Verwaltungsrecht

Keine Rückführung in Mitgliedstaat aufgrund besonderer Umstände

Aktenzeichen  W 8 K 19.32165

Datum:
24.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 4077
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann nur dann ausgesprochen werden, wenn eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Art. 4 GRCh verneint wird (Aschluss an VGH München BeckRS 2020, 254 Rn. 11). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 3 EMRK wird erst verletzt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätten, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einem Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (Anschluss an EuGH BeckRS 2019, 3600 Rn. 92). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die Feststellung einer VErletzung von Art. 3 EMRK muss unterschieden werden zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie Asylbewerbern mit besonderer Verletzbarkeit, die unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten können. Insbesondere für Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Kranke bzw. sonstige vulnerable Personen ist im Dublinraum mithin von einem höheren Schutzstandard auszugehen (VGH Mannheim BeckRS 2019, 11243 Rn. 6). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2019 wird aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu voll-streckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. November 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG war aufzuheben, weil die Klägerin zum Kreis der vulnerablen Personen gehört, die nicht ohne eine individuelle auf sie bezogene Zusicherung der griechischen Behörden nach Griechenland abgeschoben werden dürfen. Denn beim Vorliegen extremer materieller Not, die einer menschenwidrigen Behandlung gleichgestellt ist, reicht die – hilfsweise beantragte – Feststellung von Abschiebungsverboten nicht aus. Vielmehr ist auch die Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben.
Eine Unzulässigkeitsentscheidung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bei drohender extremer Not nicht getroffen werden (OVG NRW, B.v. 30.1.2020 – 11 A 2480/19.A – juris). Denn der Europäische Gerichtshof (EuGH, Ue.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 – jeweils juris) hat ausgeführt, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der Verfahrensrichtlinie einem Mitgliedsstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedsstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihm in dem anderen Mitgliedsstaat als anerkannten Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) zu erfahren. Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes reicht zur Gewährleistung der Rechte der Grundrechtecharta nicht aus. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann nur dann ausgesprochen werden, wenn eine Verletzung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bzw. Art. 4 GRCh verneint wird. Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach Art. 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG genügt nicht (siehe BayVGH, B.v. 9.1.2020 – 20 ZB 18.32705 – juris).
Der Europäische Gerichtshof hat die Maßstäbe für die Anwendung der Regelung in Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bei Rückführungen innerhalb der Europäischen Union präzisiert und partiell verschärft. Hiernach darf ein Asylbewerber aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich immer in einen anderen Mitgliedstaat rücküberstellt werden, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstößt, d.h. die physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Ein solcher Verstoß gegen Art. 4 GRCh ist nur anzunehmen, wenn aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls asylrelevante Schwachstellen oder andere Umstände eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (siehe EuGH, Ue.v. 19.3.2019 – C-163/17 und C-297/17 – ABl EU 2019, Nr. C 187, 7 und 11 – jeweils juris).
Diese besonders hohe Schwelle ist nach der harten Linie des EuGH erst erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätten, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihrer persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot und Seife“), und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einem Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in einer durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situation nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich die Person in einer solchen schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (VG Köln, B.v. 24.1.2020 – 14 L 2392/19.A – juris; VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – EzAR-NF 65 Nr. 76; m.w.N.).
Solche Bedingungen können etwa anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln zu haben. Das dazu geforderte Mindestmaß an Schwere ist relativ und hängt von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung, den daraus erwachsenen körperlichen und mentalen Folgen für den Betroffenen und in bestimmten Fällen auch von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen. Ein derartiger Schweregrad kann demnach erreicht sein, wenn der Betroffene seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden kann oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Letztlich bedarf es einer Würdigung aller Umstände des Einzelfalles (BayVGH, B.v. 9.1.2020 – 20 ZB 18.32705 – juris mit Verweis auf BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – Buchholz 402.242 § 60 Abs. 2 AufenthG Nr. 58 m.w.N.).
Ausgehend davon kann die Klägerin ohne individuelle Zusicherung als vulnerable Person nicht nach Griechenland überstellt werden.
