Verwaltungsrecht

Keine Verfahrensaussetzung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren

Aktenzeichen  6 C 21.2079

Datum:
7.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40820
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 94
AEUV Art. 267

 

Leitsatz

1. Durch Entscheidungen im Hauptverfahren werden Zwischenentscheidungen über eine Verfahrensaussetzung prozessual überholt. Für eine nachträgliche Aussetzung nach § 94 VwGO bleibt kein Raum. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Aussetzung nach § 94 VwGO ist im vorläufigen Rechtsschutz in aller Regel ermessensfehlerhaft. Das gilt erst Recht für eine Aussetzung analog § 94 VwGO zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV. (Rn. 17) (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 5 E 21.1684 2021-07-26 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 22. Juli 2021 – M 5 E 21.1681 bis 1684 – wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Ablehnung von Aussetzungsanträgen.
In den zugrunde liegenden vier Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hat die Beschwerdeführerin am 29. März 2021 den Erlass einstweiliger Anordnungen nach § 123 VwGO beantragt, mit denen der Antragsgegnerin untersagt werden soll, „die beim Bundesfinanzhof (BFH) freien Posten von Vorsitzenden Richter/Innen betreffend den I., den II., den V. und den IX. Senat einstweilen nicht mit anderen Personen zu besetzen“, bevor nicht über bestimmte, im Einzelnen bezeichnete Klage- und Verwaltungsverfahren jeweils rechtskräftig entschieden und über die Stellenbewerbung der Beschwerdeführerin erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts entschieden worden ist.
Ferner hat die Beschwerdeführerin (mit Schriftsätzen vom 24. März und 14. Juli 2021) die Aussetzung der Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, bis in einer Reihe von bezeichneten, ihrer Meinung nach vorgreiflichen Gerichts- und Verwaltungsverfahren rechtskräftig entschieden ist, hilfsweise die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtsfrage vorzulegen, ob die in den Stellenbesetzungsverfahren jeweils getroffenen Auswahlentscheidungen bezogen auf die Positionen von Vorsitzenden/r Richter/Innen am Bundesfinanzhof durch die Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz auf der Basis der jeweiligen Auswahlverfahren im Lichte der gesamten Aktenlage mit den unionsrechtlichen Vorgaben zur Unabhängigkeit der Gerichte in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie Art. 47 Abs. 2 der Charta in Einklang stehen.
Nachdem mehrere Befangenheitsanträge der Beschwerdeführerin gegen die Mitglieder der zur Entscheidung berufenen Kammer ohne Erfolg geblieben waren, hat die Berichterstatterin die Anträge auf Aussetzung der Eilverfahren mit Beschluss vom 22. Juli 2021 zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und mit der Begründung abgelehnt, die Voraussetzungen für eine Aussetzung nach § 94 VwGO lägen nicht vor.
Das Verwaltungsgericht hat mit (Kammer-)Beschluss vom 23. Juli 2021 im Verfahren M 5 E 21.1681 und mit (Kammer-) Beschlüssen vom 26. Juli 2021 in den Verfahren M 5 E 21.1683 und 1684 die Anträge auf Erlass einstweiliger Anordnungen abgelehnt. Im Verfahren M 5 E 21.1682 ist bislang noch keine Entscheidung getroffen worden.
Die Beschwerdeführerin hat am 5. August 2021 (unter anderem) Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 22. Juli 2021 eingelegt. Sie macht im Wesentlichen geltend, diese Entscheidung sei unter Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter getroffen worden, leide an weiteren schwerwiegenden Verfahrensmängeln und verletze materielles Recht.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Beschwerdeschriftsatz und die Akten verwiesen.
II.
Die Beschwerdeführerin darf sich vor dem Verwaltungsgerichtshof selbst vertreten, weil sie als Honorarprofessorin Rechtslehrerin an einer staatlichen Hochschule ist (§ 67 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 VwGO).
Die Beschwerde, die sich gegen die Ablehnung von Anträgen auf Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO richtet und die nicht durch § 146 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen wird, ist zum überwiegenden Teil unzulässig (1.), im Übrigen jedenfalls unbegründet (2.).
1. Unzulässig ist die Beschwerde, soweit sie die erstinstanzlichen Verfahren M 5 E 21.1681, 1683 und 1684 betrifft.
Insoweit hat das Verwaltungsgericht mit Beschlüssen vom 23. und 26. Juli 2021 bereits in der Sache entschieden und die Anträge auf Erlass einer einstweilen Anordnung abgelehnt. Durch die Entscheidungen im Hauptverfahren sind die Zwischenentscheidungen über die von der Beschwerdeführerin begehrte Verfahrensaussetzung prozessual überholt. Für eine nachträgliche Aussetzung nach § 94 VwGO bleibt kein Raum. Für die Beschwerde besteht daher kein Rechtsschutzbedürfnis. Dadurch wird die Beschwerdeführerin nicht rechtlos gestellt, weil ihr die – bereits eingelegten – Rechtsmittel gegen die Endentscheidungen bleiben.
