Verwaltungsrecht

Klage gegen Ablehnung des Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (wegen bestehendem Schutzstatus in Griechenland), Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung, da auch bei einem alleinstehenden, gesunden Mann die Gefahr einer gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht., Dieser könnte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten, wodurch er seine elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen könnte

Aktenzeichen  RO 13 K 20.31305

Datum:
14.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 26557
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Regensburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 13.07.2020 (Az. …) wird mit Ausnahme von Nr. 3 Satz 4 aufgehoben.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet. Nach der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 Asylgesetz (AsylG) maßgeblichen Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung verstößt die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gegen Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013). Der streitgegenständliche Bescheid ist daher insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
I. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Nach letzterer Vorschrift umfasst der internationale Schutz den Schutz vor Verfolgung nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und den subsidiären Schutz. Da dem Kläger unstreitig in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt wurde, wäre sein in Deutschland gestellter Asylantrag gem. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG grundsätzlich unzulässig.
Allerdings steht der Rechtmäßigkeit der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig dennoch entgegen, wenn dem Asylbewerber, wie im vorliegenden Fall anzunehmen ist, im Falle der Rückführung nach Griechenland eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. In diesen Fällen, in denen Asylbewerber bereits von einem Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt wurde, denen aber im Falle der Rückführung in diesen Mitgliedsstaat eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EuGRCh bzw. Art. 3 EMRK droht, verstößt die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gegen Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013) und ist insoweit rechtswidrig (vgl. EuGH B.v. 13.11.2019 – C-540/17, C-541/17 sowie Urteil v. 19.03.2019 – C-297/17).
1. Griechenland ist als Mitgliedstaat der EU grundsätzlich den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards eines gemeinsamen Asylsystems verpflichtet. Es besteht deshalb die auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens basierende Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber dort den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta (EU-GR-Charta) sowie der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und der EMRK entspricht. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das griechische Asylsystem im Allgemeinen im Einklang mit den internationalen und europäischen Standards steht und die wichtigsten Garantien einhält (sog. “Konzept normativer Vergewisserung”, vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 Az. 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris). Die Bundesrepublik Deutschland hat aber Schutz zu gewähren, wenn Abschiebungshindernisse durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung berücksichtigt werden können. Eine Prüfung, ob der Zurückweisung oder sofortigen Rückverbringung in den Drittstaat ausnahmsweise Hinderungsgründe entgegenstehen, kann nur erreicht werden, wenn es sich aufgrund bestimmter Tatsachen aufdrängt, dass einer der im normativen Vergewisserungskonzept nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen ist. An diese Darlegung sind strenge Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 a.a.O.). Art. 3 EMRK kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten verpflichtet, jede auf dem Hoheitsgebiet befindliche Person mit einer Unterkunft zu versorgen. Auch enthält Art. 3 EMRK keine generelle Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützungen zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, U.v. 30.6.2015 Az. 39350/13, A.S./Schweiz – juris; U.v. 21.1.2011 Az. 30696, M.S.S./Belgien u. Griechenland – juris).
Es verstößt demnach grundsätzlich nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn international Schutzberechtigte den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt sind und von ihnen erwartet wird, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen. Art. 3 EMRK gewährt grundsätzlich auch keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Sofern keine außergewöhnlich zwingenden humanitären Gründe vorliegen, die gegen eine Überstellung sprechen, ist allein die Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nach einer Überstellung erheblich verschlechtern würden, nicht ausreichend, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 Az. 27725/10; OVG NRW, U.v. 19.5.2016 Az. 13 A 1490/13.A – juris).
