Verwaltungsrecht

Nachzahlung von Regelaltersrente

Aktenzeichen  L 6 R 1/15

Datum:
30.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 67958
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 44 Abs. 4 S. 1

 

Leitsatz

1. Die zeitliche Beschränkung des § 44 IV 1 SGB X für nachzuzahlende Sozialleistungen (hier: Altersrente) greift unabhängig vom Grad des dem zuständigen Sozialversicherungsträger zuzurechnenden Verschuldens. (amtlicher Leitsatz)
2. Die Vorschrift des § 44 IV 1 SGB X begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. (amtlicher Leitsatz)
3. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch wird im Hinblick auf die Beseitigung der Folgen eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes durch die Vorschrift des § 44 SGB X tatbestandlich verdrängt. (amtlicher Leitsatz)
4 Wird eine Altersrente fehlerhaft zu niedrig bewilligt, ist bei einer späteren “zu-Gunsten-Entscheidung” nach § 44 SGB X der Nachzahlungsanspruch gem. § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X unabhängig vom Verschuldensgrad des Sozialversicherungsträgers auf vier Jahre begrenzt. (redaktioneller Leitsatz)
5 Die Verjährungsregel § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X gleicht die Interessen der Nachzahlung unrechtmäßig vorenthaltener Sozialleistungen sowie der Erhaltung der Leistungsfähigkeit durch adäquate Belastungen mit vergangenheitsbezogenen Leistungen in verfassungskonformer Weise aus. (redaktioneller Leitsatz)
6 Wird ein behördliches Fehlverhalten bereits durch § 44 SGB X erfasst, geht diese gesetzliche Sonderregelung dem richterrechtlich geschaffenen Herstellungsanspruch vor. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 3 R 191/13 2014-10-24 Urt SGREGENSBURG SG Regensburg

