisefrist zu verlängern. Mit dem Antrag gelangte auch eine in der Antragsschrift erwähnte Erklärung der Ehefrau vom 8. Juli 2021 zu den Akten.
Mit E-Mail vom 12. August 2021 lehnte die Antragsgegnerin eine Verlängerung der Ausreisefrist ab, und forderte den Antragsteller auf, bis zum 13. August 2021 ein Flugticket mit einer Ausreise aus dem Bundesgebiet bis zum 30. August 2021 vorzulegen.
Ausweislich der Mitteilung der Staatsanwaltschaft Landshut vom 20. August 2021 ist gegen den Antragsteller ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubten Handels von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge im Sinne von § 29a BtMG anhängig.
Mit Telefax vom 30. August 2021 hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht beantragt, ihm einstweilen eine Duldung zu erteilen, hilfsweise die Ausreisefrist zu verlängern. Zur Begründung führt er unter anderem an, dass er sich in den ersten Lebensmonaten um seinen Sohn und seine Ehefrau kümmern wolle.
Mit Beschluss vom 14. September 2021 hat das Verwaltungsgericht den Eilantrag des Antragstellers abgelehnt. Ein Anordnungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehe nicht, weil das öffentliche Interesse an dem Vollzug der Ausweisung aufgrund der von dem Antragsteller ausgehenden Gefahren der Begehung von Straftaten − auch unter Berücksichtigung des Schutzes von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK − höher zu gewichten sei als dessen Interesse, aufgrund der familiären Beziehungen im Bundesgebiet zu verbleiben.
Mit Telefax vom 7. Oktober 2021 hat der Antragsteller hiergegen Beschwerde erhoben und beantragt,
ihm – unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 14. September 2021 – einstweilen, jedenfalls bis zur Beendigung des sechsten Lebensmonats seines Kindes, eine Duldung zu erteilen.
Zur Begründung führt die Antragstellerseite an, dass das Verwaltungsgericht zwei gewichtige Punkte übersehen habe. Zum einen möge zwar der Ehegattin entgegengehalten werden können, dass diese sich sehenden Auges in eine Beziehung und eine Ehe hineinbegeben habe, die bis auf Weiteres nicht dauerhaft im Bundesgebiet geführt werden könne. Dies gelte jedoch nicht für das gemeinsame Kind. Dieses habe sich die Situation nicht ausgesucht. Die Entscheidung der Mutter könne ihm nicht zugerechnet werden. Vielmehr habe das Kind in diesem Alter ein Recht aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auf Anwesenheit beider Elternteile. Der Antragsteller sei für dieses sorgeberechtigt, lebe mit diesem in familiärer Lebensgemeinschaft und übe das Sorgerecht für das Kind tatsächlich aus. Zum anderen habe das Verwaltungsgericht übersehen, dass das Landgericht die Vollstreckung der weiteren Unterbringung in einer Entziehungsanstalt sowie den Rest der Freiheitsstrafe von sechs Jahren ab dem 24. März 2021 auch auf Antrag der Staatsanwaltschaft zur Bewährung ausgesetzt habe. Der Antragsteller habe seine Unterbringung erfolgreich abgeschlossen und sich seither straffrei verhalten. Das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Aufenthaltsbeendigung müsse hinter dem Anspruch des Kindes auf die Anwesenheit des Antragstellers zurückstehen.
Mit Schreiben vom 4. November 2021 hat die Antragsgegnerin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Mit Schriftsatz vom 9. November 2021 hat die Antragstellerseite ihr Vorbringen dahingehend ergänzt, dass aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit von Mutter und Kind die familiäre Lebensgemeinschaft nur in Deutschland geführt werden und daher einwanderungspolitische Belange zurückstehen müssten. Es sei maßgeblich aus Sicht des Kindes im Einzelfall zu prüfen, ob eine tatsächliche persönliche Verbundenheit bestehe. Der Antragsteller lebe mit seiner Ehefrau und seinem wenige Monate alten Kind in familiärer Lebensgemeinschaft, er erziehe und betreue es mit seiner Ehefrau gemeinsam, und es bestehe mit diesem eine enge Bindung. Wie bereits gegenüber der Antragsgegnerin nachgewiesen worden sei, sei die Ehefrau auf Erziehungs- und Betreuungsleistungen angewiesen. Die Antragsgegnerin habe in dem Telefax vom 16. Juli 2021 die Entscheidung über den Antrag auf Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots davon abhängig gemacht, ob der Antragsteller seiner Ausreisepflicht nachkomme. Das aktuelle siebenjährige beziehungsweise neunjährige Einreise- und Aufenthaltsverbot habe eine unverhältnismäßige und unzumutbare Trennung des Antragstellers von seinem Kind zur Folge.