Hat ein Schutzsuchender oder eine als schutzberechtigt anerkannte Person hinreichend dargelegt, dass tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ihr nach einer Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist das mit der Rechtssache befasste Gericht – wie auch zuvor die mit der Sache befassten Behörden – verpflichtet, die aktuelle Sachlage aufzuklären, und die deutschen Behörden haben gegebenenfalls Zusicherungen der Behörden des zuständigen Mitgliedsstaates einzuholen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10.10.2019 – 2 BvR 1380/19 -, juris 15 f. und 18 f.). Das Gericht hat auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, U. v. 19.03.2019 – C-163/17 -, juris Rn. 90). Solche Schwachstellen erreichen allerdings erst dann die für die Annahme einer Verletzung von Art. 4 GRC bzw. des ihm entsprechenden Art. 3 EMRK besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EuGH, U. v. 19.03.2019 – C-163/17 -, juris Rn. 91 f.). Dies ist im Allgemeinen insbesondere der Fall, wenn die rückzuüberstellende Person in dem zuständigen Mitgliedsstaat ihren existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basis- bzw. Notbehandlung erhalten würde (vgl. BVerwG, U. v. 04.07.2019 – 1 C 45.18 -, juris Rn. 12). Die Mindestbedürfnisse werden auch schlagwortartig mit “Brot, Bett und Seife” zusammengefasst. Diese Schwelle ist aber selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17, C-541/17, U.v. 19.03.2019, C 297/17, C 318/17, C 319/17 Rn. 89 bis 91).
Bei der Gefahrenprognose, ob einer rücküberstellten Person im Zielland eine Verletzung von Art. 4 GRC droht, stellt der EuGH auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr (“serious risk”) ab (vgl. B. v. 13.11.2019 – C-540/17, C-541/17 sowie U. v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 -, juris). Dies entspricht dem Maßstab der tatsächlichen Gefahr (“real risk”) in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK bzw. der beachtlichen Wahrscheinlichkeit im nationalen Recht (BVerwG, Urteil vom 17.6.2020 – 1 C 35.19 -, juris Rn. 27). Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat sich das Gericht in einem Hauptsacheverfahren die volle Überzeugung von der Richtigkeit sowohl der Prognosebasis als auch der anhand des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu treffenden Prognose zu verschaffen (BVerwG, a.a.O., Rn. 28). Ob einem in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt Schutzberechtigten eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung droht, erfordert grundsätzlich, wie die Feststellung systemischer Mängel im Asylsystem, eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen (vgl. BVerfG, B. v. 21.4.2016 Az. 2 BvR 273/16 – juris).
2. Die Lage für nach Griechenland zurückkehrende anerkannte Schutzberechtigte stellt sich im Zeitpunkt der Entscheidung wie folgt dar:
a) Griechenland gewährt anerkannt Schutzberechtigten prinzipiell Zugang zu Bildung, zur Gesundheitsversorgung, zum Arbeitsmarkt und zur Sozialversicherung. In der Praxis sorgt jedoch – wie auch bei der einheimischen Bevölkerung – die defizitäre ökonomische und staatlich-administrative Situation des Landes für starke Einschränkungen bei der tatsächlichen Inanspruchnahme dieser Rechte (vgl. Bundesamt für …, Länderinformation: Griechenland, Stand: Mai 2017, S. 5 – nachfolgend: BAMF, Länderinformation vom Mai 2017). Das Fehlen von Integrationsmaßnahmen und die fortwährenden Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise in Griechenland führen oftmals zu einer Marginalisierung und sozioökonomischen Exklusion von anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland, 5.8.2016, S. 16 – nachfolgend: BFA, Länderinformationsblatt vom 5.8.2016). Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Schutzmaßnahmen haben die griechische Wirtschaft hart getroffen. Diese wird 2020 um 10% schrumpfen und sich 2021 allmählich und 2022 in stärkerem Ausmaß erholen. Zudem hat Griechenland mit 15,8% (Stand: Dezember 2020) die höchste Arbeitslosenquote innerhalb der EU. Der Durchschnitt der EU-27 liegt bei 7,3% (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Griechenland S. 5, nachfolgend: BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021).
