Verwaltungsrecht

Rechtmäßigkeit der Ausweisung und der Verhängung eines vierjährigen Wiedereinreiseverbots gegenüber einem massiv straffällig gewordenen faktischen Inländer (Türkei)

Aktenzeichen  10 ZB 20.621

Datum:
23.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 14545
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 144 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. b, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4
ARB 1/80 Art. 7 S. 1
EMRK Art. 8 Abs. 1, Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2

 

Leitsatz

1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Art. 6 GG gewährt keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – ist nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 6 K 19.1083 2020-01-29 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

I. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
III. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
IV. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung und dem hierfür gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe verfolgt der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen den Bescheid vom 18. Juni 2019, mit dem der Beklagte seine Ausweisung verfügt, die Wiedereinreise für vier Jahre untersagt und seine Abschiebung in die Türkei angedroht hat, weiter.
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts wird nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO abgelehnt, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung und damit die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil sich aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.) noch die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (2.) ergeben.
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung des Klägers gemäß §§ 53 ff. AufenthG als rechtmäßig angesehen. Sie sei nach § 53 Abs. 3 AufenthG zulässig, weil das persönliche Verhalten des Klägers eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland berühre und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses nach der unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmenden Abwägung unerlässlich sei. Der Kläger habe eine Vielzahl von gravierenden Straftaten, insbesondere Köperverletzungsdelikte, begangen und es bestehe bis heute eine erhebliche Wiederholungsgefahr. Das Ausweisungsinteresse überwiege das Bleibeinteresse des Klägers als „faktischer Inländer“ und Besitzer einer Niederlassungserlaubnis und stelle sich auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK als verhältnismäßig dar.
Das Zulassungsvorbringen des Klägers begründet – auch zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25) – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung.
a) Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungsverfügung des Beklagten aufgrund des Aufenthaltsrechts des Klägers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu Recht an den Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG gemessen. Es hat seine Annahme, das Verhalten des Klägers stelle eine gegenwärtige und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, mit der Vielzahl vom Kläger begangenen, teilweise schweren Straftaten begründet. Dabei ist das Verwaltungsgericht auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens zu Recht davon ausgegangen, dass vom Kläger auch aktuell eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – Rn. 2) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Ausgehend hiervon teilt der Senat die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Das Verwaltungsgericht hat sich umfassend und detailliert mit den zahlreichen Straftaten des Klägers vom Erreichen der Strafmündigkeit im Jahr 2002 bis zur letzten Straftat im Jahr 2017 auseinandergesetzt. Der Kläger hat in diesem Zeitraum 20 Menschen vorsätzlich erhebliche, teils schwere Körperverletzungen zugefügt und dabei ein ungewöhnlich hohes Maß an Brutalität an den Tag gelegt, was zu insgesamt zehn strafrechtlichen Verurteilungen geführt hat. Zuletzt wurde er – erneut unter offener Bewährung – wegen Körperverletzung und Beleidigung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher und versuchter Körperverletzung sowie fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und weiteren Beleidigungen durch Urteil das Amtsgerichts Augsburg vom 16. Februar 2018 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Deswegen und wegen des Bewährungswiderrufs hinsichtlich einschlägiger Verurteilungen aus dem Jahr 2011 befindet er sich seit dem 10. September 2018 und voraussichtlich bis zum 29. Juni 2020 in Strafhaft. Der Kläger hat sich mehrfach als Bewährungsversager erwiesen. Mehrere Haftstrafen hielten ihn ebenso wenig von neuen einschlägigen Straftaten ab wie eine erste Ausweisung im Jahr 2008, die erst im Jahr 2014 wegen der Geburt seines zweiten Kindes und der Eheschließung mit seiner mittlerweile von ihm geschiedenen Ehefrau aufgehoben wurde. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, das immer wieder zu Tage tretende Aggressionspotential des Klägers wurzele in einer seit seiner Jugend verfestigten Persönlichkeitsstruktur (S. 27 f. des UA), wird mit dem Zulassungsvorbringen ebenso wenig durchgreifend in Zweifel gezogen wie die Annahme des Erstgerichts, der Kläger sei trotz jahrelanger Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Strafvollzugs nicht erfolgreich therapiert (S. 28 des UA). Soweit der Kläger mit seinem Zulassungsvorbringen einerseits vorträgt, er sei bereit, seine Suchtproblematik aufzuarbeiten, andererseits auf einen Führungsbericht der JVA Kaisheim vom 26. Januar 2020 verweist, wonach er nicht an einer Alkohol- oder Drogenkrankheit leide, ist dieses inkonsistente Vorbringen schon für sich genommen nicht nachvollziehbar. Auch setzt das Zulassungsvorbringen sich in keiner Weise mit der in Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerwG, U.v. 27.9.1995 – 11 C 34.94 – juris Rn. 14) stehenden Annahme des Erstgerichts, der Alkoholisierungsgrad des Klägers von 2,9 bis 3,1 Promille BAK bei der letzten Tat spreche für eine dauerhafte, ausgeprägte Alkoholproblematik, auseinander. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt, dass jedenfalls die Aggressionsproblematik beim Kläger nicht abschließend therapeutisch aufgearbeitet ist. Soweit der Kläger dazu behauptet, der Führungsbericht der JVA vom 26. Januar 2020 führe aus, dass die den Aggressionsdelikten zu Grunde liegende Problematik hinreichend aufgearbeitet worden sei und es einer weitergehenden Therapie nicht bedürfe, ist dies in dieser Form nicht zutreffend. Der Führungsbericht (Bl. 125 f. der Akte des Verwaltungsgerichts) führt zwar aus, dass nach Abklärung mit der externen Alkoholberatung und mit einem Psychologen kein Drang nach Alkohol festgestellt werden könne, schildert aber gleichzeitig, dass eine Maßnahme der Sozialtherapeutischen Abteilung für Gewalttäter am 19. September 2019 durch die Anstalt abgebrochen wurde, da keine hinreichende Basis für ein effektives therapeutisches Arbeitsbündnis gegeben gewesen sei; eine Bewertung des Anti-Gewalt-Trainings, an dem der Kläger seit dem 14. Oktober 2019 teilnehme, könne noch nicht erfolgen. Von einer abgeschlossenen Behandlung seiner Aggressionsproblematik kann daher nicht die Rede sein. Schon deshalb, daneben aber auch aufgrund einer noch fehlenden Bewährung des noch inhaftierten Klägers in Freiheit, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden (zur ständigen Rechtsprechung des Senats hierzu vgl. z.B. BayVGH, B.v. 12.7.2017 – 10 ZB 17.730 – juris Rn 18; B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris Rn. 15).
b) Auch die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 bis 3, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass es sich beim Kläger um einen faktischen Inländer und assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen mit Niederlassungserlaubnis handelt, der sich deswegen aber insbesondere auch aufgrund seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Tochter auf eine besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse berufen kann. Es hat die für die Abwägung von Ausweisungsinteresse und Bleibeinteresse maßgeblichen Gesichtspunkte ermittelt und in die Abwägung eingestellt. Bei der Gesamtabwägung ist es zum Ergebnis gelangt, dass das öffentliche Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
Weder hinsichtlich der Gewichtung der einzelnen Gesichtspunkte noch hinsichtlich der Gesamtabwägung werden die Ausführungen des Verwaltungsgerichts durch das Zulassungsvorbringen ernstlich in Zweifel gezogen.
Soweit der Kläger behauptet, er habe niemals die türkische Sprache erlernt, setzt er sich nicht ansatzweise mit der ausführlichen Begründung des Verwaltungsgerichts (S. 38 f. des UA) auseinander, das unter Auswertung der Akten und unter Berücksichtigung der Geschehnisse in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht zur Auffassung gelangt ist, dass der Kläger in der Lage sei, sich im Alltag zumindest mündlich auf Türkisch zu verständigen, auch wenn die entsprechenden Kenntnisse aufgefrischt werden müssten. Weitere Bindungen des Klägers an oder in die Türkei hat das Erstgericht seiner Abwägung nicht zugrunde gelegt.
