Verwaltungsrecht

Kostenentscheidung nach Erledigung im Widerspruchsverfahren, vorläufige Besitzeinweisung, Erschließungsanspruch, Änderung des Bescheids durch das Flurbereinigungsgericht, billiges Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null

Aktenzeichen  13 A 20.133

Datum:
15.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22522
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FlurbG § 44 Abs. 3 S. 3 Halbs. 1
FlurbG § 63 Abs. 1
FlurbG § 65
FlurbG § 144 S. 1 Alt. 1
FlurbG § 147 Abs. 4
BayVwVfG Art. 80 Abs. 1 S. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 19. Dezember 2019 wird geändert. Der zweite Absatz der Nummer 2 dieses Bescheids wird wie folgt gefasst: Im Übrigen trägt der Freistaat Bayern die Kosten des Widerspruchsverfahrens.      
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Für die baren Auslagen des Gerichts wird ein Pauschsatz von 15,00 Euro erhoben. Das Verfahren ist gebührenpflichtig.     
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.     
IV. Die Revision wird nicht zugelassen. 

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt hatten (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Klage ist zulässig und begründet.
Dass vor Erhebung der Klage kein Widerspruchsverfahren durchgeführt worden ist (vgl. § 141 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FlurbG, § 68 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO), stellt die Zulässigkeit der Klage nicht in Frage. Einer Nachprüfung in einem Vorverfahren bedarf es nicht, wenn ein Abhilfebescheid oder der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO). Im vorliegenden Fall ist allerdings ein das Widerspruchsverfahren einstellender Bescheid ergangen. Die genannte Vorschrift ist jedoch auf diese Fallkonstellation analog anzuwenden (vgl. BayVGH, U.v. 20.4.2010 – 13 A 09.1463 – RdL 2010, 269 = juris Rn. 18 m.w.N.). Im Übrigen bedürfte es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eines Widerspruchsverfahrens ausnahmsweise auch dann nicht, wenn die Behörde – wie hier – in der Annahme handelt, ein solches sei nicht erforderlich (BVerwG, U.v. vom 13.1.1971 – V C 70,70 – BVerwGE 37, 87/88).
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass der Beklagte die Kosten des eingestellten Widerspruchsverfahrens hinsichtlich der zweiten Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung vollständig zu tragen hat, soweit diese nicht den Widerspruch seiner Ehefrau betreffen. Das dem Beklagten hinsichtlich der Kostenentscheidung insoweit zustehende Ermessen ist aufgrund der Umstände des vorliegenden Einzelfalls auf Null reduziert.
Der Senat ist hierbei als Flurbereinigungsgericht nicht wie nach §§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO im sonstigen Verwaltungsprozess auf eine Aufhebung und Verpflichtung der Behörde zur Änderung des Bescheids beschränkt. Vielmehr ist er gemäß § 144 Satz 1 Alt. 1 FlurbG selbst zur Änderung des Verwaltungsakts befugt und im Hinblick auf das in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Gebot der Verfahrensbeschleunigung soweit möglich auch gehalten (vgl.: BVerwG, B.v. 10.5.2007 – 10 B 71.06 – RdL 2007, 221 = RzF 21 zu § 144; BayVGH, U.v. 3.5.2018 – 13 A 16.2397 – RzF 129 zu § 44 Abs. 1 Rn. 34; Wingerter/Mayr, FlurbG, 10. Aufl. 2018, § 144 Rn. 1 m.w.N.). Demgemäß war der zweite Absatz der Nummer 2 des Bescheids vom 19. Dezember 2019 aufgrund des klägerischen Antrags, an dessen Fassung der Senat nicht gebunden ist (§ 88 VwGO), entsprechend dem klägerischen Rechtsschutzziel wie tenoriert vom Senat selbst zu ändern.