Die griechische Regierung verweist anerkannte Schutzberechtigte für Unterstützungsmaßnahmen bei der Integration meist auf das Programm HELIOS. Bei HELIOS handelt sich um ein Projekt von IOM zur Integration von Schutzberechtigten, die in einer offiziellen Unterbringungseinrichtung leben. HELIOS ist das einzige aktuell in Griechenland existierende offizielle Integrationsprogramm für internationale Schutzberechtigte. Die Finanzierung erfolgt aus Mitteln des europäischen Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF); Umgesetzt wird das Programm von IOM in Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Das Programm wurde im Juli 2019 gestartet und hat eine Laufzeit bis Juni 2021. Neben Integrationskursen sowie einzelnen Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration beinhaltet es Unterstützung bei der Anmietung von Wohnraum. Voraussetzungen für den Zugang zu den Fördermaßnahmen von HELIOS ist aber, dass den Schutzberechtigten internationaler Schutz nach dem 1.1.2018 zuerkannt wurde, sie zum Zeitpunkt der Zustellung ihres Anerkennungsbescheids offiziell in einem Flüchtlingslager, einem Empfangs- und Identifikationszentrum (RIC), einem Hotel im Rahmen des IOM-Programms FILOXENIA oder einer Wohnung des ESTIA-Programms registriert gewesen sind und tatsächlich dort gelebt haben sowie die Anmeldung zu HELIOS nicht später als zwölf Monate nach Anerkennung des Schutzstatus erfolgt ist. Zudem benötigen die Teilnehmer zumindest die Residence Permit Card (RPC), eine Steuernummer, ein Bankkonto, Sozialversicherungsnummer und Wohnungsnachweis. Diese sind schwierig zu erlangen, der Erhalt dauert Wochen bis Monate. Keinen Zugang zu Fördermaßnahmen aus dem HELIOS-Programm haben demzufolge international Schutzberechtigte, die entweder vor dem 1. Januar 2018 internationalen Schutz erhalten haben oder die zwar nach dem 1. Januar 2018 anerkannt wurden, jedoch zum Zeitpunkt ihrer Anerkennung nicht in einer offiziellen Unterkunft in Griechenland gelebt haben, oder die sich nicht innerhalb eines Jahres nach Anerkennung für HELIOS registriert haben. Somit besteht in aller Regel für Schutzberechtigte, die aus anderen Ländern nach Griechenland zurückkehren, keine Möglichkeit, von HELIOS zu profitieren (vgl. zu vorstehendem: BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 21 f).
b) Zwar haben anerkannt Schutzberechtigte seit 2013 laut Präsidialdekret PD 141/2013, Artikel 33, Zugang zu Unterbringung unter den gleichen Bedingungen wie Drittstaatsangehörige, die sich legal in Griechenland aufhalten. Praktisch haben allerdings anerkannt Schutzberechtigte, die aus dem Ausland nach Griechenland zurücküberstellt werden, keinen Anspruch auf Unterbringung in einer staatlichen Unterkunft (BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 24).
In Griechenland existieren zwar verschiedene staatlicherseits zur Verfügung gestellte Unterkunftsarten. Dazu zählen Camps, die aus Notunterbringungen hervorgegangen sind, Hotels, Apartments und Einrichtungen die von Nichtregierungsorganisationen geführt werden (AIDA, Country Report: Greece, Stand: 31.12.2019, Seite 148, https://bit.ly/36lduPV, Abruf: 28.1.2021, im Folgenden: AIDA 31.12.2019). Ein Platz in einer solchen Unterkunft wird jedoch selbst für Personen, die nach Anerkennung internationalen Schutzes das Land nicht verlassen haben, nach der Anerkennung nicht mehr gewährt. Davon sind auch alle Bewohner einer im Rahmen des sogenannten ESTIA-Programms zur Verfügung gestellten Wohnung betroffen. Im Rahmen dieses Programms wurde Asylbewerbern für die Zeit des Asylverfahrens eine Unterkunft gestellt. Nach Zuerkennung internationalen Schutzes haben die so Untergebrachten aber keinen Anspruch mehr darauf, in dieser Unterkunft zu verbleiben. Vielmehr müssen diese Personen wie auch alle anderen in den oben genannten Unterkünften untergebrachten Personen nach einer Gesetzesänderung, die am 1. Januar 2020 in Kraft trat, innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Anerkennung der Schutzberechtigung die Unterkünfte für Asylsuchende ohne Verzögerung verlassen. Diese Frist wurde durch eine weitere Änderung des Asylgesetzes im März 2020 auf 30 Tage verkürzt. Seit Anfang Juni 2020 setzt die griechische Regierung diese Vorschrift um. Jedenfalls gab es zahlreiche Berichte über obdachlose Flüchtlinge. Medien und NGOs dokumentierten, dass viele von ihnen Schwierigkeiten beim Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen auf dem Festland hatten und in Athen im Freien schliefen (vgl. zu vorstehendem: ProAsyl/RSA, Stellungnahme “Zur aktuellen Situation von international Schutzberechtigten in Griechenland, April 2021”, Abruf: 13.07.2021, im Folgenden: ProAsyl, Stellungnahme April 2021).