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Überprüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt es nicht, eine von dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 14. September 2021 abweichende Entscheidung zu treffen. Der Antragsteller hat den erforderlichen Anordnungsanspruch auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung beziehungsweise auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise dargelegt und glaubhaft gemacht. Es ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht die Voraussetzungen hierfür als nicht erfüllt angesehen hat.
Der Antragsteller hat keine Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht, die nahelegen würden, dass die Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen Unvereinbarkeit mit den unter dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und des Art. 8 Abs. 1 EMRK stehenden familiären Bindungen im Bundesgebiet rechtlich unmöglich ist.
a) Eine Abschiebung kann nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK aus familiären Gründen rechtlich unmöglich sein, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einer ausländischen Person und ihrem – insbesondere noch sehr kleinen – Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, jedoch verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, dies bedeutet entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; B.v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. − BVerfGE 76, 1 = juris Rn. 103; B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 – BVerfGE 80, 81 = juris Rn. 39). Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen. Eine gelebte Vater-Kind-Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass wesentliche Fürsorge- und Betreuungsleistungen erbracht werden, die im Verfahren ausführlich vorgetragen sein müssen (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 18 u. Rn. 21).
Allerdings hat das Interesse des Ausländers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet umso eher zurückzustehen, je gewichtiger das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet ist. Diesem Aspekt kommt umso größere Bedeutung zu, je mehr das öffentliche Interesse nicht allein auf einwanderungspolitische Erwägungen, sondern darüber hinaus auf das Sicherheitsinteresse des Staates zurückzuführen ist (vgl. Art. 8 Abs. 2 EMRK). Dies betrifft insbesondere Fälle, in denen der betreffende Ausländer im Bundesgebiet in erheblichem Umfang Straftaten begangen und dabei eine hohe Aggressivität bewiesen hat und gleichzeitig eine erhebliche Gefahr erneuter Straffälligkeit besteht (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2021 – 10 CE 21.1834 – juris Rn. 9). Familiäre Belange setzen sich also nicht stets gegenüber gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23). Es gibt keinen unbedingten Vorrang des Kindeswohls vor entgegenstehenden öffentlichen Interessen (vgl. zu Art. 8 EMRK u. Art. 24 Abs. 2 EU-GR-Charta: BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65/19 – juris Rn. 7). Insbesondere aber dann, wenn die Geburt eines Kindes eine „Zäsur“ in der Lebensführung des betroffenen Ausländers darstellt, die in Anbetracht aller Umstände erwarten lässt, dass er bei weiterem Aufenthalt keine (erheblichen) Straftaten mehr begehen wird, kommt ein Vorrang gegenüber den gegen einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet sprechenden Gründen in Betracht (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23).
Ob die (geplante) Abschiebung zu einer unzumutbaren Familientrennung und damit einem unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG beziehungsweise Art. 8 Abs. 1 EMRK führen würde, ist grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16).
b) Gemessen an den vorgenannten Anforderungen fehlt es im vorliegenden Fall bereits an der hinreichenden Darlegung und Glaubhaftmachung einer gelebten Vater-Kind-Beziehung.