Nach den vorliegenden aktuellen Erkenntnissen und auch unter Berücksichtigung der neuen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, Ue. v. 19.3.2019 – C-297/17; C-318/17; C-319/17 und C-438/17 – jeweils juris) geht das Gericht aufgrund einer Gesamtbewertung der besonderen Umstände des Einzelfalls davon aus, dass die Klägerin zur Gruppe besonders schutzbedürftiger Personen gehören, denen ohne eine konkret-individuelle Zusicherung von Seiten Griechenlands mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung droht.
Ausgehend von der Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR (U. v. 4.11.2014 – 29217/12 – NVwZ 2015, 127) muss unterschieden werden zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie Asylbewerbern mit besonderer Verletzbarkeit, die unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten können. Insbesondere für Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Kranke bzw. sonstige vulnerable Personen ist im Dublinraum mithin von einem höheren Schutzstandard auszugehen (vgl. auch VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – EzAR-NF 65 Nr. 76).
Die Klägerin hat ein am … … 2019 in Deutschland geborenes Kind und könnte daher zwingend nur zusammen mit ihrem Säugling abgeschoben werden.
Familien mit Klein- und Kleinstkindern gehören zu der Gruppe besonders schutzbedürftiger Personen im Sinne von Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU, da Kinder besondere Bedürfnisse haben, besonders verwundbar sind und die Befriedigung ihrer existenziellen Grundbedürfnisse besondere Schwierigkeiten bereitet (vgl. so auch VG Regensburg, U.v. 3.1.2019 – RN 11 K 18.31292 – juris).
Obgleich die Europäische Kommission in ihrer Empfehlung an die Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 8. Dezember 2016 (Az.: C(2016) 8525 final), welche von Bundesminister des Innern aufgegriffen wurde (Schreiben vom 30. Dezember 2016 – Az.: A-Drs. 18(4)748), grundsätzlich Abschiebungen nach Griechenland aufgrund des verbesserten Zustands des griechischen Asylsystems wieder als zulässig erachtet, wird ausdrücklich eine Ausnahme hiervon für besonders schutzbedürftige Personen gemacht (vgl. II. Nr. 8 ff. der Empfehlung).
Darüber hinaus wird eine Abschiebung nach Griechenland im Allgemeinen von einer erfolgten individuellen Zusicherung griechischer Behörden, dass eine Unterbringung der Asylbewerber erfolgen wird und dies in Einklang mit den Richtlinien 2013/33/EU (Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) und RL 2013/32/EU (Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes) geschieht, abhängig gemacht.
An einer solchen individuellen Zusicherung in Bezug auf die Klägerin fehlt es hier aber. Das in den Behördenakten (Blatt 147) befindliche Schreiben des griechischen Generalsekretärs für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 genügt dabei den Anforderungen an eine individuelle Zusicherung bezüglich der Klägerin nicht. In dem Schreiben wird lediglich pauschal mitgeteilt, dass Griechenland die oben benannten Richtlinien fristgemäß in nationales Recht umgesetzt hat und dass anerkannten international Schutzberechtigten die entsprechenden, in den Richtlinien enthaltenen Rechte, zuerkannt würden. Hieraus ergibt sich gleichsam nicht, dass der Klägerin im Falle einer Rücküberstellung eine entsprechende Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. Dies wäre aber vor dem Hintergrund der nicht nur unwahrscheinlichen Gefahr der Obdachlosigkeit von international anerkannten Schutzberechtigten bei der Rückkehr nach Griechenland in jedem Fall zu fordern gewesen (vgl. hierzu PRO ASYL/RSA vom 30.8.2018; Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Stade vom 6.12.2018 und ausführlich damit auseinandersetzend auch VG Magdeburg, U.v. 19.2.2019 – 4 A 242/18 – juris Rn. 14 ff.; oder auch VG Würzburg, U.v. 19.7.2019 – W 2 K 19.30035 – juris).
Zwar hat das Auswärtige Amt mitgeteilt (siehe Auskunft an das VG Berlin vom 4.12.2019), dass eine allgemeine Zusicherung vorliegt und dass Deutschland nach der Terminankündigung an Griechenland spätestens 24 bis 28 Stunden vor dem Überstellungstermin zusätzlich jeweils eine individuelle Zusicherung erhält. Danach würden die zuständigen Polizeistellen die überstellte Person bei Ankunft in Empfang nehmen und mit Hilfe eines Dolmetschers über ihre Rechte, den Verfahrensablauf und die beabsichtigte Unterbringung informieren. Der Auskunft ist aber indessen nicht zu entnehmen, dass gerade bei – wie hier – anerkannt Schutzberechtigten, die den griechischen Bürgern weitgehend gleichgestellt sind, tatsächlich überhaupt konkret eine Unterkunft zugesichert würde. Außerdem ist der Auskunft nicht klar zu entnehmen, ob die angeführte individuelle Zusicherung überhaupt bei der Rückführung anerkannt Schutzberechtigter seitens der griechischen Behörden abgegeben wird. Weiter ist nicht ersichtlich, wie eine Zusicherung speziell bei vulnerablen Personen aussehen würde. Vielmehr hat das Auswärtige Amt in der zitierten Auskunft ausdrücklich darauf hingewiesen, dass vulnerable Personen Minderjährige und Familienverbände mit sogenannten Problemkonstellationen gar nicht nach Griechenland überstellt würden. Das Auswärtige Amt verweist weiter darauf, dass für die anerkannt Schutzberechtigten die Inländergleichbehandlung gilt. Es gibt in Griechenland aber kein staatliches Programm bezüglich Wohnungszuweisung oder wohnungsbezogener Sozialleistung und somit auch nicht für anerkannt Schutzberechtigte. Es verbleibt dann allenfalls eine Unterbringung in kommunalen Obdachlosenunterkünften. Rückkehrer mit anerkannten Schutzstatus können gerade nicht auf die Leistungen für Asylbewerber zurückgreifen. Des Weiteren müssen anerkannt Schutzberechtigte mit ihrer Anerkennung die vorgesehenen bisherigen Unterkünfte für Asylbewerber verlassen. Darüberhinaus können durch das Erfordernis eines legalen Inlandsaufenthaltes und weiterer formeller Voraussetzungen Leistungsausschlüsse auftreten. Das Auswärtige Amt geht weiter davon aus, dass ohne eine landesweit nicht flächendeckend abgebildete Betreuung durch Nichtregierungsorganisationen eine erfolgreiche griechischsprachige Antragstellung nicht realistisch erscheint, die aber Voraussetzung ist für den Zugang zu einer Steuernummer oder zur Arbeitsaufnahme (siehe auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Potsdam vom 23.8.2019). In Griechenland ist Wohnraum vielmehr grundsätzlich auf den freien Wohnungsmarkt zu beschaffen. Voraussetzung für den Sozialleistungsbezug ist das Einreichen bestimmter Unterlagen, grundsätzlich online, und in griechischer Sprache sowie ein dauerhaft einjähriger Mindestaufenthalt. Aus dem Ausland zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte sind daher zunächst von einem Bezug von Sozialleistungen ausgeschlossen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Chemnitz vom 1.2.2019; Auskunft an das VG Stade vom 16.12.2018; Auskunft an das VG Greifswald vom 26.9.2018, Auskunft an das VG Schwerin vom 26.9.2018; Auskunft an das VG Köln vom 7.2.2018 sowie ACCORD, Anfragebeantwortung zu Griechenland: Lage Minderjähriger anerkannter Flüchtlinge vom 31.7.2019).
Die Klägerin kann mit ihrem gut vier Monaten altem Kind vor diesem Hintergrund nicht auf eine Obdachlosenunterkunft verwiesen werden, zumal völlig offen ist, ob sie dort überhaupt Aufnahme finden könnte. Denn es gibt nur ganz wenige Plätze überhaupt für Mütter mit kleinen Kindern, die zudem voll sind, sodass allenfalls die Aufnahme in Warteliste möglich wäre (siehe PRO ASYL/RSA, Stellungnahme, Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 30.8.2018).