In Griechenland existiert keine staatliche Unterstützung für international Schutzberechtigte beim Zugang zu Wohnraum, es wird auch kein Wohnraum von staatlicher Seite bereitgestellt (ProAsyl, Stellungnahme April 2021; BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 24). Auch gibt es keine Sozialwohnungen und auch keine Unterbringung dezidiert für Schutzberechtigte. Laut einer Webseite der Stadt Athen gibt es vier Unterbringungseinrichtungen mit insgesamt 600 Plätzen, die jedoch bei weitem nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Viele Betroffene sind daher obdachlos, leben in besetzten Gebäuden oder überfüllten Wohnungen (BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 24). Wohnbeihilfe bekommt man erst, wenn man per Steuererklärung seinen Wohnsitz über mehr als fünf Jahre in Griechenland nachweisen kann (BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 24) NGOs, wie etwa Caritas Hellas bieten gemischte Wohnprojekte an. Die Zahl der Unterkünfte in Athen – auch der Obdachlosenunterkünfte – ist jedoch insgesamt nicht ausreichend (BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 24). Aktuell soll es laut Auskunft von ProAsyl keinen Wohnraum oder Wohnunterstützung durch Hilfsorganisationen geben (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, Seite 10). Als Reaktion darauf, dass anerkannt Schutzberechtigte ohne Unterkunft sich immer wieder im Stadtzentrum von Athen versammelt hatten, wurden diese in einer Abschiebungshaftanstalt in der Nähe Athens untergebracht. Dort blieben sie unregistriert sich selbst überlassen. Sie wurden vor die Wahl gestellt, entweder in dieser Haftanstalt zu verbleiben oder diese ohne Rückkehrmöglichkeit zu verlassen. Die Tore zur Haftanstalt waren verschlossen (RSA, Recognised but unprotected: The situation of refugees in Victoria Square, 3.8.2020, https://bit.ly/3p34Cow, Abruf: 15.4.2021).
Eine Anmietung von Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt kommt zumindest dann nicht Betracht, wenn die rücküberstellten Personen nicht über ausreichende Finanzmittel verfügen, die sie mit eigener Erwerbstätigkeit nicht erlangen können. Dabei ist auch in Betracht zu ziehen, dass anerkannt Schutzberechtigte nicht nur die Mittel für die laufenden Mietzahlungen benötigen, sondern auch für die Hinterlegung einer Mietkaution (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, S. 9).
Selbst wenn solche Mittel vorhanden sind, wird eine Wohnungssuche durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, hilfsweise Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich auch durch Vorurteile erschwert (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, Seite 9; AA vom 26.9.2018 an das VG Schwerin, Seite 5; BAMF, Länderinformation: Griechenland, Stand: Mai 2017, Seite 6). Zudem ist es sehr teuer, eine geeignete Unterkunft zu finden (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Griechenland vom 5.8.2016, S. 16.).
Es besteht für anerkannte Schutzberechtigte auch keine realistische Möglichkeit, sich auf dem Rechtsweg eine Unterkunft zu verschaffen. Rechtsbehelfe vor Verwaltungsbehörden oder Gerichten nehmen überdies oft Jahre in Anspruch, sind für anerkannte Flüchtlinge oft nicht zugänglich und für diese deshalb unwirksam (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, S. 22).
