Verwaltungsrecht

Keine Notwendigkeit einer vorherigen richterlichen Haftanordnung bei offenem Kirchenasyl

Aktenzeichen  12 XIV 2/16 (B)

Datum:
5.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
AG
Gerichtsort:
Coburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 62 Abs. 5
GG GG Art. 104 Abs. 2

 

Leitsatz

Befindet sich ein Ausländer im offenen Kirchenasyl und teilt die Behörde mit, dass ein Zugriff innerhalb des Kirchenasyls nicht erfolgen wird, kann weder der Aufgriffsort noch der Aufgriffszeitpunkt bestimmt werden, sodass es mangels konkreter Planung der Freiheitsentziehung keiner vorherigen richterlichen Haftanordnung bedarf.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Der Antrag der Zentralen Ausländerbehörde der Regierung von … vom 02.08.2016, hier eingegangen am 02.08.2016, auf Anordnung der einstweiligen Freiheitsentziehung wird abgelehnt.

Gründe

Gründe:
I.
Der Betroffene, nach eigenen Angaben irakischer Staatsangehöriger, reiste am 12.06.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 02.09.2015 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).
Eine EURODAC-Anfrage ergab, dass der Betroffene bereits in Ungarn Asyl beantragt hatte. Am 29.10.2015 richtete das BAMF ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 23 ff. der Dublin-III-Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) an Ungarn. Eine Antwort der ungarischen Behörden blieb aus, so dass gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung die Stattgabe des Gesuchs fingiert wird.
Mit Bescheid vom 26.02.2016 lehnte das BAMF den Asylantrag des Betroffenen als unzulässig nach § 27 a AsylG ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Den hiergegen vom Betroffenen gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung lehnte das Verwaltungsgericht Bayreuth mit Beschluss vom 17.03.2016 ab (Az.: B 3 S 16.50016).
Die für den 24.05.2016 und 22.06.2015 geplanten Abschiebungen nach Ungarn schlugen fehl, weil der Betroffene an seinem damaligen Aufenthaltsort in … nicht angetroffen werden konnte.
Mit Schreiben vom 21.06.2016 teilte die Katholische Pfarrgemeinde der beteiligten Behörde mit, sie habe den Betroffenen aufgenommen und gewähre ihm „Kirchenasyl“. Seitdem hält sich der Betroffene dort auf.
Mit am selben Tag bei Gericht eingegangenem Schreiben vom 02.08.2016 hat die Beteiligte beantragt, eine vorläufige Freiheitsentziehung gegen den Betroffenen anzuordnen, die spätestens mit Ablauf einer Woche nach dessen Festnahme enden soll. Sie begründet ihren Antrag im Wesentlichen damit, dass die Haftgründe des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, 4 und 5, bei letzterem in Verbindung mit § 2 Abs. 14 AufenthG vorlägen. Ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden liege deshalb vor, da eine Überstellung nach Ungarn nur noch bis spätestens 17.09.2016 möglich ist. Nach Aufgreifen des Betroffenen außerhalb des Kirchenasyls werde unverzüglich ein Antrag auf Sicherungshaft nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 4, 5 AufenthG i. V. m. der Dublin-III-Verordnung gestellt werden. Ein Zugriff innerhalb des Kirchenasyls werde nicht erfolgen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhaltes auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
II.
Der Antrag der beteiligten Behörde ist zurückzuweisen, da bereits ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden im Sinn des § 427 Abs. 1 FamFG nicht vorliegt.
1. Es kann vorliegend dahinstehen, ob allein schon der Fall des hier gegebenen sogenannten offenen Kirchenasyls, bei dem der Aufenthaltsort des ausreisepflichtigen Ausländers bekannt ist, ausreicht, Abschiebungshaft anzuordnen oder weitere Umstände hinzutreten müssen (vgl. hierzu Landgericht München NVwZ-Beil. 2001, 63).
2. Im Hinblick auf § 62 Abs. 5 AufenthG erweist sich eine vorläufige Anordnung der Haft gegen einen Ausländer als nicht mehr erforderlich. Denn nach dieser Vorschrift ist es der für den Haftantrag zuständigen Behörde erlaubt, einen Ausländer ohne vorherige richterliche Anordnung festzuhalten und vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, wenn der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 62 Abs. 3 S. 1 AufenthG besteht, die richterliche Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft nicht vorher eingeholt werden kann und der begründete Verdacht vorliegt, dass sich der Ausländer der Anordnung der Sicherungshaft entziehen will. In diesen Fällen ist der Ausländer nach § 62 Abs. 5 S. 2 AufenthG unverzüglich dem Richter zur Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft vorzuführen. Diese Verfahrensweise macht eine vorläufige Haftanordnung entbehrlich (so auch OLG Hamm BeckRS 2010, 02938; OLG Zweibrücken InfAusIR 2009, 399).