Für die Kostenentscheidung im Fall der Erledigung eines Widerspruchsverfahrens bei der oberen Flurbereinigungsbehörde gilt neben § 147 Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 FlurbG im bayerischen Landesrecht ergänzend auch Art. 80 Abs. 1 Satz 5 BayVwVfG (siehe hierzu Mayr in Linke/Mayr, AGFlurbG, Art. 21 Rn. 4). Diese Vorschrift bestimmt: Erledigt sich der Widerspruch auf andere Weise, so wird über die Kosten nach billigem Ermessen entschieden; der bisherige Sachstand ist zu berücksichtigen. Wie eine Kostenentscheidung im Sinne des Art. 80 Abs. 1 Satz 5 BayVwVfG nach billigem Ermessen zu treffen ist, beurteilt sich nach den gleichen Grundsätzen, wie sie im Prozessverfahrensrecht zu § 161 Abs. 2 VwGO entwickelt wurden (BayVGH, U.v. 12.2.1982 – 23 B 80 A.2322 – NVwZ 1983, 615 m.w.N.; vgl. a.: VGH BW, U.v. 5.1.2005 – 2 S 1522/03 – VBlBW 2005, 281 = juris Rn. 20). Maßgeblich sind mithin die Erfolgsaussichten des Widerspruchs, aber auch, wer den Anlass für die Erledigung gegeben hat (BayVGH, a.a.O.; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 161 Rn. 16 ff.).
Daran gemessen entspricht es vorliegend allein billigem Ermessen, dass die Kosten des Widerspruchs des Klägers gegen die zweite Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung vollständig vom Beklagten getragen werden. Das dem Beklagten insoweit grundsätzlich zustehende Ermessen ist aufgrund der Umstände des Einzelfalls auf Null reduziert:
Dies folgt schon daraus, dass es in der Regel der Billigkeit entspricht, den Verfahrensbeteiligten mit den Kosten zu belasten, der durch eigenen Willensentschluss die Erledigung veranlasst hat (Schübel-Pfister in Eyermann, a.a.O., § 161 Rn. 18 m.w.N.). Vorliegend war Anlass dafür, dass die Beteiligten den Widerspruch des Klägers gegen die zweite Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung übereinstimmend für erledigt erklärt haben, dass der Beklagte mit Beschluss vom 14. August 2018 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 63 Abs. 1 FlurbG die vorzeitige Ausführung des Flurbereinigungsplans mit Wirkung zum 1. Oktober 2018 verfügt hatte. Die Erledigung ist mithin aus Sicht der Beteiligten allein durch diese vom Beklagten angeordnete vorzeitige Ausführung des Flurbereinigungsplans eingetreten (wie letztlich auch der Beklagte in seinem Schriftsatz vom 20. Februar 2020 einräumt). Nicht entscheidend ist dabei, ob der Beklagte damit dem klägerischen Begehren vollumfänglich nachgegeben hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass es allein eine Entscheidung des Beklagten war, den zur Erledigung führenden Weg der Anordnung der vorzeitigen Ausführung des Flurbereinigungsplans zu gehen, statt über den seit 16. Dezember 2015 anhängigen Widerspruch des Klägers gegen die zweite Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung zu entscheiden (und auch nicht über den seit 25. September 2015 anhängigen Widerspruch des Klägers gegen die Änderung des Flurbereinigungsplans). Hingegen hat der Kläger keinerlei Anlass gegeben, der zur Erledigung des Widerspruchsverfahrens geführt hätte. Schon deshalb entspricht es billigem Ermessen allein, dass die Kosten des Widerspruchsverfahrens, soweit diese den Kläger betreffen, vollständig vom Beklagten zu tragen sind. Ob eine vorzeitige Ausführungsanordnung unter faktischer Herausnahme der umstrittenen Zuwegung möglich ist bzw. ob die Regelung in einer Überleitungsbestimmung, dass für diejenigen Flächen, für die die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die vorläufige Besitzeinweisung wiederhergestellt worden war, die bisherigen Besitz- und Nutzungsverhältnisse bestehen bleiben, den Anforderungen des § 63 Abs. 2 Satz 2 FlurbG entspricht, bedarf hier keiner Entscheidung.