c) Zwar besteht grundsätzlich ein gesetzlich verankerter unmittelbarer Zugang zum Arbeitsmarkt für anerkannt Schutzberechtigte. Mit einer gültigen Aufenthaltserlaubnis haben diese unter den gleichen Bedingungen wie griechische Staatsangehörige Zugang zu einer Beschäftigung im Angestelltenverhältnis, zur Erbringung von Dienstleistungen oder Arbeit sowie das Recht, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben. Wichtig für eine legale Beschäftigung ist der Nachweis einer gültigen Aufenthaltserlaubnis. Voraussetzung ist u.a. der Nachweis der Unterkunft: Wenn der Schutzberechtigte in einer offenen Unterkunft, einer Wohnung oder einer Aufnahmeeinrichtung einer NGO oder eines anderen Akteurs wie z. B. einer Gemeinde wohnt, kann er von der die Unterkunft verwaltenden Stelle eine Bescheinigung zum Nachweis der Adresse anfordern. Bei Beherbergung durch eine griechische Person oder einen anderen Migranten oder anerkannten Flüchtling muss der Schutzberechtigte von eben dieser Person eine offizielle, schriftliche Beherbergungsbestätigung vorlegen, die zudem die Steuernummer und die in einem Bürgerzentrum beglaubigte Unterschrift des Unterkunftsgebers enthält (vgl. zu Vorstehendem: BFA, Länderinformationsblatt vom 31.05.2021, S. 26)
Tatsächlich aber behindern die hohe Arbeitslosigkeit, fehlende Sprachkenntnisse und bürokratische Hindernisse diesen Zugang, außer im informellen Sektor. Die Chancen zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes sind ohnehin gering. Die staatliche Arbeitsagentur OAED hat bereits für Griechen kaum Ressourcen für die aktive Arbeitsvermittlung und noch kein Programm zur Arbeitsintegration von Flüchtlingen aufgelegt. Migration in den griechischen Arbeitsmarkt hat in der Vergangenheit vor allem in den Branchen Landwirtschaft, Bauwesen, haushaltsnahe und sonstige Dienstleistungen stattgefunden. Allerdings haben sich die Arbeitschancen deutlich verschlechtert (BFA, Länderinformationsblatt der Staaten Dokumentation: Griechenland, Stand: 19.3.2020, Seite 31).
d) Anerkannt Schutzberechtigte haben gleichberechtigten Zugang zum allgemeinen staatlichen Sozialsystem, welches im Februar 2017 neu eingeführt wurde (sog. Soziales Solidaritätseinkommen). Hierzu zählt eine Sozialgeldzahlung von monatlich 200 Euro für einen Erwachsenen, 100 Euro für ein weiteres erwachsenes Haushaltsmitglied und 50 Euro pro Kind im Haushalt (vgl. AA an VG Schwerin vom 26.9.2018.). Mittlerweile ist es auch in der Praxis möglich, die Voraussetzungen für den Erhalt des Sozialgeldes zu erfüllen. Sie sehen sich jedoch im Vergleich zu Personen, die Griechenland nicht verlassen haben, besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Diese liegen in den Leistungsvoraussetzungen des griechischen Sozialstaats, wonach ein dauerhafter und legaler Aufenthalt im Inland Leistungsvoraussetzung ist. Dabei wird der dauerhafte Aufenthalt grundsätzlich mit einer inländischen Steuererklärung des Vorjahrs dokumentiert (vgl. AA an VG Schwerin vom 26.9.2018, S. 3.; AA an VG Köln vom 7.2.2018). Die notwendigen Unterlagen sind dabei grundsätzlich online und in griechischer Sprache einzureichen; staatlicherseits werden keine Dolmetscher gestellt (vgl. AA an VG Köln vom 7.2.2018, S. 3 AA an VG Leipzig 27.12.2017). Jüngeren Auskünften des Auswärtigen Amts zufolge ist sogar ein Voraufenthalt von zwei Jahren erforderlich (AA an das VG Leipzig vom 28.1.2020, Seite 2 f., n.v., und an das VG Berlin vom 4.12.2019). Faktisch steht das garantierte Mindesteinkommen daher international Schutzberechtigten, die aus anderen Ländern nach Griechenland zurückkehren, nicht zur Verfügung (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, Seite 19). Schutzberechtigte haben auch keinen Anspruch auf Leistungen aus dem sogenannten “Cash-Card-System” des UNHCR. Denn Mittel aus diesem System stehen nur Asylbewerbern zur Verfügung (AA, Auskunft an VG Leipzig vom 28.1.2020, Seite 2; BFA, Länderinformationsblatt, 31.05.2021, S. 21).