Tenor

I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 24. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist unbegründet.
Zu Recht hat die Beklagte mit dem im Wege der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage angegriffenen Bescheid vom 19.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2013 eine Neuberechnung der Altersrente des Klägers erst ab 01.01.2008 vorgenommen sowie Nachzahlungen erst ab diesem Zeitpunkt erbracht. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Nachzahlung von Altersrente für Zeiten vor dem 01.01.2008.
Unstreitig wurde die Regelaltersrente des Klägers im Rahmen der bestandskräftig gewordenen Erstfeststellung zum 01.04.1999 aufgrund eines Fehlers bei der Berechnung der zu berücksichtigenden Verletztenrente nach § 93 Abs. 2 Nr. 2a VI in unzutreffender Höhe errechnet. Dementsprechend hat die Beklagte nach Bekanntwerden des Fehlers im Rahmen einer individuellen Prüfung durch die Sachbearbeiterin im Juni 2012 diesen Fehler von Amts wegen nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X korrigiert. Dass hierbei eine Nachzahlung von Altersrente lediglich für die Zeit ab 01.01.2008 festgestellt wurde, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Diese Vorgehensweise entspricht der Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, längstens für einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Zeitraum der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X, und wurde vorliegend mit dem 01.01.2008 zutreffend berechnet. Das Regelungsgefüge des § 44 SGB X bringt insoweit zwei widerstreitende Prinzipien zum Ausgleich: Auf der einen Seite verhilft es der materiellen Gerechtigkeit zur Geltung. Adressaten rechtswidriger Verwaltungsakte sollen so gestellt werden, als hätte die zuständige Behörde von vornherein richtig gehandelt. Auf der anderen Seite berücksichtigt es die Bestandskraft behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen, indem hohe tatbestandliche Anforderungen normiert und in Abs. 4 die leistungsrechtlichen Folgen einer Durchbrechung begrenzt werden. Damit sind zwei wesentliche Aspekte des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips berührt: Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 3 zu § 44 SGB X m. w. N.). Im Interesse einer möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte setzt sich dabei – im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen des deutschen Rechts – prinzipiell die Einzelfallgerechtigkeit respektive Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns (in Form eines gebundenen Aufhebungsanspruchs) durch. Das einfache Gesetzesrecht lässt dies ausdrücklich zu. Als die Bestandskraft von Verwaltungsakten einschränkende Norm ist § 44 SGB X eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne von § 77 SGG. Verfassungsrechtlich geboten ist dieser Vorrang aber nicht (vgl. BVerfG vom 27.02.2007, Az.: 1 BvR 1982/01; BSG vom 25.03.2003, Az.: B 1 KR 36/01 R).
Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X stellt in diesem Interessengefüge eine materielle Ausschlussfrist dar, die zwingend von Amts wegen zu beachten ist und nicht der Dispositionsbefugnis oder dem Ermessen der Verwaltung wie auch der Gerichte unterliegt. Gegen die Anwendung der Vorschrift kann weder der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden (BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 26.05.1987, Az.: 4a RJ 49/86; Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 91 zu § 44 SGB X m. w. N.). Rückwirkende Leistungen sind selbst dann auf einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme beschränkt, wenn den Leistungsträger ein erhebliches Verschulden trifft (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 98 zu § 44 SGB X; BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84). Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten ist daher für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich, auf welche Art und Weise der für den Kläger schädliche Berechnungsfehler konkret zustande gekommen, welcher Verschuldensvorwurf den Handelnden zu machen und ob dieser Verschuldensvorwurf der Beklagten zuzurechnen ist. Insbesondere ist unerheblich, ob es sich um einen bloßen Programmierfehler oder um einen möglicherweise in erheblichem Umfang subjektiv vorwerfbaren Überprüfungsfehler des damals zuständigen Sachbearbeiters gehandelt hat. Die Beklagte war daneben auch nicht verpflichtet, ihren Datenbestand generell und systematisch auf Fehler durchzuforsten (vgl. Wortlaut des § 44 Abs. 1 S. 1: „im Einzelfall“). Die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur ist genauso wie der ursprüngliche Fehler sanktionslos und verlängert die Rückwirkung nicht über Abs. 4 hinaus (Kasseler Kommentar, Steinwedel, Rn. 24 zu § 45 SGB X).
Zur Überzeugung des Senats begegnet die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes. Der Senat nimmt insoweit ausdrücklich auf die diesbezüglich mannigfaltige und erschöpfende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes Bezug (vgl. BSG vom 15.12.1982, Az.: GS 2/80; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 21.01.1987, Az. 1 RA 27/86; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85 m. w. N.; s.a. LSG Hessen vom 23.08.2013, Az.: L 5 R 359/12). Auch ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor. Unbeschadet der Tatsache, dass – entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten – in den maßgeblichen Bereichen steuerfinanzierter Sozialleistungen (Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe, Asylbewerberleistungsgesetz) § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X zulasten einer deutlich kürzeren Rückwirkung von einem Jahr keine Anwendung findet (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II; § 116a SGB XII; zur entsprechenden Anwendung der Jahresfrist im Rahmen von Asylbewerberleistungen: BSG vom 26.06.2013, Az.: B 7 AY 6/12 R), bestehen für möglicherweise in Restbereichen verbleibende Ungleichheiten hinreichende sachliche Gründe (vgl. zum allgemeinen Maßstab für einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz: BVerfGE117, 272). § 44 SGB X durchbricht das allgemein gültige Prinzip der Bestandskraft. Die Vorschrift dient damit der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit des Einzelnen zulasten der Rechtssicherheit, obwohl aus dem Grundgesetz (wie bereits dargestellt) gerade keine Verpflichtung erwächst, rechtswidrige belastende Verwaltungsakte nach Eintritt der Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag aufzuheben (BVerfG vom 27.02.2007, a. a. O.). Der Gesetzgeber hat mit der in § 44 Abs. 4 SGB X getroffenen Regelung den Konflikt zwischen dem Interesse des Versicherten an einer vollständigen Erbringung ihm zu Unrecht vorenthaltener Sozialleistung einerseits und der Solidargemeinschaft aller Versicherten an einer Erhaltung der Leistungsfähigkeit des in Anspruch genommenen Versicherungsträgers und damit einhergehend an einer möglichst geringen Belastung mit Leistungen für zurückliegende Zeiträume andererseits gelöst. Das schließt es aus, einseitig das Interesse des Versicherten an der Erfüllung seiner Ansprüche auch für weiter zurückliegende Zeiträume als ausschlaggebend zu bewerten und darüber die Interessen der Versichertengemeinschaft daran zu vernachlässigen. § 44 SGB X stellt eine in sich ausgewogene Gesamtregelung dar, innerhalb derer die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X eine den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrende und damit zulässige Bestimmung darstellt, die geeignet ist, ggf. bestehende Ungleichbehandlungen zu rechtfertigen (BSG vom 23.07.1986, a. a. O.).
Dem Kläger steht daneben auch keine Nachzahlung nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu. Sind Sozialleistungen zu Unrecht versagt worden, können im Einzelfall neben dem Tatbestand des § 44 SGB X auch die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs erfüllt sein. Jedoch geht § 44 SGB X als gesetzliche Sonderregelung dem lediglich richterrechtlich geschaffenen Institut des Herstellungsanspruchs dem Tatbestand nach vor, wenn das behördliche Fehlverhalten bereits durch § 44 erfasst wird (BSG vom 19.10.2010, Az.:B 14 AS 16/09 R; Kasseler Kommentar, Steinwedel, Rn. 16 zu § 44 SGB X, jew. m.w.N). In der vorliegenden Konstellation handelt es sich um einen solchen unmittelbaren Anwendungsfall des § 44 Abs. 1 SGB X, da es in der Sache um eine aufgrund eines Fehlers der Beklagten in zu geringer Höhe festgestellte Rente und damit um die Aufhebung einer bestandskräftigen, rechtswidrigen und nicht begünstigenden Verwaltungsentscheidung geht. Es handelt sich mithin nicht um den Fall einer gesetzlich nicht anderweitig sanktionierten hoheitlichen Pflichtverletzung (z. B. Fristversäumnis oder auch gänzlich unterlassene Erstantragstellung aufgrund fehlender Beratung bzw. Aufklärung), welche die Anwendung des subsidiären Instituts des sozialrechtliche Herstellungsanspruchs erfordern würde. Aufgrund der Tatbestandsverdrängung durch § 44 Abs. 1 SGB X ist damit die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auf den vorliegenden Sachverhalt ausgeschlossen.
Selbst wenn man dem nicht folgen möchte, wäre zur Überzeugung des Senates vorliegend bei einer Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs neben dem seinen Voraussetzungen nach ebenfalls anwendbaren § 44 Abs. 1 SGB X die Beschränkung des § 44 Abs. 4 SGB X bereits unmittelbar einschlägig, jedenfalls aber entsprechend heranzuziehen (h.M., vgl. BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84; BSG vom 09.09.1986, Az.: 11a RA 28/85; BSG vom 21.01.1987, Az.: 1 RA 27/86; BSG vom 28.01.1999, Az.: B 14 EG 6/98 B; BSG vom 14.02.2001, Az.:B 9 V 9/00 R; BSG 27.03.2007, Az.: B 13 R 58/06 R; Kasseler Kommentar, Steinwedel Rn. 53 zu § 44 SGB X; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Rn. 94 zu § 44; a.A. – jedoch nur für die Anwendung des Herstellungsanspruchs in einem hier nicht vorliegenden sog. „Erstfeststellungsverfahren“ – 4. Senat des BSG vom 06.03.2003, Az.:B 4 RA 38/02 R und vom 26.06.2007, Az.:B 4 R 19/07 R).
Die Berufung ist nach alldem mit der Kostenfolge des § 193 SGG zurückzuweisen.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Ziff. 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.


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