Verwaltungsrecht

Polizeirechtlicher Aufwendungsersatz bei Anscheinsgefahr

Aktenzeichen  M 7 K 15.3762

Datum:
23.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
PAG Art. 1, Art. 6, Art. 7, Art. 8, Art. 10, Art. 70 Abs. 2, Abs. 6, Art. 72 Abs. 1, Art. 73 Abs. 2

 

Leitsatz

1 Ein entschädigungspflichtiger Polizeiträger kann auch dann Aufwendungsersatz gemäß Art. 72 Abs. 1 PAG verlangen, wenn die zugrunde liegende Maßnahme nicht allein der Gafahrenabwehr, sondern zugleich auch der Strafverfolgung gedient hat (ebenso BVerwG BeckRS 2001, 30188299). (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Anscheinsstörer kann zumindest dann zu den Kosten einer polizeilichen Maßnahme herangezogen werden, wenn ihn im Rückblick am Entstehen des Anscheins der Gefahr ein Verschulden trifft, wenn er die Gefahr vorgetäuscht oder den Anschein zurechenbar verursacht hat (ebenso VGH München BeckRS 2016, 51515).  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Für das auf Art. 72 Abs. 1 PAG gestützte Erstattungsverlangen ist nach Art. 73 Abs. 2 PAG der Verwaltungsrechtsweg gegeben.
Der angefochtene Bescheid vom 17. Juli 2015 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger damit nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage ist Art. 72 Abs. 1 PAG. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass der Landesgesetzgeber durch Bundesrecht nicht daran gehindert war, einen Ersatzanspruch in Fällen vorzusehen, in denen die Polizei wie hier zugleich gefahrenabwehrend und strafverfolgend tätig geworden ist (BVerwG, B. v. 22. Juni 2001 – 6 B 25/01 – juris Rn. 4; BayVGH, U. v. 10. Mai 2000 – 24 B 99.603 – juris Rn. 22 ff.; OVG RP, B. v. 8. Februar 2006 – 7 A 11613/05 – juris Ls). Die am … … 2014 vollzogene Wohnungsdurchsuchung mag durchaus dem Ziel gedient haben, zur Anzeige gebrachte Straftaten des Klägers zu verfolgen und in diesem Zusammenhang etwa vorhandene Waffen als Beweismittel sicherzustellen. Daneben hat die Polizei aber ersichtlich den präventiven Zweck verfolgt, die fortgesetzte Begehung einer rechtswidrigen Tat, d. h. den Besitz illegaler bzw. verbotener Waffen, und die aus dem möglichen Zugriff auf Waffen resultierende Gefahr zu unterbinden. Wie aus der strafrechtlichen Ermittlungsakte 270 Js 21114/14 deutlich wird, wurden die Drohungen des Klägers vom Geschädigten und der Polizei nach diversen Zeugenbefragungen und aufgrund der vorliegenden SMS und Videos als ernst eingeschätzt und noch am selben Tag ein gerichtlicher Durchsuchungsbeschluss beantragt und vollzogen.
Nach Art. 72 Abs. 1 PAG kann der nach Art. 70 Abs. 6 PAG entschädigungspflichtige Polizeiträger – hier der Beklagte (Art. 1 Abs. 2 POG), der die zu Entschädigung verpflichtende Maßnahme getroffen hat – von einem polizeirechtlich nach Art. 7 und 8 PAG Verantwortlichen Ersatz der notwendigen Aufwendungen verlangen, wenn er keinen Erstattungsanspruch gem. Art. 71 PAG hat. Letzteres ist der Fall, da der Beklagte nicht auf Weisung bzw. Ersuchen einer nichtstaatlichen Behörde tätig geworden ist. Auch die weiteren Voraussetzungen für den Aufwendungsersatzanspruch liegen vor. Die Polizei war gegenüber dem unbeteiligten Wohnungseigentümer, gegen den keine Maßnahme gem. Art. 10 PAG gerichtet worden ist (vgl. BayVGH, U. v. 10. Januar 2000 – 24 B 99.3316 – juris Rn. 26), gem. Art. 70 Abs. 2, 6 i. V. m. 1 ff. PAG dazu verpflichtet, den durch das gewaltsame Öffnen der Wohnungstüre verursachten Schaden zu ersetzen (vgl. Schmidbauer in Schmidbauer /Steiner, PAG/POG, 4. Aufl. 2014, Art. 70 PAG Rn. 73, 75 f.). Der Wohnungseigentümer hatte keinen anderweitigen Ersatzanspruch (Art. 70 Abs. 2 i. V. m. 1 PAG), wobei eine mit eigenen Beiträgen erkaufte Versicherung keine anderweitige Ersatzmöglichkeit darstellen würde (vgl. BayVGH, U. v. 10. Mai 2000 – 24 B 99.603 – juris Rn. 28; BGH, U. v. 2. April 1987 – III ZR 149/85 – juris Rn. 38 zur Amtshaftung).