e) Schutzberechtigte haben grundsätzlich Zugang zu medizinischer Versorgung wie griechische Staatsangehörige, in der Praxis schmälert aber der Ressourcenmangel im griechischen Gesundheitssystem diesen Zugang, was aber in gleichem Maße auch für griechische Staatsbürger gilt. Bei Flüchtlingen kommen jedoch auch Verständigungsschwierigkeiten und Probleme beim Erlangen der Sozialversicherungsnummer (AMKA) hinzu (BFA, Länderinformationsblatt, 31.05.2021, S. 25). Die COVID-19-Krise hat Griechenland dazu veranlasst, die Kapazitäten in allen Bereichen des – in den letzten Jahren vernachlässigten – Gesundheitssystems zu stärken. Während der Pandemie hat Griechenland durch Anpassung der festgelegten Gesundheitsstandards versucht, die Asylleistungen aufrechtzuerhalten. Um unnötige Wartezeiten zu vermeiden, wurden Termine telefonisch oder als elektronische Termine vereinbart. Die damit verbundene zunehmende Digitalisierung öffentlicher Dienste hat die Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung für international Schutzberechtigte verschärft (BFA, Länderinformationsblatt, 31.05.2021, S. 25). Nach Angaben von Hilfsorganisationen haben etwa obdachlose Menschen oftmals nicht die Möglichkeit, online Termine zu buchen, und sind daher auf Unterstützung angewiesen (ProAsyl, Stellungnahme April 2021, Seite 19).
f) Auch die tägliche Lebenshaltung stellt viele Schutzberechtigte vor große Probleme. Da sie griechischen Staatsbürgern gleichgestellt sind, gibt es von offizieller Seite kaum Unterstützung für diesen Personenkreis. Einige NGOs in Athen (wie etwa KHORA, Network for Refugees, Hope Cafe, …) stellen kostenlos – aber bei weitem nicht in ausreichendem Maße, um alle Bedürftigen zu versorgen – Essen zur Verfügung. Die Bereitstellung von z.B. Hygiene- und Toilettenartikel gestaltet sich sehr schwierig; hierfür gibt es nur sehr wenige Anlaufstellen. Einige Gemeinden in Griechenland bieten anerkannten Schutzberechtigten auf freiwilliger Basis bzw. mittels Abkommen mit der griechischen Regierung monatliche Unterstützung für Essenszuteilungen an (nur Essen, kein Geld). Voraussetzungen hierfür sind das Vorliegen von RPC, AMKA-Nummer, Steuernummer, Bankkonto, Mietvertrag und Telefonvertrag für eine gültige SIM-Karte. Jede einzelne dieser Voraussetzungen ist schwierig zu erfüllen und mit großem Zeitaufwand verbunden. Somit kommen nur sehr wenige Berechtigte in den Genuss derartiger Unterstützungsleistungen (vgl. zu Vorstehendem: BFA, Länderinformationsblatt, 31.05.2021, S. 25).
3. Gemessen an den oben (vgl. I. 1) dargestellten Grundsätzen und den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen (vgl. I.2) besteht für den Kläger, dem in Griechenland bereits internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die Gefahr einer gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung. Denn das Gericht ist nach Auswertung aller herangezogenen Erkenntnismittel zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten und seine elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife”) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können wird (ebenso: OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris; für vulnerable Personengruppen: BayVGH, B.v. 25.06.2019 – 20 ZB 19.31553; a. A. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 6.9.2019 – 4 LB 17/18 -, juris; VG Ansbach, U.v. 10.02.2021 – AN 17 K 18.50427).
Zusammengefasst besteht für den Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, nach einer Rücküberstellung nach Griechenland obdachlos zu werden. Aufgrund des Mangels an Unterbringungskapazitäten greifen anerkannt Schutzberechtigte, einschließlich Vulnerable, auf Notunterkünfte zurück oder bleiben in den städtischen Gebieten von Athen, Thessaloniki und Petra obdachlos. Andere leben unter prekären Bedingungen in besetzten oder verlassenen Gebäuden ohne Zugang zu Strom oder Wasser (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 16). Der Kläger kann nicht auf solche “informelle Möglichkeiten” der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden. Denn abgesehen von der Illegalität dieser Unterkunftsform sind diese Gebäude wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände unzumutbar (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris.). Diese Situation hat sich durch die Auflösung von Flüchtlings-Camps auf den ägäischen Inseln und die Erschwernisse infolge der Corona-Krise noch verschärft (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 – juris; OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A – juris). Dass Obdachlosigkeit kein augenscheinliches Massenphänomen darstellt, trifft jedenfalls aktuell nicht mehr zu. Selbst in der deutschen Presse wird umfänglich über obdachlose anerkannte Schutzberechtigte in Athen berichtet (vgl. etwa Redaktionsnetzwerk Deutschland, “Flüchtlinge in Athen: Ein Leben wie menschliches Treibgut”, 20.10.2020, http://bit.ly/36E8LsO, Abruf: 6.4.2021; Der Spiegel, Plötzlich vor dem Nichts, 6.6.2020, https://bit.ly/3wwkvZH, Abruf: 6.4.2021). Wo staatliche Unterstützung fehlt, kann allenfalls auf die gezielte Unterstützung der NGOs für Flüchtlinge und Migranten zurückgegriffen werden. Allerdings sind auch diese Organisationen nicht in der Lage, die erforderlichen Unterstützungen flächen- und bedarfsdeckend abzudecken (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 24; ProAsyl Stellungnahme April 2021). Ferner ist der Umstand zu berücksichtigen, dass anerkannt Schutzberechtigte, anders als die griechische Bevölkerung, nicht über ein familiäres Netzwerk verfügen, welches in Griechenland bei der sozialen Absicherung eine besondere Rolle spielt (vgl. AA vom 26.9.2018 an das VG Schwerin). Diese sich aus den Erkenntnismitteln ergebende allgemeine Lage wird auch durch die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Er habe einige Monate vor seiner Ausreise aus Griechenland im Februar 2020 aus der ihm zur Verfügung gestellten Unterkunft ausziehen müssen. Er habe zwar versucht bei seiner Familie im Flüchtlingscamp sowie bei Freunden in einem anderen Hotel unterzukommen. Allerdings habe dies nicht funktioniert, da er als anerkannt Schutzberechtigter keine Berechtigung für eine derartige Unterkunft gehabt habe. Auch seine Freunde haben ihn zum Verlassen ihrer Unterkunft aufgefordert, da man Angst vor den Verantwortlichen gehabt habe, wenn herauskommen sollte, dass man auch den Kläger beherberge. Eine Unterstützung durch NGOs habe er nicht erhalten. Keiner seiner Freunde bzw. Bekannten habe ihm eine Unterkunft vermitteln können. Er habe für ca. einen Monat auf der Straße gelebt.
Der Kläger wird ferner mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle seiner Rücküberstellung nach Griechenland nicht in der Lage sein, mit Erwerbstätigkeit die finanziellen Mittel zu erlangen, die er für die Versorgung mit den für ein Überleben notwendigen Gütern benötigt. Die Ausstellung zahlreicher, für die Aufnahme einer offiziellen Erwerbstätigkeit benötigter Dokumente ist an hohe Voraussetzungen geknüpft und teils wechselseitig vom Vorhandensein weiterer Dokumente abhängig (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 -, Rn. 53 ff). Als letzte Möglichkeit verbleibt eine Erwerbstätigkeit im ungeregelten Arbeitsmarkt bzw. in der sogenannten “Schattenwirtschaft”. Einige Sektoren der griechischen Wirtschaft wie etwa der Tourismus und die Landwirtschaft sind zwar vor der Corona-Pandemie teilweise von schwarzarbeitenden Migranten abhängig gewesen, jedoch bedeutet dies bei weitem nicht, dass anerkannte Schutzberechtigte auch eine Tätigkeit, die ihre Versorgung mit den für ein Überleben notwendigen Gütern sichergestellt hätte, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit hätten finden können (OVG Lüneburg, U. v. 19.04.2021 – 10 LB 244/20 -, Rn. 62 ff). Griechenland leidet nunmehr sehr stark unter dem mit der Corona-Pandemie verbundenen Wirtschaftseinbruch, insbesondere im Tourismus (vgl. BFA Länderinformationsblatt Griechenland, 31.05.2021, S. 5), sodass erst recht nicht davon auszugehen ist, dass der ungeregelte Arbeitsmarkt anerkannten Schutzberechtigten ein zum Überleben ausreichendes Einkommen sichern kann. Auch dies bestätigt der Kläger mit seinen Ausführungen, dass er überall nach einer Arbeit gefragt habe, aber Griechenland sei voll mit Flüchtlingen und keiner habe eine Arbeit erhalten.