3. Zwar ist dies anerkannt, wenn der Aufenthalt des Ausländers unbekannt ist (vgl. Keidel/Budde, FamFG § 427 Rdnr. 6), kann aber aus Sicht des erkennenden Richters im konkreten Fall nicht anders beurteilt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfordert eine Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Anordnung genügt nur, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste. Für die Frage, wann die Freiheitsentziehung ohne richterliche Anordnung erfolgen darf, ist auf den Zeitpunkt der Entscheidung über die Freiheitsentziehung abzustellen. Daraus folgt, dass Freiheitsentziehungen, die konkret geplant werden können, in der Regel einer richterlichen Anordnung bedürfen. Dies setzt aber voraus, dass der Aufenthaltsort des Betroffenen der Ausländerbehörde bekannt und dieser für die Behörde greifbar ist. Ist der Ausländer dagegen beispielsweise untergetaucht, kann die Freiheitsentziehung nicht konkret geplant werden. Denn es kann weder der Aufgriffsort noch der Aufgriffszeitpunkt bestimmt werden. Es ist auch nicht absehbar, ob im Zeitpunkt des Ergreifens die Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft (noch) vorliegen und welche Behörde gegebenenfalls für eine Ingewahrsamnahme zuständig ist (vgl. BVerfG NVwZ 2009, 1034).
Nicht anderes kann aber vorliegend gelten. Der Betroffene befindet sich im sogenannten offenen Kirchenasyl. Die beteiligte Behörde hat mitgeteilt, dass ein Zugriff innerhalb des Kirchenasyls nicht erfolgen wird. Der Betroffene soll vielmehr nur außerhalb des Kirchenasyls aufgegriffen werden. Dann kann aber derzeit weder der Aufgriffsort noch der Aufgriffszeitpunkt bestimmt werden. Mangels konkreter Planung der Freiheitsentziehung bedarf es daher hier keiner vorherigen richterliche Haftanordnung. Die beteiligte Behörde kann außerhalb des Kirchenasyls gegen den Betroffenen bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 62 Abs. 5 AufenthG vorgehen.
Rechtsbehelfsbelehrung:
Gegen diesen Beschluss findet das Rechtsmittel der Beschwerde statt.
Die Beschwerde ist binnen einer Frist von 2 Wochen bei dem Amtsgericht Coburg Ketschendorfer Str. 1 96450 Coburg
einzulegen. Ist der Betroffene untergebracht, kann er die Beschwerde auch bei dem Amtsgericht einlegen, in dessen Bezirk er untergebracht ist.
Die Frist beginnt mit der schriftlichen Bekanntgabe des Beschlusses. Erfolgt die schriftliche Bekanntgabe durch Zustellung nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung, ist das Datum der Zustellung maßgebend. Erfolgt die schriftliche Bekanntgabe durch Aufgabe zur Post und soll die Bekanntgabe im Inland bewirkt werden, gilt das Schriftstück 3 Tage nach Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, wenn nicht der Beteiligte glaubhaft macht, dass ihm das Schriftstück nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Kann die schriftliche Bekanntgabe an einen Beteiligten nicht bewirkt werden, beginnt die Frist spätestens mit Ablauf von 5 Monaten nach Erlass des Beschlusses. Fällt das Fristende auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder Sonnabend, so endet die Frist mit Ablauf des nächsten Werktages.
Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle eingelegt. Die Beschwerde kann zur Niederschrift eines anderen Amtsgerichts erklärt werden; die Beschwerdefrist ist jedoch nur gewahrt, wenn die Niederschrift rechtzeitig bei dem Gericht, bei dem die Beschwerde einzulegen ist, eingeht. Die Beschwerdeschrift bzw. die Niederschrift der Geschäftsstelle ist von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen.
Die Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird.
Die Beschwerde soll begründet werden.
Erlass des Beschlusses (§ 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG): Übergabe an die Geschäftsstelle am 05.08.2016.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben