Verwaltungsrecht

Rechtmäßige Verlustfeststellung wegen schwerer Gefährdung der öffentlichen Ordnung

Aktenzeichen  10 ZB 17.617

Datum:
15.5.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 111552
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 3, Abs. 4

 

Leitsatz

Ein mit Berufstätigkeit verbundener Aufenthalt von sechs Jahren im Bundesgebiet sowie die erst seit einem Jahr geführte eheliche Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen bewirken bei einem 51 Jahre alten Ausländer, der bis zu seinem 38. Lebensjahr in seinem Heimatland gelebt hat, nicht die Stellung eines faktischen Inländers. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 16.1346 2016-12-07 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 2. Juni 2016 weiter, mit dem u.a. festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik verloren hat.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; 2.) und der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO; 1.) nicht vorliegen bzw. nicht hinreichend dargelegt sind.
1. Eine erfolgreiche Divergenzrüge nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO setzt voraus, dass das angefochtene Urteil von einer Entscheidung eines der in dieser Norm genannten Gerichte abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Darzulegen ist vom Kläger insoweit, welche bestimmte und verallgemeinerungsfähige Rechtsauffassung das Erstgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat und inwiefern diese mit einem konkreten Rechtssatz in der Rechtsprechung eines der in § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO genannten Gerichte nicht übereinstimmt. Die divergierenden Rechtssätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 4.1.2016 – 10 ZB 13.2431 – juris Rn. 14 m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht.
Der Kläger benennt als Entscheidung, von der das Verwaltungsgericht angeblich abweicht, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (2 BvR 1943/16) und darin den Rechtssatz, wonach es mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren sei, wenn ein im Strafvollzug erwartetes und während laufender Bewährung gefordertes Verhalten ausländerrechtlich gegen den Betroffenen gewertet werde. Dem stellt er den Rechtssatz aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts gegenüber, wonach ein Wohlverhalten in der Haft nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung schließen lasse.
Aus dieser Gegenüberstellung lässt sich die behauptete Divergenz nicht erkennen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag zugrunde, dass der Verwaltungsgerichtshof in dem verfahrensgegenständlichen Beschluss das vom Ausländer gezeigte Verhalten – Therapiebereitschaft und rechtstreues Verhalten während der Bewährungszeit – zu seinen Lasten gewertet und unterstellt habe, dass er sich nur unter dem Druck des Ausweisungsverfahrens rechtskonform verhalten habe. Demgegenüber ist das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall davon ausgegangen, dass allein das beanstandungsfreie Verhalten in der Haft nicht auf ein Entfallen der Wiederholungsgefahr schließen lasse. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass während des Strafvollzugs die Möglichkeit, Straftaten zu begehen, naturgemäß eingeschränkt ist und der Kläger sich daher vor allem außerhalb des Strafvollzugs bewähren muss. Das beanstandungsfreie Verhalten des Klägers in der Haft wurde also nicht zu seinen Lasten, sondern nur als nicht ausreichend gewertet, um auf einen dauerhaften Einstellungswandel schließen zu können.
Soweit das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung weiter ausführt, rechtstreues Verhalten dürfe nur dann zu Lasten des Ausländers verwendet werden, wenn der Druck des Ausweisungsverfahrens oder der Bewährungsauflagen die offensichtliche Motivation dafür seien, kann schon deshalb keine Divergenz zur Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts vorliegen, weil der Kläger seine Strafe voll verbüßt hat (keine Strafaussetzung zur Bewährung) und das Ausweisungsverfahren erst unmittelbar vor Haftende (15. März 2016) eingeleitet wurde (26. Februar 2016).
2. Die Berufung ist auch nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zuzulassen.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist hier jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat ausführlich dargelegt, dass die Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 3 und 4 FreizügG/EU vorliegen, weil vom Kläger eine gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgehe, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Es sei eine Wiederholungsgefahr hinsichtlich weiterer schwerer Straftaten gegeben. Der Kläger sei mehrfach wegen Sexualdelikten verurteilt worden. Er habe sich durch die Haftverbüßung nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Während seiner letzten Haft habe er es abgelehnt, mit der psychotherapeutischen Aufarbeitung seiner Straftaten zu beginnen. Nach dem Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 31. März 2016 könne im Hinblick auf die noch nicht aufgearbeitete Sexualproblematik des Klägers nicht davonausgegangen werden, dass er auch ohne Führungsaufsicht keine Straftaten mehr begehe. Nach der Stellungnahme der psychotherapeutischen Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter liege bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung vor. Über Fortschritte bei der nunmehr begonnenen Psychotherapie könnten nach Angaben des Bewährungshelfers nach so kurzer Zeit noch keine Aussagen getroffen werden.
Das Zulassungsvorbringen des Klägers beschränkt sich insoweit auf den Hinweis, dass die letzte Straftat nunmehr fast sechseinhalb Jahre zurückliege. Zudem legt er nach Ablauf der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO für die Darlegung der Zulassungsgründe ein Schreiben des Bewährungshelfers vom 12. April 2017 vor, wonach aus Sicht der zuständigen Kriminalpolizeiinspektion die Terminfrequenz für die im Beschluss über die Führungsaufsicht vom 5. Januar 2016 angeordnete Vorstellung bei der Polizei reduziert werden könne.
Es ist offensichtlich, dass der Kläger mit diesen Ausführungen die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, vom ihm gehe eine gegenwärtige Gefährdung aus, nicht ernsthaft in Zweifel ziehen kann. Er setzt sich weder mit der Begründung des Beschlusses des Oberlandesgerichts zur Führungsaufsicht noch mit der fehlenden psychotherapeutischen Aufarbeitung seiner Sexualstraftaten auseinander, die neben den gravierenden Verurteilungen wegen Sexualdelikten für die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts ausschlaggebend waren. Sein Vorbringen, die letzte Straftat sei im Jahr 2010 begangen worden, so dass keine gegenwärtige Gefährdung mehr vorliege, geht angesichts der Tatsache, dass er von August 2010 bis 22. Mai 2013 in Kroatien inhaftiert war, bereits am 17. Juni 2013 wegen der am 17. Juli 2010 vor seiner Ausreise nach Kroatien begangenen Straftat wieder verhaftet wurde und anschließend bis 15. März 2016 in der Bundesrepublik in Haft saß, an der Sache vorbei.
Zur Verhältnismäßigkeit der Verlustfeststellung führt das Verwaltungsgericht aus, der Kläger sei mit seiner Ehefrau erst seit Januar 2013 verheiratet und lebe erst seit seiner Haftentlassung im März 2016 mit ihr zusammen. Er sei kein faktischer Inländer, weil er viele Jahre in Kroatien gelebt habe und kroatisch spreche. Angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr sei ihm eine Rückkehr nach Kroatien zumutbar.
Der Kläger meint dagegen, das Verwaltungsgericht habe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 und seine Integration in den Arbeitsmarkt in den Jahren 2004 bis 2010 und nach seiner Haftentlassung im März 2016 nicht berücksichtigt.
Auch dieses Vorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zu begründen. Das Verwaltungsgericht hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dem Kläger nicht die Stellung eines faktischen Inländers zukommt und daher aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nichts zu seinen Gunsten hergeleitet werden kann. Der inzwischen 51 Jahre alte Kläger lebte bis zu seinem 38. Lebensjahr in Kroatien. Ein Aufenthalt von sechs Jahren im Bundesgebiet, in denen er berufstätig war, und eine erst seit gut einem Jahr geführte eheliche Lebensgemeinschaft mit einer deutschen Staatsangehörigen machen ihn nicht zum faktischen Inländer und die Verlustfeststellung auch nicht unverhältnismäßig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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