2. Soweit sich die Beschwerde gegen die Ablehnung der Aussetzung im Verfahren M 5 E 21.1682 betreffend das Amt einer Vizepräsidentin oder eines Vizepräsidenten des Bundesfinanzhofs richtet, in dem das Verwaltungsgericht noch keine Hauptentscheidung getroffen hat, ist sie jedenfalls unbegründet.
Es bestehen allerdings bereits erhebliche Zweifel, ob der Beschwerdeführerin ein Rechtsschutzbedürfnis für das Hauptverfahren und damit ebenso für das Zwischenverfahren über die Verfahrensaussetzung zur Seite steht. Denn dem Beschwerdevorbringen ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin von vornherein nicht um das Statusamt der Vizepräsidentin/des Vizepräsidenten des Bundesfinanzhofs hat konkurrieren wollen, sondern mit Blick auf die im erstinstanzlichen Verfahren M 5 E 21.1682 Beigeladene zu 2. nur um das Funktionsamt (den Dienstposten) als Vorsitzende/r eines Senats; dafür ist ein Anordnungsanspruch nicht ersichtlich (vgl. Hinweisschreiben des Berichterstatters vom 1.9.2021 im Verfahren 6 CE 21.2082).
Das kann hier dahinstehen, denn die Beschwerde ist insoweit jedenfalls unbegründet.
Die Verfahrens- und Besetzungsrügen, die im Mittelpunkt der Beschwerde stehen, sind nicht entscheidungserheblich. Das Beschwerdegericht prüft nur, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 94 VwGO für eine Aussetzung der Verfahren vorliegen und – wenn ja – ob das Ausgangsgericht das ihm durch diese Vorschrift eingeräumte Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. Auf Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts kommt es daher nur insoweit an, als im Beschwerdeverfahren die Ermessensausübung durch das Verwaltungsgericht zur Prüfung steht. Das ist jedoch nicht der Fall. Denn die von der Beschwerdeführerin begehrte Verfahrensaussetzung nach § 94 VwGO durfte aus Rechtsgründen nicht ausgesprochen werden.
Zum einen lagen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 94 VwGO für eine Aussetzung nicht vor. Denn die Entscheidungen, die in den von der Beschwerdeführerin genannten anderen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren anstehen, sind nach dem maßgeblichen (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 94 Rn. 8) Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts für das hier zur Entscheidung stehende Konkurrenteneilverfahren nicht vorgreiflich.
Zum anderen wäre – eine Vorgreiflichkeit zu Gunsten der Beschwerdeführerin unterstellt – das gerichtliche Ermessen in dem Sinn auf Null reduziert, dass das Verfahren aus Rechtsgründen nicht ausgesetzt werden darf. Denn eine Aussetzung im vorläufigen Rechtsschutz ist in aller Regel – und so auch hier – ermessensfehlerhaft (vgl. Gmeiner, Verfahrensaussetzung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren, NVwZ 2021, 1035 ff. m.w.N.). Im Konkurrenteneilverfahren muss das zuständige Gericht die streitige Auswahlentscheidung und die entscheidungserheblichen Vorfragen, insbesondere die Rechtmäßigkeit der zugrunde liegenden dienstlichen Beurteilungen, selbst prüfen und beurteilen. Eine Aussetzung, um den Ausgang anderer gerichtlicher Verfahren zu etwaigen Vorfragen abzuwarten, wäre – zumal im Spannungsverhältnis der Interessen von Dienstherrn, unterlegenem und ausgewähltem Bewerber – mit dem verfassungsrechtlichen Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, nicht vereinbar.
Das gilt erst recht mit Blick auf den „hilfsweise“ gestellten Aussetzungsantrag analog § 94 VwGO zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nach Art. 19 Abs. 3 lit. b EUV, Art. 267 AEUV. Abgesehen davon wäre die von der Beschwerdeführerin formulierte Frage schon deshalb nicht vorlagefähig, weil sie nicht die Auslegung des Unionsrechts, sondern dessen Anwendung im Einzelfall betrifft. Das aber ist allein Aufgabe der nationalen Gerichte. Ob die Bedingung für diesen Hilfsantrag mit der Ablehnung des Hauptaussetzungsantrags eingetreten ist, wovon das Verwaltungsgericht ausgegangen ist, oder wie die Beschwerdeführerin – wenig überzeugend – meint, erst mit der Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, kann dahinstehen. In beiden Fällen kann die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen zulässigen Aussetzungsantrag verletzt sein.
Deshalb besteht auch kein Anlass, dem „hilfsweise“ gestellten Rechtsmittelantrag zu entsprechen und das Beschwerdeverfahren auszusetzen, um „die Vereinbarkeit der vom durchgeführten vorstehend aufgezeigten und nachgewiesenen Verfahrensbehandlung sowie der entsprechenden Entscheidungen über die aufgeworfenen Rechtsfragen in dem streitbefangenen Beschluss mit den aufgezeigten unionsrechtlichen Garantien und Vorgaben … im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens überprüfen zu lassen.“
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Eine Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, weil gemäß Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) eine Festgebühr anfällt.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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