Da der Kläger in Ermangelung eines längerfristig bestehenden, legalen Aufenthalts auch keine Sozialleistungen erhalten kann und letztlich praktisch auch nur in ganz geringem Maße Unterstützung von NGOs gewährleistet wird (Diese Hilfsmaßnahmen, die ergänzt werden durch Hilfen der orthodoxen Kirche und der Zivilgesellschaft, können aber lediglich als “elementares Auffangnetz gegen Hunger und Entbehrungen” bezeichnet werden (vgl. AA, Auskunft an das VG Schwerin vom 26.9.2018, Seite 4)) droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit innerhalb kürzester Zeit Verelendung und ein Leben unter menschenrechtswidrigen Bedingungen. Auch wenn dem Kläger als erwachsenen und gesunden Mann ohne Unterhaltspflichten vorübergehend auch schwierige Verhältnisse zugemutet werden können, ist bei den oben dargestellten Bedingungen selbst bei der Annahme, dass er sich ohne Einschränkung der Alltagsbewältigung und Erwirtschaftung seines Lebensunterhalts widmen kann, nicht davon auszugehen, dass er sich ein menschenwürdiges Existenzminimum in absehbarer Zeit wird erwirtschaften können. Denn selbst wenn er sich den schwierigen Bedingungen stellt und es durch eine hohe Eigeninitiative schafft, die nur in äußerst geringen Maße vorhanden Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, werden diese nicht ausreichen, um für seine Unterbringung und seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch die Bestätigung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung – wie auch bereits Presseberichten (Oldenburger Onlinezeitung, “BAMF legt Tausende Asylverfahren von Flüchtlingen[n] auf Eis”, 6.2.2021, Abruf 13.07.2021) entnommen werden konnte, dass Verfahren von in Griechenland anerkannt Schutzberechtigten rückpriorisiert werden und Rücküberstellungen nach Griechenland ausgesetzt werden. Es ist daher vorliegend davon auszugehen, wie auch bereits die Rückpriorisierung der Entscheidungen von Verfahren in Griechenland anerkannt Schutzberechtigter bei der Beklagten vermuten lässt, dass der Kläger selbst bei hoher Eigeninitiative in eine existenzielle Not geraten würde, die es ihm nicht erlaube, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden.
4. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann auch das Schreiben der griechischen Behörden vom 08.01.2018 nicht als Zusicherung dergestalt gesehen werden, dass dem Kläger alle Rechte gemäß der Qualifikationsrichtlinie (2011/95/EU) auch unter Berücksichtigung des Art. 3 EMRK, also Zugangs zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Anlagen gewährt werden. Zwar hat das griechische Ministerium für Migration in diesem Schreiben mitgeteilt, dass Griechenland die Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU in das nationale Recht umgesetzt hat und international Schutzberechtigten alle aus dieser Richtlinie erwachsenden Rechte unter Berücksichtigung der Vorgaben der EMRK gewährt würden. Dieses Schreiben ist jedoch keine konkret-individuelle Zusicherung in Bezug auf den Kläger, sondern nur eine allgemeine Absichtserklärung der griechischen Behörden (vgl. BayVGH vom 25.6.2019 Az. 20 ZB 19.31553).
In besonders gelagerten Einzelfällen – insbesondere bei Personen mit besonderem Schutzbedarf oder bezüglich bestimmter Zielstaaten – ist es geboten, dass die deutschen mit den ausländischen Behörden Kontakt aufnehmen und notwendige Vorkehrungen zum Schutz dieser Personen getroffen werden. Eine Überstellung würde in solchen nicht gegen Art. 3 EMRK verstoßen, wenn die ausländischen Behörden eine individuelle Garantieerklärung abgeben, wonach die Betroffenen eine Unterkunft erhalten und ihre elementaren Bedürfnisse abgedeckt sind. Das Bundesamt wäre deshalb verpflichtet gewesen, konkrete Zusagen zur Unterbringung des Klägers einzuholen oder zumindest auf andere Weise sicher zu stellen, dass der speziellen Situation des Klägers Rechnung getragen wird. Eine solche individuelle Zusicherung der zuständigen griechischen Stellen ist für den Kläger im Zeitpunkt der Entscheidung nicht erteilt worden.
5. Die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG verstößt demnach gegen Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU), sodass die Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids aufzuheben ist.
II. Da die Klage bereits im Hauptantrag zulässig und begründet ist, war über den Hilfsantrag (Ziffer 2) nicht zu entscheiden. Als Folge der Aufhebung der Ziffer 1 waren auch die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 Sätze 1 bis 3 sowie die Regelung zum gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4 aufzuheben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erging gemäß § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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