Verwaltungsrecht

Keine Möglichkeit einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für Familie mit minderjährigen Kindern in Afghanistan

Aktenzeichen  M 2 K 17.36531

Datum:
22.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 7571
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Auch in der Zusammenschau mit den potentiellen Erwerbsmöglichkeiten des Ehemannes und Vaters, dessen Asylverfahren anderweitig anhängig ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Familie mit minderjährigen Kindern in Afghanistan die Grundsicherung der elementaren Lebensbedürfnisse erreichen könnte.  (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. März 2017 wird in den Nrn. 4, 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern jeweils ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger gesamtverbindlich ¾ und die Beklagte ¼.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Soweit die Klage zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
Im Übrigen ist die Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), zulässig und begründet.
Die Kläger haben gegen die Beklagte jeweils einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich Afghanistan. Insoweit war der Bescheid des Bundesamtes vom 24. März 2017 in den Nrn. 4, 5 und 6 aufzuheben und wie mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG beantragt zu entscheiden (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf daneben keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 16f.)
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist möglich. Humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind. Dieses Kriterium ist angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen sind oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen kann – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führen – eine Verletzung auch darin zu sehen seien, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelingt, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Dabei ist stets darauf abzustellen, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann liegt auch ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris).
Ein außergewöhnlicher Fall im Sinne des Vorstehenden läge bei den Klägern vor, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris Rn. 15 ff.), der das Gericht folgt, ist bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen von einem sehr hohen Gefährdungsniveau auszugehen. So stellt sich die Situation auch im Fall der Klägerin zu 1, die mit ihrem im Jahr 2008 geborenen Sohn, dem Kläger zu 2, zu diesem besonders schutzwürdigen Personenkreis gehört, dar. Es kann bei den Klägern – auch in Zusammenschau mit den potentiellen Erwerbsmöglichkeiten des Ehemann und Vater, dessen Asylverfahren anderweitig bei Gericht anhängig ist, in Afghanistan – derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass die Familie im Verdrängungswettbewerb des Alltags in Afghanistan noch ausreichend bestehen können wird. Die Schaffung einer menschenwürdigen Lebensgrundlage für eine Familie mit minderjährigen Kindern erscheint im Allgemeinen – und auch im vorliegenden Fall – nicht in ausreichender Weise gesichert, was insbesondere bereits für das Finden einer adäquaten Unterkunft, in der auch der derzeit neunjährige Kläger zu 2 noch angemessen leben kann, und die Gewährleistung der Grundsicherung der sonstigen elementaren Lebensbedürfnisse (Versorgung mit Nahrung, Wasser und Kleidung; Zugang zumindest zu einer Gesundheitsgrundversorgung) gilt. Auch wenn beide Elternteile, insbesondere auch die Klägerin zu 1, in Afghanistan bereits gearbeitet und Verdienst erzielt haben, ist zumindest mit Blick auf die Versorgungssituation des Klägers zu 2 im Falle der Rückkehr nach Auffassung des Gerichts jedenfalls derzeit eine Existenzsicherung auf Mindestniveau nicht ausreichend verlässlich gewährleistet. Aufgrund dessen wäre im Falle der Rückkehr in die Heimat ein sehr hohes Gefährdungsniveau des Klägers zu 2 – und damit auch der Klägerin zu 1 als Teil des Kernfamilienverbands – zu gewärtigen, sodass die Beklage hinsichtlich beider Klägern jeweils zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans zu verpflichten war.
In der Folge waren auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und das in Nr. 6 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1, § 159 Satz 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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