Für die Annahme einer solchen Beziehung kann zwar das Zusammenleben in einer Wohnung sprechen. Dies dürfte auch dann der Fall sein, wenn der betroffene Ausländer sich damit rechtswidrig verhält – wie nach den unwidersprochenen Angaben der Antragsgegnerin hier der Antragsteller, der objektiv während der Führungsaufsicht gegen eine bestimmte Weisung der in § 68b Abs. 1 StGB bezeichneten Art sowie gegen eine weitere Weisung nach § 68b Abs. 2 StGB verstoßen hat (vgl. § 68b Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 StGB i.V.m. § 145a Satz 1 StGB u. § 68b Abs. 2 StGB, vgl. Senatsakte, Bl. 7 f.) −, indem er dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt nimmt. Das Zusammenleben ist indes nur ein Indiz und lässt nicht ohne Weiteres auf die tatsächliche Erbringung von substantiellen Fürsorge- und Betreuungsleistungen und eine emotionale Bindung schließen. Diesbezüglich hat der Antragsteller weder im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht noch im Beschwerdeverfahren vor dem Senat − trotz entsprechender Einwände der Antragsgegnerin − die Gelegenheit genutzt, sein Vorbringen zu substantiieren. Das Vorbringen des Antragstellers beschränkt sich insoweit lediglich auf Schlagworte und Versatzstücke der Obersätze aus der geschilderten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Die Antragstellerseite verkennt dabei jedoch, dass es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich auf einen substantiierten Sachvortrag mit Angaben zu den konkreten Umständen und den individuellen Personen ankommt (s.o., vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 21: „ausführlich vorgetragenen Lebensumstände“), der zudem in einer prozessualen Situation wie der vorliegenden nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen ist.
Das Vorbringen des Antragstellers entbehrt jeglicher konkreter Angaben dazu, worauf die geltend gemachte Vater-Kind-Beziehung zwischen dem Antragsteller und dessen Sohn fußen soll. Fürsorge- und Betreuungsleistungen und auch eine emotionale Bindung finden darin keine Erwähnung (vgl. im Gegensatz dazu: BayVGH, B.v. 19.7.2021 – 10 CE 21.2021 – juris Rn. 4 u. 10).
Erst recht mangelt es an einer Glaubhaftmachung der erforderlichen Angaben, etwa durch die Vorlage von eidesstattlichen Versicherungen, insbesondere der Mutter des Kindes, oder von Dokumenten mit entsprechenden Beobachtungen von dritter Seite. Dies ist insbesondere nicht durch die (einfache) Erklärung der Ehefrau des Antragstellers vom 8. Juli 2021 geschehen. Diese besteht lediglich aus vier Sätzen. Die ersten zwei Sätze beinhalten allein die Geburtsmitteilung und die Bitte, die Abschiebung des Antragstellers zu verhindern. Der dritte und der vierte Satz sind hinsichtlich der erforderlichen Angaben nicht aussagekräftig (vgl. Behördenakte, Bl. 922: „Da es unter anderem bei der Geburt zur Komplikationen gekommen sei, bin ich auf die Unterstützung meines Mannes angewiesen. Es wäre gut, einen Aufschub von mindestens sechs Monaten zu bekommen“). Die erwähnten Komplikationen werden weder benannt noch präzisiert noch sind sie überhaupt in irgendeiner Form dokumentiert. Was mit „Unterstützung“ gemeint ist, bleibt im Dunkeln.
c) Nicht durchdringen kann die Antragstellerseite zudem mit dem Vorbringen, der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. März 2021 habe das im Rahmen von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigende und dem geltend gemachten Bleibeinteresse entgegenstehende Sicherheitsinteresse, mithin die Gefahr von Rechtsgutsverletzungen durch weitere Straftaten des Antragstellers, entfallen lassen.
aa) Zwar kommt einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer grundsätzlich eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Dabei haben strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen, durch die – wie im vorliegenden Fall – unter anderem auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen positiver Prognose (vorläufig) beendet wird, eine der Strafrestaussetzungsentscheidung vergleichbare Bedeutung (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 9). Die Verwaltungsgerichte sind für die Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr daran jedoch nicht gebunden, eine Abweichung von der strafgerichtlichen Entscheidung bedarf allerdings einer substantiierten Begründung. Bei einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse eines Ausländers können die Verwaltungsgerichte eine Wiederholungsgefahr nur dann abweichend von einer vorangehenden Strafaussetzungsentscheidung einer Strafvollstreckungskammer bejahen, wenn sie über eine breitere Tatsachengrundlage verfügen als erstere (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 − 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21 u. Rn. 24).