Nach herrschender Rechtsprechung ist eine Rückführung vulnerabler Personen nach Griechenland rechtlich nicht möglich, sofern keine konkret auf die vulnerable Person bezogene individuelle Zusicherung der griechischen Behörden vorliegt, die auch seitens des Gerichts überprüft werden könnte. Denn sämtliche Obdachlosenunterkünfte sind meist voll belegt oder führen Wartelisten. Die griechischen Behörden helfen nicht weiter, sondern geben nur allgemeine Informationen, so dass allenfalls Vereine und Nichtregierungsorganisationen unterstützend tätig sind. Daher ist davon auszugehen, dass in Griechenland bei Personen, denen bereits ein Schutzstatus zuerkannt wurde, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit droht. Für Schutzberechtigte ist es so gut wie unmöglich, alle für die Sozialhilfe erforderlichen Dokumente zu beschaffen, so dass sie Sozialleistungen im Endeffekt zunächst nicht erhalten (VG Magdeburg, B.v. 6.12.2019 – 9 B 442/19 – juris mit Bezug auf U.v. 1.11.2019 – 9 A 247/19 MD).
Die allgemeine griechische Zusicherung genügt nicht um sicherzustellen, dass zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte, wenn zunächst auch nur in der ersten Zeit nach der Ankunft Zugang zu Obdach, Nahrungsmittel und sanitären Einrichtungen haben. Die allgemeine Zusicherung enthält nur die Selbstverständlichkeit, dass sich Griechenland an geltendes Recht halte (OVG NRW, Be.v. 30.1.2020 – 11 A 4558/19.A und 1 A 2480/19.A – jeweils juris).
Auch das Bundesverfassungsgericht hat ausgesprochen, das keine Rücküberstellung nach Griechenland erfolgen darf, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass dem Betreffenden nach Zuerkennung internationalen Schutzes eine dem Art. 4 GRCh widersprechende Behandlung droht (BVerfG, B.v. 7.10.2019 – 2 BvR 721/19 – juris).
Die Lage von Personen mit Schutzstatus in Griechenland und gerade für vulnerable Personen ist aussichtslos, sodass das tatsächliche Risiko einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh besteht, auch weil sich die Situation von Schutzberechtigten und Inländern selbst bei formaler Gleichbehandlung strukturell grundlegend unterscheidet (VG Köln, U.v. 28.11.2019 – 20 K 2489/18.A – juris). Die Situation einer jungen gesunden arbeitsfähigen Person, die alleinstehend ist und keine Unterhaltsverpflichtung hat, ist anders zu beurteilen, weil von ihr größere Anstrengungen verlangt werden können und ihr tiefere Einschnitte zuzumuten sind, als bei Vulnerablen. Aber gerade bei einer Familie oder eine Frau mit einem kleinen Kind droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit. Zudem ist nicht ersichtlich, wie der Klägerin gelingen können sollte, einerseits für das Kleistkind mit seinen speziellen Bedürfnissen zu sorgen, andererseits ein zumutbares Obdach zu organisieren, Geld zu erwirtschaften, um sich Lebensmittel sowie dem Kind Milch zu kaufen oder auch eine notwendige medizinische Behandlung für das Kleinstkind zu erreichen. In Griechenland herrschen in Bezug auf Sicherung des Lebensunterhalts und der Unterbringung schwierige Bedingungen, die ein hohes Maß an Eigeninitiative erfordern, welche einer vulnerablen Personen und gerade der Klägerin mit dem gut viermonatigen Kind nicht zugemutet werden kann (VG Gelsenkirchen, U.v. 22.11.2019 – 17a K 2746/18.A – juris; VG Würzburg, U.v. 19.7.2019 – W 2 K 18.30717 – juris; VG Oldenburg, U.v. 20.11.2019 – 11 A 265/19 – juris; VG Magdeburg, U.v. 20.11.2019 – 8 A 130/19 – juris).
Bei der Klägerin handelt es sich um eine vulnerable Person, weil das in Deutschland geborene gut vier Monate alte Kind von Rechts wegen zwingend zu berücksichtigen ist, da die Klägerin ohne das Kind nicht abgeschoben werden darf (VG Oldenburg, U.v. 20.11.2019 – 11 A 265/19 – juris).
Nach alledem war der Bescheid vollständig aufzuheben. Nachdem die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG keinen Bestand haben kann ist auch kein Raum mehr für die Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG. Des Weiteren ist zwangsläufig auch die verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und aufzuheben, soweit sie sich auf die Abschiebung nach Griechenland bezieht. Gleichermaßen konnte die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG keinen Bestand haben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 2 AufenthG entfallen (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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