Diesem Ergebnis steht das Kriterium der Erfolgsaussichten des Widerspruchs nicht durchgreifend entgegen: Zwar ist es richtig, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 23. Juni 2017 (13 AS 16.2546 – juris), mit dem er die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Klägers gegen die zweite Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung vom 18. November 2015 im Bereich der Abfindungsflurstücke 3361, 3362 und 3363/1 wiederhergestellt hatte, wiederholt ausgeführt hatte, dass sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache ohne Inaugenscheinnahme der örtlichen Verhältnisse nicht hinreichend genau abschätzen ließen (a.a.O., juris Rn. 40 ff.). Gleichwohl ist der Begründung des Beschlusses vielfach zu entnehmen, dass der Senat ganz erhebliche Bedenken hinsichtlich der Erschließung des klägerischen Abfindungsflurstücks 3363 hegte: So wird etwa ausgeführt, dass der Kläger “im Hinblick auf das Erfordernis einer offensichtlichen Unzumutbarkeit der auch nur vorübergehenden Nutzung des mit einer Besitzeinweisung nach § 65 FlurbG vorläufig zugewiesenen Grundstücks” mit dem Einwand einer Verletzung des § 44 Abs. 3 Satz 3 FlurbG “vorliegend möglicherweise auch durchzudringen” vermöge (a.a.O., juris Rn. 45). Gegen eine Erschließung über Flurstück 590 (Hausgrundstück) spreche, dass der Beklagte “in seiner Beanstandung vom 26. November 2014 selbst davon ausgegangen ist, dass dies nicht der Fall ist” (a.a.O., juris Rn. 46). Fraglich erscheine, “ob angesichts der grenzständig errichteten Scheune mit der limitierten Zufahrt durch diese hindurch und des Höhenversatzes zum Einlageflurstück eine ausreichende Zufahrt über das Hofgrundstück gegeben” sei. Hinzu komme, “dass das Freihalten der Zufahrt durch die Scheune diese ihrer eigentlichen Nutzung entziehen würde” (a.a.O., juris Rn. 53). Zur Erschließung von Norden her heißt es im Beschluss vom 23. Juni 2017 unter anderem: “Auch die in Folge der zweiten Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung bestehende Erschließung dürfte keine ausreichende Zuwegung für die bestandskräftig baurechtlich genehmigte Nutzung des Bienenhauses darstellen. Hiergegen spricht zum einen schon die Steigung der Zufahrt, die nach dem insoweit nicht bestrittenen Vortrag des [Klägers] bis zu 20% beträgt. Auch das Schreiben der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 15. Mai 2015 geht von einer entsprechenden Steigung aus. Dies würde erheblich über die Empfehlungen der Richtlinien für den Ländlichen Wegebau des Deutschen Verbandes für Wasserwirtschaft und Kulturbau e.V. (…) zu den Höchstlängsneigungen hinausgehen. (…) Soweit der Vorstand der TG in seinem Beschluss vom 19. Juni 2015 darauf verweist, dass es im Flurbereinigungsgebiet ähnliche Wege gebe, die teilweise noch steiler seien, dürfte diese Argumentation nicht geeignet sei, ein Abweichen von den RLW als anerkannten Regeln der Technik zu legitimieren” (a.a.O., juris Rn. 54). Erhebliche Zweifel werden im Beschluss auch hinsichtlich der erforderlichen Querung der … … durch die angelegte Furt deutlich (a.a.O., juris Rn. 55): “Die Querung der Furt dürfte zwar mit landwirtschaftlichen Maschinen bei normalem Wasserstand möglich sein. Mit einem PKW mit Anhänger dürfte die Querung auch bei normalem Wasserstand wohl nicht mehr zu bewerkstelligen sein. Die Voraussetzungen einer im Einzelfall ausreichenden Erschließung durch die Furt dürften nach dem derzeitigen Sachstand möglicherweise nicht vorliegen, insbesondere hinsichtlich der Nutzung des Bienenhauses und der hierfür erforderlichen Anfahrtsmöglichkeit mit einem PKW mit Anhänger.” Daran gemessen ist dem Kläger beizupflichten, dass sich aus dem Beschluss des Senats vom 23. Juni 2017 – trotz des Vorbehalts, dass zur abschließenden Klärung eine Inaugenscheinnahme erforderlich sei – eine deutliche Tendenz dahingehend ergibt, dass eine hinreichende Erschließung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht anzunehmen ist.
