Verwaltungsrecht

Klage auf Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz

Aktenzeichen  Au 6 K 18.31027

Datum:
4.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 30841
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3,§  4, § 77 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 15 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Unter Aufhebung von Ziffer 1, 3 bis 6 ihres Bescheids vom 17. Mai 2018, soweit sie der folgenden Verpflichtung entgegenstehen, wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 17. Mai 2018 ist daher teilweise rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und ist daher im tenorierten Umfang aufzuheben:
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris) entspricht.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32).
Die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU in Form einer widerlegbaren Vermutung ist im Asylerstverfahren zu beachten, wenn der Antragsteller frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde. Die solchen früheren Handlungen oder Bedrohungen nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 QRL ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (vgl. zum Ganzen: BVerwG, B.v. 6.7.2012 – 10 B 18/12 – juris Rn. 5 unter Bezugnahme auf EuGH, U.v. 2.3.2010 – Rs. C-175/08 u.a. – juris Rn. 93; BVerwG, U.v. 5.5.2009 – 10 C 21/08 – juris Rn. 25). Die vorgenannte Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – BVerwGE 136, 377/382 Rn. 18) droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2), oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3). Satz 1 gilt auch für Ausländer, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen angestiftet oder sich in sonstiger Weise daran beteiligt haben (§ 3 Abs. 2 Satz 2 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine parlamentarische Republik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichten-spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org).
In der Wahl vom 1. November 2015 errang die AKP zwar 49,5% der Stimmen, verfehlte aber die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3- bzw. 3/5-Mehrheit (mit anschließendem Referendum). Innenpolitisches Anliegen Erdoğans war der o.g. Systemwechsel hin zu einem exekutiven Präsidialsystem, was eine Verfassungsänderung voraussetzte. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 (dazu sogleich) hat die AKP Anfang Dezember 2016 einen Entwurf zur Verfassungsänderung hin zu einem solchen Präsidialsystem ins Parlament eingebracht, das dieses Gesetz mit der für ein Referendum erforderlichen 3/5-Mehrheit beschloss. Das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017 erreichte die erforderliche Mehrheit; mittlerweile wurde das bislang geltende Verbot für den Staatspräsidenten, keiner Partei anzugehören, aufgehoben; Staatspräsident Erdoğan ist seit Mai 2017 auch wieder Parteivorsitzender der AKP. In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat er die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5, 7 f. – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.).
Durch die damit abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef, denn das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Lagebericht ebenda S. 7). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt Ankara an die Opposition, ebenso die Großstädte Adana, Antalya und Mersin sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Istanbul, wo Staatspräsident Erdoğan einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdoğan mehrmals erklärt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegen stellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung Lagebericht ebenda S. 4 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 511.646 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 30.000 Personen befinden sich in Haft, darunter fast 20.000 Personen auf Grund von Verurteilungen. Über 154.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 5, 7; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde sein innenpolitisches Gewicht gemindert und durch den Einmarsch in den grenznahen Gebieten Syriens wurden seine Kapazitäten nach außen gelenkt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung hat der Kläger nicht zu befürchten.
Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer befürchteten Zurechnung zur Gülen-Bewegung haben die Kläger nicht zu befürchten. Es kann dahinstehen, ob bereits Anhaltspunkte für eine staatliche Gruppenverfolgung von Anhängern der Gülen-Bewegung vorliegen, da jedenfalls die Merkmale, nach denen der türkische Staat Personen der Gülen-Bewegung zurechnet, nicht hinreichend kongruent sind, um sie als eine durch ein gemeinsames und unverzichtbares Merkmal im Innern geprägte und auch eine nach außen deutlich abgegrenzte Identität innehabende Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt.
Dies ist bei vom türkischen Staat der Gülen-Bewegung zugerechneten Personen nicht der Fall, wie der Blick auf die unterschiedlichen Anhaltspunkte zeigt, welche der türkische Staat im Einzelfall als Indiz für eine Anhängerschaft ausreichen lässt oder auch nicht:
Die vom islamistischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs-Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte im Rahmen ihrer Bemühungen, die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als der Bewegung zugerechnete Staatsanwälte und Richter Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ“/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“; dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 11 ff.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 8 f.). Es liegen keine Anhaltspunkte vor, dass die Gülen-Bewegung als sunnitisch-islamische Gruppierung bestimmte Anforderungen an die Volkszugehörigkeit ihrer Anhänger stellte (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 6).