Auch der Vortrag des Klägers, die Eheschließung mit seiner deutschen Verlobten scheitere (nur) daran, dass man die Ehe nicht in den Räumen der JVA habe schließen wollen, zeigt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts, eine Eheschließung sei derzeit nicht absehbar, das Verlöbnis daher nicht in gleichem Maße wie eine Ehe schützenswert, auf. Denn dieses Vorbringen widerspricht bereits den eigenen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, wonach die Eheschließung bislang daran scheitere, dass die Scheidung von seiner ersten Ehefrau in der Türkei noch nicht registriert sei (S. 4 des Protokolls). Die weitere erstgerichtliche Gewichtung und Würdigung der Bindung des Klägers an seine Verlobte, zu der er nach Einschätzung des zuständigen Jugendamtes vom 21. Januar 2020 (Bl. 107 der Akte des Verwaltungsgerichts) auch vor seiner Inhaftierung eine On-Off-Beziehung unterhielt, und der zu erwartenden Folgen einer weiteren räumlichen Trennung von seiner Verlobten hat der Kläger mit dem Zulassungsvorbringen nicht substantiiert beanstandet.
Schließlich begründet auch der Verweis des Klägers auf die Bindungen zu seinen drei im Bundesgebiet lebenden deutschen Kindern keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.). Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Kann die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind – wie hier – nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen. Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 13 f. m.w.N.). Eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – ist nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen. Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen deutschen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse (BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5).
Hinsichtlich seines im November 2016 geborenen Sohnes aus seiner mittlerweile geschiedenen Ehe hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf abgestellt, dass der Kläger seit der Inhaftierung keinen Kontakt mehr zu diesem Kind hat. Unabhängig von den hierfür bestehenden Gründen – der Kläger macht allein seine geschiedene Ehefrau hierfür verantwortlich, das Jugendamt schildert, der Kläger habe Umgangskontakte nicht wahrgenommen – ist damit der auch bis Haftantritt im September 2018 allenfalls sporadische Kontakt zu dem Jungen mittlerweile abgerissen, sodass davon auszugehen ist, dass der Kläger im Leben des noch sehr jungen Kindes auch ungeachtet der Ausweisung keine für das Kindeswohl bedeutsame Rolle mehr spielt.
Entsprechendes gilt für den im Mai 2019 geborenen jüngsten Sohn des Klägers und seiner Verlobten. Da der Kläger bei Geburt des Kindes bereits inhaftiert war, konnte sich – wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat – eine irgendwie geartete Beziehung, deren Abbruch das Kindeswohl beeinträchtigten könnte, bislang nicht entwickeln. Etwas anderes wird auch mit dem Zulassungsvorbringen nicht dargelegt. Dementsprechend ordnet das zuständige Jugendamt die räumliche Trennung von Sohn und Vater als für das Kind „normalen Alltag“ ein (Bl. 107 R der Akte des Verwaltungsgerichts).
Schließlich hat das Verwaltungsgericht die Bindung des Klägers zu seiner im August 2011 geborenen Tochter und die möglichen Folgen einer Aufenthaltsbeendigung umfassend ermittelt und zutreffend gewürdigt. Das Erstgericht hat angenommen, es bestehe eine auf persönlicher Verbundenheit beruhende, tragfähige Vater-Tochter-Beziehung, in die durch die Ausweisung eingegriffen werde. Es hat weiter festgestellt, dass Reisen der Tochter in die Türkei wegen der begrenzten finanziellen Mittel der Verlobten des Klägers nicht zu erwarten seien und sich der Kontakt nur durch Telefonate, Briefe oder soziale Medien, möglicherweise auch durch Betretenserlaubnisse aufrecht erhalten lassen werde (S. 46 des UA). An der Richtigkeit der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Ausweisung des Klägers bei gleichzeitiger Verhängung einer (nach entsprechender Zusicherung des Beklagten in der mündlichen Verhandlung) vierjährigen Aufenthalts- und Wiedereinreisesperre erweise sich auch im Hinblick auf diese Beziehung als verhältnismäßig, bestehen auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens im Ergebnis keine ernstlichen Zweifel. Insbesondere ist durch die Ausweisung, die eine Aufenthaltsbeendigung nach sich zieht, das Kindeswohl der Tochter nicht in einem solchen Maße gefährdet, dass sich die Ausweisung unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK und Art. 6 GG als unverhältnismäßig erweist.
Die Stellungnahme des zuständigen Jugendamtes vom 21. Januar 2020 (Bl. 107 R Akte des Verwaltungsgerichts) führt aus, die Tochter des Klägers vermisse ihren Vater seit dessen Inhaftierung sehr und fiebere sehnsüchtig der Haftentlassung entgegen. Eine Ausweisung würde für sie einen Verlust bedeuten und ihre Verlustängste mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter verstärken. Damit ist über eine zu erwartenden Kindeswohlgefährdung bereits keine Aussage getroffen. Der Stellungnahme lässt zwar die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Kindeswohles durch die Ausweisung und nachfolgende Aufenthaltsbeendigung erkennen. Allerdings wird aus der Schilderung in der Stellungnahme auch ersichtlich, dass das mittlerweile achteinhalbjährige Kind bereits ein kognitives Konzept von der nur vorübergehenden Natur der Trennung vom Vater entwickeln konnte. Bei entsprechender Begleitung (etwa durch die behandelnde Therapeutin) ist daher nicht ohne weiteres zu befürchten, dass sie die durch die Ausweisung bedingte räumliche Trennung vom Kläger – anders als bislang – als endgültigen Verlust begreifen würde. Angesichts des Alters des Kindes und der Befristung der Wiedereinreisesperre auf vier Jahre ist es zudem möglich, dass der Kläger zu einem Zeitpunkt wieder nach Deutschland zurückkehren wird, der einerseits für das Kind noch absehbar ist, andererseits noch einen ausreichend langen Zeitraum für eine gelebte Vater-Tochter-Beziehung lässt. Unter diesen Umständen und wegen der vom Verwaltungsgericht angeführten Möglichkeiten der Aufrechterhaltung des Kontakts ist nicht ersichtlich, dass durch die Ausweisung des Klägers eine Kindeswohlbeeinträchtigung konkret zu erwarten wäre. Dies gilt umso mehr, als die vorliegenden Unterlagen keinesfalls belegen, dass die aktuellen emotionalen Probleme der Tochter des Klägers ihre alleinige oder auch nur maßgebliche Ursache in der Abwesenheit des Klägers haben. Im Bericht des Jugendamtes vom 21. Januar 2020 werden als „aktuelle Herausforderungen“, derentwegen die Tochter des Klägers mittlerweile therapeutisch angebunden sei, neben der Inhaftierung ihres Vaters auch die Geburt ihres Bruders, eine Mutter mit depressiven Verstimmungen und ein Wohnungsbrand angeführt. Eine Bescheinigung der behandelnden Therapeutin vom 27. Januar 2020 (Bl. 152 der Akte des Verwaltungsgerichts) schildert zwar, dass bis zur Inhaftierung ein regelmäßiger, guter Kontakt zwischen Tochter und Vater bestanden habe und die Tochter ihren Vater sehr vermisse. Der Bericht führt aber als Belastungsfaktor für das Kind gleichwohl ausschließlich die „hoch konfliktbeladene Beziehung der Eltern“ an. Das nach alledem verbleibende Risiko, dass die Ausweisung des Klägers zu einer nachhaltigen Beeinträchtigung des Kindeswohls seiner Tochter führen könnte, begründet bei Abwägung aller Umstände, insbesondere angesichts der bestehenden konkreten und schwerwiegenden Gefahr, die vom Kläger für allem die hochrangigen Schutzgüter von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ausgeht, keine Verletzung von Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK.
c) Erweist sich demnach die Ausweisung des Klägers auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats als rechtmäßig, geht der Einwand des Klägers, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zum befristeten Wiedereinreiseverbot sei fehlerhaft, weil aufgrund der Rechtswidrigkeit der Ausweisung „denknotwendig“ kein Einreiseverbot hätte erlassen werden dürfen, von vornherein fehl. Im Übrigen übersieht der Kläger mit seinem weiteren Zulassungsvorbringen zu einer fünfjährigen Wiedereinreisesperre, dass der Beklagte in der mündlichen Verhandlung zugesagt hatte, die Wiedereinreisesperre auf vier Jahre zu verkürzen und damit den familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet ausreichend Rechnung getragen hat.
2. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegt ebenfalls nicht vor.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – Rn. 4; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72). Gemessen daran kommt dem vorliegenden Fall keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Zur Beantwortung der sinngemäß aufgeworfenen Frage (die vom Kläger wörtlich formulierte Frage ist aufgrund mehrfacher Satzbrüche so nicht beantwortbar), ob bei einem faktischen Inländer das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresses generell überwiegt, bedarf es nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens. Es ist nämlich geklärt, dass für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot besteht und lediglich im Rahmen der Abwägung von Bleibe- und Ausweisungsinteresse der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen ist (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19 m.w.N.). Das weitere Zulassungsvorbringen zu diesem Punkt beschäftigt sich ausschließlich mit Einzelfallfragen, die einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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