Soweit der Beklagte noch meint, offene Erfolgsaussichten des Widerspruchs ergäben sich im Hinblick auf die Frage, ob die Nutzung des Bienenhauses eine PKWgeeignete Erschließung voraussetze, ist darauf hinzuweisen, dass der Senat im Beschluss vom 23. Juni 2017 davon ausgegangen war, der Kläger habe die Notwendigkeit, das Einlageflurstück mit dem genehmigten Bienenhaus für die Imkerei regelmäßig mit einem PKW anzufahren, nachvollziehbar geltend gemacht (a.a.O., juris Rn. 51). Soweit der Beklagte außerdem die Frage aufwirft, ob dem Kläger die vorübergehende Hinnahme des Zustands einer nicht hinreichenden Erschließung nicht hätte zugemutet werden können, nachdem sich Einlageflurstück und Abfindungsflurstück weitgehend deckten und fraglich sei, ob das Einlageflurstück über eine hinreichende Erschließung verfügt habe, ihm also im Vergleich zum Einlagestand keine rechtlich gesicherte Erschließung genommen worden sei, ergeben sich auch hieraus entgegen der Auffassung des Beklagten keine offene Erfolgsaussichten des Widerspruchs: Im Beschluss vom 23. Juni 2017 hatte der Senat bereits ausgeführt, dass es für das Bestehen des Erschließungsanspruches gemäß § 44 Abs. 3 Satz 3 FlurbG unerheblich sei, ob die alten Grundstücke durch Wege erschlossen gewesen seien oder nicht (a.a.O., juris Rn. 49). Weiter hatte der Senat bereits dargelegt, dass der Kläger diesen Anspruch auf Einhaltung des in § 44 Abs. 3 Satz 3 FlurbG zwingend vorgeschriebenen Gestaltungsgrundsatzes grundsätzlich auch gegenüber einer vorläufigen Besitzeinweisung geltend machen könne, wenn er in ein Grundstück eingewiesen werden solle, das entgegen § 44 Abs. 3 Satz 3 FlurbG nicht durch Wege zugänglich gemacht sei, die eine ortsübliche Benutzung ermöglichen. Insoweit sei das Grundstück nicht nutzbar und damit eine auch nur vorübergehende Inbesitznahme bis zur Planausführung unzumutbar (a.a.O., juris Rn. 45 m.w.N.).
Nach alledem ist festzustellen: Bei einer Gesamtwürdigung der Umstände des vorliegenden Einzelfalls – Veranlassung der Erledigung allein durch die Beklagte, Erfolgsaussichten des Widerspruchs zwar nicht abschließend bewertbar, aber doch deutliche Tendenz zugunsten des Klägers – entspricht es billigem Ermessen im Sinne von Art. 80 Abs. 1 Satz 5 BayVwVfG allein, dass die Kosten des Widerspruchs des Klägers gegen die zweite Änderung der vorläufigen Besitzeinweisung vollständig vom Beklagten zu tragen sind. Das dem Beklagten zustehende Ermessen ist aufgrund dieser Umstände des Einzelfalls auf Null reduziert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 147 Abs. 1 FlurbG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht war nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.


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