Es liegen auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amts deutliche Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung vermeintlicher Anhänger der Gülen-Bewegung vor, welcher von türkischer Regierungsseite her der Putschversuch im Juli 2016 zur Last gelegt wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f. – im Folgenden: Lagebericht). Grundsätzlich wird jede Person, die in irgendeiner Weise Kontakt zur Gülen-Bewegung hatte, von den türkischen Ermittlungsbehörden überprüft; Strafverfahren werden insbesondere gegen in Gülennahen Einrichtungen und Vereinen aktive oder gar in leitender Position tätige Personen sowie Inhaber eines Kontos bei der Bank Asya eingeleitet (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 5). Türkische Behörden und Gerichte können eine Person nicht erst dann als „FETÖ“-Terrorist einordnen, wenn diese Mitglied der Gülen-Bewegung ist oder persönliche Beziehungen zu den Mitgliedern der Bewegung unterhält. Als Indiz für eine Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen aus Sicht der türkischen Sicherheitsbehörden u.a. schon der Besuch der Person oder eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. Geldanlagen nach dem Aufruf von Fetullah Gülen ab 25. Dezember 2013 bei der Bank Asya, der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution – z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; der Abonnementvertrieb (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 11) und das Abonnieren der (vormaligen) Gülen-Zeitung „Zaman“ oder „Bügün“ oder der Nachrichtenagentur Cihan oder der Besitz von Gülens Büchern sowie Kontakte zu der Gülen-Bewegung zugeordneten Einrichtungen. Nutzer der Smartphone-Anwendung „ByLock“ stehen ebenfalls in Verdacht und ist mit der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu rechnen (Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 13), 23.171 Nutzer seien verhaftet, allerdings auch Hunderte Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt und deswegen wieder freigelassen worden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 9 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 13 ff.).
Daher kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet, in der Türkei mit systematischen asylerheblichen Verfolgungshandlungen rechnen muss. Ob bereits eine vermutete Gülen-Anhängerschaft ausreicht, wegen Terrorverdachts inhaftiert zu werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 36), hängt vom Einzelfall und den plausibel geltend gemachten Ansatzpunkten ab, die aus Sicht des türkischen Staats eine solche Zurechnung tragen würden. Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; das Strafmaß für eine Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation beträgt nach § 314 Abs. 2 tStGB (türkisches Strafgesetzbuch) i.V.m. Art. 5 tStGB (Erhöhung um die Hälfte bei Terrorstraftaten) 7,5-15 Jahre Freiheitsstrafe, die aber häufig wegen guter Führung nach Art. 62 tStGB auf ein regelmäßig zu erwartendes Strafmaß von 6 Jahren und drei Monaten gemindert wird (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 1d). Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet. Ob eine „Sippenhaft“ gegen Familienangehörige von Gülenverdächtigen Personen stattfindet, ist nicht sicher: Zwar wird unter Nennung von Quellen aus dem Jahr 2016 behauptet, staatliche Behörden gingen mit Entlassungen oder Verhaftungen gegen Familienangehörige vor, um Druck auf die eigentlich gesuchten Personen auszuüben (SFH, Türkei: Gefährdungsprofile vom 19.5.2017, S. 6). Allerdings sind dem Verwaltungsgericht bislang nur Fälle bekannt geworden, in denen Familienangehörige selbst wegen des Verdachts der Gülen-Mitgliedschaft z.B. auf Grund ihrer eigenen Lehrtätigkeit in einer Gülennahen Einrichtung strafrechtlich belangt wurden (vgl. VG Augsburg, U.v. 12.11.2019 – Au 6 K 17.34204).
Personalausweise und sogar Reisepässe werden Gülen-Verdächtigen ausgestellt, sofern keine Ausreisesperre gegen sie besteht (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14; näher zu Ausreisesperren unten). Auch ein Ermittlungsverfahren hindert die Ausstellung eines Personalausweises nicht. Solange nur ein Ermittlungsverfahren offen ist, aber keine Haft vollstreckt wird, ist die Reisefreiheit nicht beschränkt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 an das VG Augsburg zu Frage 14). Gezielte Annullierungen oder Nichtverlängerungen von türkischen Pässen hingegen scheinen verbreitet gegen Gülen-Anhänger und auch gegen Familienangehörige stattzufinden.
Insgesamt sollen rund 512.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung verhaftet und ihre Verbindung untersucht, ca. 31.000 Personen inhaftiert und über 19.000 Personen verurteilt worden sein. Zudem sollen direkt wegen des Putschversuchs 3.838 Personen verurteilt worden sein, 2.327 Personen davon zu lebenslanger Haft und weitere 1.511 Personen zu Freiheitsstrafen von 14 Monaten bis 20 Jahre (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
Laut offiziellen türkischen Angaben seien seit dem gescheiterten Putschversuch über 100 türkische Staatsbürger im Ausland festgenommen und in die Türkei verschleppt worden, so aus Aserbaidschan, Gabun, Kasachstan, dem Kosovo, Malaysia, Moldawien, Myanmar, Pakistan und der Ukraine (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 14). Auslieferungen von Gülen-Anhängern aus Drittstaaten an die Türkei sind aber aus Albanien und aus Kasachstan nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 14.1.2019 an das BAMF zu Frage 1; Auswärtiges Amt, Auskunft vom 15.5.2019 an das BAMF zu Frage 2). Ebenso wenig gibt es Hinweise auf eine Verfolgung von Gülen-Anhängern in Nigeria durch den türkischen Staat, auf deren Auslieferung durch Nigeria oder auf eine Schließung von seitens der Türkei der Gülen-Bewegung zugerechneten Schulen dort (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Augsburg vom 19.9.2019, S. 1 f.). Hingegen entließ die aserbaidschanische Regierung auf Bitten der Türkei rund 50 Lehrer und Dozenten als Anhänger Fethullah Gülens, schloss einen TV-Sender (ANS) und „säuberte“ die ehemals (bis 2013) der Gülen-Organisation Hizmet nahestehende Universität Qafqaz. Auch eine Reihe von Personen, die der säkularen politischen Opposition angehören, wurde unter dem Vorwurf des „Gülenismus“ verhaftet und teilweise an die Türkei ausgeliefert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 22.2.2019, S. 11).
Daraus ergibt sich derzeit noch kein so konkretes und vom türkischen Staat auch konsequent angewandtes Profil einer Einstufung einer Person als Gülen-Anhänger und ihrer Zurechnung zur Gülen-Bewegung, dass dieses den Rückschluss zuließe, dass jede Person, die dieses Profil erfüllt, bereits in das Risiko einer landesweiten Verfolgung geriete. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass eine nicht näher objektivierbare Gewichtung von einzelnen Anhaltspunkten seitens des türkischen Staats vorgenommen wird, ohne dass im Einzelfall von außen immer nachvollziehbar ist, ob und warum eine Person zugerechnet wird oder nicht. Dies gilt auch für den Kläger.
c) Der Kläger hat aber individuell im Fall einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Fall einer Rückkehr glaubhaft eine Verfolgung wegen einer Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu befürchten – bis hin zu Inhaftierung und Strafverfahren -, da er im Zusammenhang mit einer langjährigen Vereinstätigkeit in – aus Sicht des türkischen Staats als Verfolger – der Gülen-Bewegung zugerechneten Vereinen in der Türkei und damit in Anknüpfung an eine ihm unterstellte politische Überzeugung als Verfolgungsmerkmal dieses Verfolgungsprofil individuell erfüllt.
aa) Der Kläger erfüllt nachweislich einige der Risikoprofil-Kriterien, welche der türkische Staat auf vermeintliche Gülen-Anhänger anwendet, auch wenn er selbst bis zu seiner Ausreise keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat, was sich insbesondere in der trotz strenger Ausreisekontrollen unbehelligten Ausreise auf dem Luftweg am 9. November 2016 zeigt. Dass seine Wohnung durchsucht und er angerufen und zur Meldung bei der Polizei aufgefordert worden sein soll, war jedenfalls noch keine über normale polizeiliche Ermittlungstätigkeit hinausgehende Handlung, insbesondere noch keine Verfolgungshandlung. Gegen eine landesweite Verfolgung sprach die unbehelligte Ausreise.
Der Kläger kann daher zwar nicht auf konkrete Verfolgungshandlungen von einigem Gewicht verweisen, die als Vorverfolgung zu o.g. Beweiserleichterung führte. Er hat aber in der Gesamtschau so viele einzelne Merkmale in seiner Person erfüllt, dass im Fall seiner Rückkehr in die Türkei seine Zurechnung zur Gülen-Bewegung durch den türkischen Staat hinreichend wahrscheinlich ist:
Erstens hat der Kläger ausweislich der Kopie eines Auszugs aus dem UYAP-System und der durch das Bundesamt veranlassten Übersetzung (BAMF-Akte Bl. 102) einen Haftbefehl der Oberstaatsanwaltschaft * vorgelegt, der inhaltlich und nach dem Aktenzeichen von der Kopie des Dokuments der Oberstaatsanwaltschaft, Büro zur Ermittlung von Vergehen gegen die verfassungsmäßige Grundordnung, Schreiben vom 4. November 2016, Aktenzeichen, an das Polizeipräsidium, Büro zur Bekämpfung von Schmuggel und organisiertem Verbrechen (VG-Akte Bl. 23 ff.) gedeckt wird. Damit wird der Kläger also in der Türkei per Haftbefehl gesucht; dieser ist nur vor seiner Ausreise noch nicht vollstreckt worden.
Zweitens lässt sich dem zeitlich und sachlich dem soeben genannten Haftbefehl vorausgehenden polizeilichen Ermittlungsprotokoll vom 2. November 2016 mit Aufzählung unter anderem des Klägers mit Ausweisnummer und Mobilfunknummer sowie Personendaten, entnehmen, dass er danach in der Liste der Nutzer von ByLock steht und u.a. wegen eines Sozialversicherungseintrags u.a. der Mitgliedschaft beim Verein * als Unterstützer der Terrororganisation „FETÖ“ eingestuft wird (VG-Akte Bl. 31), mithin in die Kategorie der aus türkischer Sicht Terrorverdächtigen fällt.
Drittens belegt die Verfügung/Ermittlungsauskunft der Generalstaatsanwaltschaft * vom 2. März 2018 betreffend auch den Kläger (VG-Akte Bl. 32 ff.) eine Fortdauer des staatlichen Interesses an seiner Person und Ergreifung.
Viertens ergeben sich weitere Anhaltspunkte aus seiner Biographie wie die langjährige Öffentlichkeitstätigkeit in aktiver Mitgliedschaft u.a. in zwei Gülennahen und staatlich mittlerweile geschlossenen Vereinen sowie dem Innehaben eines Kontos bei der Bank, welche der türkische Staat der Gülen-Bewegung zurechnet und geschlossen hat.
Und er ist sechstens Ziel einer gegen ihn geführten polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte, worin laut einem Schreiben seiner in der Türkei bevollmächtigten Rechtsanwältin * ein als Anlage beigefügter Beschluss über die Beschränkung der Akteneinsicht ergangen sei, wie er gerichtsbekannt typischerweise in noch offenen Strafverfahren gegen Gülen-Verdächtige erlassen wird, was nach der nachvollziehbaren Einschätzung der Rechtsanwältin dafür spricht, dass er konkret der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verdächtigt und im Fall einer Rückkehr verhaftet würde. Schließlich hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung noch einen gegen ihn und weitere Personen erlassenen Haftbefehl der 2. Strafkammer des Amtsgerichts * vom 11. August 2016, Az., mit Übersetzung vorgelegt, den er in der mündlichen Verhandlung über e-Devlet im UYAP-Datenbestand betreffend einen ebenfalls im Haftbefehl genannten *i am Gerichtscomputer auch aufrief und öffnete (Protokoll vom 4.8.2020 S. 4).
Soweit er sechstens auch Abonnements der Zeitungen „Zaman“ und „Bugün“ gehabt haben will, hat er diese aber nicht vermittelt. Die Zeitungen Zaman und Bugün wurden vom türkischen Staat der Gülen-Bewegung zugeordnet und geschlossen. Zwar gilt der Besitz von Zeitung- und Zeitschriftenabonnements als solcher dort nicht als Beweis für eine Mitgliedschaft in einer Terrororganisation. Gegen Personen, die Gülennahe Zeitungen weitervermittelt haben und für Abonnements geworben haben, wird aber juristisch vorgegangen, wie die hierzu eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.8.2020 [richtig wohl: 8.1.2020], VG-Akte Bl. 123 ff. zu Frage 11) ergab. zu dieser letztgenannten Gruppe von Zeitschriftenwerbern gehört der Kläger aber nicht.
bb) Der Kläger kann im Fall einer Rückkehr in die Türkei nicht mit einem fairen rechtsstaatlichen Strafverfahren rechnen, so dass gegen ihn bereits eingeleitete oder noch eingeleitete Ermittlungsverfahren nicht lediglich der jedem Staat grundsätzlich zustehenden Strafverfolgung dienen, sondern der Verfolgung vermeintlicher Regimegegner i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung („FETÖ“).
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits wurden der Türkei Fortschritte im Bereich der Justiz bescheinigt, andererseits bestehen auch erhebliche Defizite (z.B. teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft). Die Notstandsverordnungen und Gesetzesänderungen im Nachgang des Putschversuchs vom Juli 2016 haben die Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt; Massenentlassungen und der Ersatz erfahrener Richter und Staatsanwälte durch unerfahrenes Personal haben zu Kapazitätsengpässen in der Justiz geführt und neben dem auf die Justiz ausgeübten politischen Druck die Aussicht auf ein ordnungsgemäßes und faires Verfahren eingeschränkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 14 f. – im Folgenden: Lagebericht; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21 f.). Ebenso wurde im zweiten Anlauf der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK), welcher u.a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf dieser Justizbediensteten entscheidet, einer stärkeren Kontrolle des Justizministeriums unterworfen; im Nachgang zum Putschversuch wurde ein nicht unerheblicher Teil des HSK-Personals (insgesamt 14.993) im Rahmen von Versetzungen ausgetauscht. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden außerdem 4.166 Richter und Staatsanwälte entlassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21). Insbesondere in Verfahren wegen des Vorwurfs einer Mitgliedschaft in der PKK, DHKP-C und „FETÖ“ könne nur noch sehr eingeschränkt von einer unabhängigen Justiz ausgegangen werden (vgl. Lagebericht ebenda S. 14; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.).
Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Anders als bei Fällen von allgemeiner Kriminalität sind in Verfahren mit politischen Tatvorwürfen bzw. Terrorismusbezug unabhängige Verfahren kaum bzw. zumindest nicht durchgängig gewährleistet, insbesondere werden im Südosten Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der PKK oder KCK sowie Fälle mit Gülen-Bezug häufig als geheim eingestuft und eine Akteneinsicht von Verteidigern, bisweilen auch ihre Teilnahme an Befragungen unterbunden. Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. So reicht für diese Personengruppe u.a. die maximale Dauer des Polizeigewahrsams zunächst 7 Tage mit einer einmaligen Verlängerung um weitere 7 Tage. Außerdem wurde für die Strafverfolgungsbehörden die Möglichkeit geschaffen, das Recht von inhaftierten Beschuldigten, ihren Verteidiger zu treffen, für 24 Stunden einzuschränken bzw. für diese Zeit auch jeden Kontakt zu verbieten, nachdem Teile dieser Bestimmungen durch eine Änderung der Notstandsverordnungen vom 23. Januar 2017 rückgängig gemacht wurden. Die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern kann audio-visuell überwacht werden; in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen wurde der überwachte Kontakt mit dem Verteidiger auf bis zu eine Stunde pro Woche in Anwesenheit eines Beamten reduziert und wird mittlerweile wieder zeitlich unbeschränkt gewährleistet (vgl. Lagebericht ebenda S. 15; zu den Verurteilungen am Putsch Beteiligter BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12).
Grundsätzliche Probleme werfen die Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte auf, die wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts Angeklagten beistanden und teils deswegen selbst verhaftet wurden. Angeklagte in diesen Verfahren wegen „Terrorismus“-Verdachts haben Schwierigkeiten, überhaupt noch vertretungsbereite Rechtsanwälte zu finden (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 14 ff.). Gegen der Gülen-Bewegung nahestehende Rechtsanwälte, denen z.T. auch Stellungnahmen zu laufenden Asylverfahren in Deutschland zugeschrieben werden, wurden Haftbefehle erlassen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 10.4.2019 an das VG Regensburg, S. 2 zu Frage 5). Bis heute wurden mehr als 1.500 Anwälte strafrechtlich verfolgt, 599 Anwälte festgenommen und 321 Anwälte wegen einer Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation oder wegen der Verbreitung terroristischer Propaganda zu Haftstrafen verurteilt (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 24).
Grundsätzlich kommt es nicht zu einer Verurteilung, wenn der Angeklagte bei Gericht – etwa durch Abwesenheit – nicht wenigstens einmal gehört werden konnte. Es kommen dann die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Lagebericht ebenda S. 16).
Dies zusammen genommen hat der Kläger wegen eines Terrorverdachts („FETÖ“) – anders als vielleicht allgemeiner Kriminalität Tatverdächtige – nicht mehr mit einem rechtsstaatlichen Verfahren zu rechnen, da einerseits die Unabhängigkeit der Justiz durch die Entlassungswellen massiv gemindert wurde, andererseits die Chance, auf vertretungsbereite Anwälte als Strafverteidiger zu treffen, wegen der Verhaftungswellen gegen Rechtsanwälte für Gülen-Anhänger ebenfalls nicht mehr gewährleistet ist.
cc) Die Kläger hat daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Anknüpfung an seine politische oder religiöse Überzeugung als Verfolgungsmerkmal zu befürchten.
Wie bereits ausgeführt, hat sich der Kläger zwar nicht in leitender aber doch in öffentlichkeitswirksamer Funktion an Gülennahen Einrichtungen langjährig betätigt, was in das Risikoprofil für Gülen-Anhänger seitens des türkischen Staats fällt.
Würde der Kläger deswegen seitens des türkischen Staats der Gülen-Bewegung zugerechnet und tatsächlich verfolgt, handelte es sich auch um eine flüchtlingsrelevante Verfolgung, da er sich nach seinem gesamten Vorbringen vor dem Bundesamt nicht wegen allgemeiner Kriminalität strafbar gemacht hat und hierfür auch sonst keine Anhaltspunkte vorliegen. Vielmehr handelte es sich dann im Falle von Ermittlungsverfahren um staatliche Maßnahmen zur Verfolgung vermeintlicher Terrorverdächtiger, hier also Anhängern oder Helfern der Gülen-Bewegung („FETÖ“). Solche Ermittlungsverfahren sind auch Verfolgungsmaßnahmen, denn im Fall einer Ergreifung hätte der Kläger nicht nur mit einer Verurteilung, sondern vor allem auch mit einem nicht rechtstaatlichen Strafverfahren zu rechnen (vgl. oben).
Entgegen der früheren Einschätzung durch das Bundesamt wird der Vortrag des Klägers durch die nachgereichten o.g. Unterlagen und sogar ihren Aufruf in der mündlichen Verhandlung bestätigt, so dass davon auszugehen ist, dass er seitens des türkischen Staats tatsächlich der Gülen-Bewegung (staatlicherseits als „FETÖ“ bezeichnet) zugerechnet wird.
Ob diese Organisation eher als politische oder als religiöse Bewegung anzusehen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden, da in beiden Fällen die Zurechnung durch den türkischen Staat dieselbe ist und ihr der Kläger auch aus innerer Überzeugung angehörte bzw. diente.
dd) Dem Kläger droht unter Würdigung seines Vorbringens und der nachgereichten Unterlagen auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Fall seiner Rückkehr, selbst wenn der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hier mangels Vorverfolgung (vgl. oben) nicht reduziert ist.
Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Fall einer Rückkehr in die Türkei ergibt sich zwar nicht schon aus den von ihm vor dem Bundesamt geschilderten Maßnahmen gegen die Einrichtungen, an denen er tätig bzw. beschäftigt war, oder dort beschäftigten Kollegen des Klägers. Diese waren organisationsbezogen oder individuell aber nicht gegen ihn personenbezogen. Sie ergibt sich aber aus dem gegen den Kläger geführten Ermittlungsverfahren, dem gegen ihn (und zahlreiche weitere Personen) am 18. November 2016 und damit 10 Tage nach seiner unbehelligten Ausreise erlassenen Haftbefehl und der greifbaren Wahrscheinlichkeit einer Gülen-Zurechnung.
Die beachtliche Wahrscheinlichkeit folgt auch aus der Gesamtschau der erfüllten Risikoprofil-Kriterien und der seitherigen Entwicklung in der Türkei, für welche auch die Fortführung des o.g. Ermittlungsverfahrens ein konkretes Indiz ist.
ee) Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da als „FETÖ“-Anhänger verdächtigte Personen bereits im Jahr 2016, erst recht aber in der Folgezeit in den Blick der türkischen Sicherheitsbehörden geraten sind und im vorliegenden Einzelfall angesichts des Gesamtzusammenhangs mit ihrer Tätigkeit von einem nicht nur lokalen oder regionalen sondern landesweiten staatlichen Ergreifungsinteresse auszugehen ist.
In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei dieser Personenkontrolle können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 28 f.). Die Einreisekontrollen wurden bereits im Zuge der Flüchtlingskrise verstärkt, nicht erst seit dem Putschversuch (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3), nun aber gezielter mit Listen mutmaßlicher Gülen- oder PKK-Anhänger (Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 2). Ein abgelehnter kurdischer Asylbewerber läuft bei der Rückkehr nicht Gefahr, allein wegen seiner Volkszugehörigkeit verhaftet zu werden; hat er sich in Deutschland für kurdische Rechte oder Organisationen aktiv eingesetzt oder z.B. regelmäßig an pro-kurdischen Demonstrationen teilgenommen, erhöht dies das Risiko (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 3 f., 28 f.; auch SFH ebenda S. 2, 3, 10 f.).
Angesichts der offiziellen Denunziationsaufrufe amtlicher türkischer Stellen auch in Deutschland in Tageszeitungen und DITIB-Moscheen ist aber damit zu rechnen, dass türkische Staatsangehörige in der Türkei und auch in Deutschland ihren Heimatbehörden Personen gemeldet haben, denen sie eine Nähe zur PKK oder zur Gülen-Bewegung nachsagen (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 25 ff.; AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 1; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3). Wenn bei der Einreisekontrolle festgestellt wird, dass für die Person ein Eintrag im Fahndungsregister besteht, wird die Person in Polizeigewahrsam genommen. Wenn festgestellt wird, dass ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, wird die Person ebenfalls in Polizeigewahrsam genommen (vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das BAMF vom 17.10.2016, S. 2). Im sich anschließenden Verhör durch einen Staatsanwalt oder durch einen von ihm bestimmten Polizeibeamten, wird der Festgenommene mit den schriftlich vorliegenden Anschuldigungen konfrontiert, ein Anwalt in der Regel hinzugezogen. Der Staatsanwalt verfügt entweder die Freilassung oder überstellt den Betroffenen dem zuständigen Richter mit dem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls. Bei der Befragung durch den Richter ist der Anwalt ebenfalls anwesend. Wenn auf Grund eines Eintrages festgestellt wird, dass ein Strafverfahren anhängig ist, wird die Person bei der Einreise festgenommen und der Staatsanwaltschaft überstellt. Ein Anwalt wird hinzugezogen und eine ärztliche Untersuchung vorgenommen. Der Staatsanwalt überprüft von Amts wegen, ob der Betroffene von den Amnestiebestimmungen der Jahre 1991 oder 2000 profitieren kann oder ob Verjährung eingetreten ist, dann wird der Festgenommene freigelassen (vgl. Lagebericht ebenda S. 29; zur Verjährungsprüfung auch Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 20.5.2016, S. 1 f. zu Aktivist für „ATIF“, „Partizan“ und TKP-ML; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2).
Verurteilungen wegen im Ausland begangener Straftaten ziehen nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts keine Sanktionen türkischer Behörden nach sich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2), soweit es sich nicht um eine politisch motivierte Straftat handele (vgl. SFH ebenda S. 10).
ff) Da dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
2. Daher war der Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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