Dabei sind auch der beschränkte Zeithorizont und der beschränkte Zweck der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und damit auch des Gegenstücks, der Aussetzung der Maßregel, zu berücksichtigen. Die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ergeht nach § 64 Satz 2 StGB nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Abs. 1 Satz 1 oder 3 StGB zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen. Eine derartige Anordnung zielt daher nicht darauf ab, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Aussetzung der Maßregel nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB genügt die Erwartung, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Hierfür ist ausreichend, wenn für eine relativ kurze Zeitspanne − im Vergleich zu dem aufenthaltsrechtlichen Prognosehorizont − die konkrete Aussicht besteht, unter Eingehung eines vertretbaren Risikos, dass die betroffene Person Straftaten unterlassen wird. Die Anforderungen hieran (u. an eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung) sind aus Gründen der Strafzwecke und der Verhältnismäßigkeit geringer als an eine aufenthaltsrechtliche Gefahrenprognose (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 9 m.w.N.).
Solange sich der Ausländer nicht zumindest über einen gewissen Zeitraum, der in das Verhältnis zu setzen ist zu der Historie der Straftaten, außerhalb des Strafbeziehungsweise Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, B.v. 31.1.2019 – 10 ZB 18.1534 – juris Rn. 13; B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12).
bb) Gemessen an den vorgenannten Maßstäben hat der Antragsteller mit dem Verweis auf den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. März 2021 kein Entfallen der Wiederholungsgefahr dargetan und glaubhaft gemacht.
Dass bei den Strafvollstreckungskammern und den Verwaltungsgerichten unterschiedliche Prognosemaßstäbe gelten und Anwendung finden, kommt bereits in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. März 2021 zum Ausdruck (vgl. LG Deggendorf, B.v. 3.3.2021, S. 4: „Weitere Verbesserungen seien im Falle einer weiteren Unterbringung nicht mehr zu erwarten“). Dazu ist zu berücksichtigen, dass die Strafvollstreckungskammer im vorliegenden Fall die zulässige Dauer der Führungsaufsicht von maximal fünf Jahren vollends ausgeschöpft und sie nicht verkürzt hat (vgl.§ 68c Abs. 1 Satz 1 StGB: „höchstens fünf Jahre“). Dabei hat sie den Antragsteller engmaschigen strafbewehrten und weiteren Weisungen unterworfen. Der Antragsteller steht auch erkennbar noch unter dem Druck der Führungsaufsicht und der Bewährung. Dies hat seinen Niederschlag in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 3. März 2021 gefunden (vgl. LG Deggendorf, B.v. 3.3.2021, S. 4: „Kontrollmöglichkeiten im Fall einer bedingten Entlassung seien … durch die Bewährungshilfe … gegeben“). Es ist vor dem Hintergrund der langjährigen massiven Straffälligkeit und auch des langjährigen Drogenkonsums (vgl. Behördenakte, Bl. 998 f.) noch kein ausreichend langer Zeitraum außerhalb des Maßregelvollzugs verstrichen, um hinreichend sicher beurteilen zu können, ob der Antragsteller tatsächlich den erforderlichen Einstellungswandel vollzogen hat. Zum einen liegt die Entlassung aus der Unterbringung erst siebeneinhalb Monate zurück. Zum anderen fehlt es insoweit auch gänzlich an einem hinreichend substantiierten Vorbringen im Beschwerdeverfahren. Für einen Einstellungswandel oder eine Zäsur im Leben des Antragstellers fehlen nachvollziehbare Anhaltspunkte.
Wie die Antragsgegnerin im Übrigen zutreffend ausgeführt hat, ist die Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss selbst nicht davon ausgegangen, dass bislang eine vollumfängliche Resozialisierung des Antragstellers habe angestoßen werden können (vgl. LG Deggendorf, B.v. 3.3.2021, S. 4).