Dass die Durchsuchung keinen Waffenfund erbracht hat, steht der Inanspruchnahme des Klägers nicht entgegen. Ungeachtet dessen, ob bereits aufgrund der vorausgegangenen Morddrohung des Klägers eine die Maßnahme rechtfertigende polizeirechtliche Gefahr anzunehmen ist, hat er jedenfalls in zurechenbarer Weise den Anschein gesetzt, im Besitz von Waffen zu sein und diese einsetzen zu wollen. Insoweit durften die handelnden Polizeibeamten aus der Sicht ex ante aufgrund der objektiven Erkenntnislage und bei verständiger Würdigung des Ermittlungsergebnisses und der vorliegenden Indizien wie der Videos und Facebook-Einträge von einer Gefahrenlage ausgehen (sog. Anscheinsgefahr). Es ist anerkannt, dass der Anscheinsstörer zumindest dann zu den Kosten einer polizeilichen Maßnahme herangezogen werden kann, wenn ihn rückblickend betrachtet am Anschein der Gefahr ein Verschulden trifft, wenn er die Gefahr vorgetäuscht oder den Anschein zurechenbar verursacht hat (BayVGH, U. v. 8. Juli 2016 – 4 B 15.1285 – juris – Rn. 23 f., B. v. 13. Dezember 2013 – 10 ZB 11.1836 – juris Rn. 10 u. B. v. 9. Mai 2012 – 10 C 11.2941 – juris Rn. 18; VG Augsburg, U. v. 5. Mai 2011 – Au 5 K 10.1341 – juris Rn. 26 ff. m. w. N. im Anschluss an OVG Hamburg, U. v. 24. September 1995 – Bf VI 3/85 – juris Ls u. OVG Berlin, B. v. 28. November 2001 – 1 N 45.00 – juris Ls; VG Augsburg, U. v. 27. November 2008 – Au 5 K 07.1589 – juris Rn. 37; OVG NW, B. v. 14. Juni 2000 – 5 A 95/00 – juris Rn. 10 ff. u. U. v. 26. März 1996 – 5 A 3812/92 – juris Rn. 33 ff.; VG Berlin, U. v. 16. September 2011 – 1 K 318.10 – juris Rn. 22; Schmidbauer, a. a. O., Art. 72 PAG Rn. 8 f., der den Anscheinsstörer in jedem Fall für ersatzpflichtig hält). Vor dem Hintergrund der massiven Drohung, der die Zeugenaussagen stützenden SMS, Videos und Facebook-Einträge und des gegen den Kläger anhängigen Ermittlungsverfahrens wegen eines Gewaltdelikts war die gewaltsame Türöffnung zur Eigensicherung geboten, aber auch zur Verhinderung eines Beiseiteschaffens oder Versteckens von Beweismitteln. Ein gleich effizientes milderes Mittel ist nicht ersichtlich. Der Kläger hatte dem Geschädigten durch Versand von mehreren SMS an seine Mutter mit Ermordung gedroht. Der Geschädigte oder die Polizei haben dies vor dem Hintergrund ihrer Kenntnisse und des vom Kläger begangenen Körperverletzungsdelikts auch nicht als einen Scherz unter Vertrauten auffassen müssen. Anlass zu Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Aussage des Geschädigten, die teilweise von einer weiteren Zeugenaussage bestätigt wurde, ergab sich nicht. Ein Belastungseifer ist in der umfänglichen und anschaulichen Zeugenaussage nicht erkennbar. Die Erklärung des Klägers zum Inhalt der SMS gegenüber der Polizei wirkt nach allgemeiner Lebenserfahrung wenig überzeugend, da das gegenseitige Bespritzen mit kaltem Wasser vielleicht unter Kindern, aber nicht unter jungen Männern seines Alters üblich ist. Auch aus der rückblickenden Betrachtung ist es gerechtfertigt, die Bedrohung unter Bezug auf die ausführlich geschilderten Erfahrungen des Geschädigten mit dem Kläger, die Waffe, die er bei ihm gesehen hat, sonstige Beweisanzeichen und das Körperverletzungsdelikt, weswegen der Kläger am 10. September 2014 verurteilt worden ist, ernst zu nehmen. So ist das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen der Bedrohung des Geschädigten auch nach § 154 Abs. 1 StPO und nicht aus Mangel an Beweisen eingestellt worden.
Die angefallenen Aufwendungen waren auch notwendig, da sie bei pflichtgemäßer und sorgsamer Würdigung der Umstände des Einzelfalls rechtlich geboten und unerlässlich erscheinen mussten (vgl. Berner/Köhler/Käß, PAG, 20. Aufl. 2010, Art. 72 Rn. 4). Vom Kläger wird nur der Betrag verlangt, der erforderlich war, um die bei dem Polizeieinsatz beschädigte Tür wieder instandzusetzen. Zudem wurde ein Abzug „neu für alt“ vorgenommen.
Daher war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München schriftlich beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof, Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und Rechtslehrern an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 5 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 791,35 EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz – GKG -).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,- übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München, Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.
Über die Beschwerde entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und Rechtslehrern an einer deutschen Hochschule im Sinn des Hochschulrahmengesetzes mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 5 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.


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