Laut der Beschwerdeerwiderung der Antragsgegnerin, die von Antragstellerseite unwidersprochen geblieben ist, hat dieser unmittelbar nach seiner Entlassung aus der Unterbringung im Hinblick auf den Wohnsitz den Weisungen Nrn. 4.b) und 5.a) des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer vom 3. März 2021 zuwidergehandelt (s.o.). Dazu enthalten die von der Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren vorgelegten Auskünfte aus der Vorgangsverwaltung der Bayerischen Polizei (IGVP), zu denen sich die Antragstellerseite auch nicht eingelassen hat, einen Eintrag zu einem bis zum 28. April 2021 dauernder Vorgang im Zusammenhang mit Schwarzarbeit (vgl. Senatsakte, Bl. 41).
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass laut der Mitteilung der Staatsanwaltschaft Landshut vom 20. August 2021, welche das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss verwertet hat (vgl. BA S. 3 u. S. 6), und laut der Beschwerdeerwiderung der Antragsgegnerin ein Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller wegen des Verdachts des Handeltreibens in nicht geringen Mengen mit Kokain noch anhängig ist (vgl. Senatsakte, Bl. 33). Dem hat die Antragstellerseite nichts entgegengesetzt.
cc) Nicht durchdringen kann die Antragstellerseite vor diesem Hintergrund auch mit dem Vorbringen, dass die Versagung der Duldung unverhältnismäßig und damit unzumutbar wäre und die Antragsgegnerin die Verbescheidung des Antrags auf Verkürzung der Sperrfrist von der freiwilligen Ausreise abhängig gemacht habe. Die Antragstellerseite setzt sich nicht hinreichend mit dem zu berücksichtigenden Sicherheitsinteresse auseinander, darunter dem Umstand, dass der Antragsteller im Bereich der Eigentums- und Gewaltdelikte mehrfach vorbestraft ist und insgesamt zu Jugend- und Freiheitsstrafen von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden ist. Abgesehen von den vorgenannten Erwägungen zu dem Vorliegen einer gelebten Vater-Kind-Beziehung (s.o.) unterscheidet sich damit der dem vorliegenden Beschwerdeverfahren zugrundeliegende Sachverhalt maßgeblich von dem für die Entscheidung der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts anlassgebende Sachverhalt, bei dem der Betroffene lediglich (einmalig) zu einer Freiheitsstrafe von lediglich einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden war (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 2).
Die Versagung der Duldung ist daher angesichts aller Umstände (s.o.) bei Abwägung der betroffenen Interessen nicht unverhältnismäßig und unzumutbar. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller Betretenserlaubnisse beantragen kann und auch durchaus Besuche der Ehefrau mit dem Kind im Kosovo möglich sind.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass nach § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG bei der Entscheidung über die Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu berücksichtigen ist, ob der Ausländer seiner Ausreisepflicht innerhalb der ihm gesetzten Ausreisefrist nachgekommen ist, es sei denn, der Ausländer war unverschuldet an der Ausreise gehindert oder die Überschreitung der Ausreisefrist war nicht erheblich. Der Gesetzgeber hat das Berücksichtigungsgebot des § 11 Abs. 4 Satz 3 AufenthG durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 mit Wirkung zum 21. August 2019 eingeführt (vgl. BGB I 1294 ). Diese Bedingung setzt Art. 11 Abs. 3 der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (vgl. ABl. EU L 348 S. 98 ff.) um (vgl. BT-Drs. 179/19, S. 28). Demgemäß wird die Antragsgegnerin ihr Ermessen nach § 11 Abs. 4 Satz 3 in Verbindung mit Satz 1 AufenthG ordnungsgemäß auszuüben (vgl. Behördenakte, Bl. 930), darunter − neben der Art der Ausreise − auch die nunmehr begründete Stellung des Antragstellers als Ehemann und Vater zu berücksichtigen haben.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
3. Die den Beschluss des Verwaltungsgerichts abändernde Streitwertfestsetzung beruht auf dem Umstand, dass das Begehren des Antragstellers im Eilrechtsschutzverfahren auf die Erteilung einer Duldung gerichtet ist. Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 sowie § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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