Verwaltungsrecht

Rückkehrmöglichkeit für alleinstehende arbeitsfähige Männer

Aktenzeichen  13a ZB 20.31934

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32708
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 4, § 78 Abs. 3
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige ist angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde. Die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie ändern insoweit weder etwas an der Einschätzung hinsichtlich eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf die humanitäre bzw. wirtschaftliche Lage in Afghanistan noch führen sie im Allgemeinen zur Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 17.41695 2020-08-12 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 12. August 2020 hat keinen Erfolg. Zulassungsgründe nach § 78 Abs. 3 AsylG sind nicht gegeben.
Der Kläger hat seinen Zulassungsantrag damit begründet, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Klärungsbedürftig sei, „ob die Covid-19-Pandemie, die im März 2020 in Afghanistan ausgebrochen ist und sich in einem dynamisch ansteigenden Entwicklungsprozess befindet, bei alleinstehenden, männlichen Erwachsenen, die über keine Schulbildung oder Ausbildung verfügen, eine Gefahrenlage im Sinne von Art. 3 EMRK darstellt und somit ein Abschiebeverbot i.V.m. § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes bedingt, hilfsweise ein Abschiebeverbot nach § 60 VII AufenthG in verfassungskonformer Anwendung begründet.“ Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (B.v. 9.7.2020 – A 11 S 1196/20) habe diesbezüglich der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden (U.v. 19.8.2020 – 7 K 5030/17.WI.A) habe diesbezüglich ausgeführt, dass ein Abschiebungsverbot für einen alleinstehenden, männlichen afghanischen Schutzsuchenden auszusprechen sei. Er verfüge über keine ausreichende Schulbildung. Die Tatsache, dass er in einer Bäckerei Aushilfsjobs verrichte, lasse lediglich die Möglichkeit zu, auf dem informellen Sektor nach Arbeit zu suchen. Zu Unrecht vermute das Verwaltungsgericht, dass ihn ein vorhandener Familienverband unterstützen könne. Unter Hinweis auf einige Erkenntnismittel (u.a.: Save the children v. 1.5.2020; FEWS Net v. 30.5.2020; TOLOnews v. Mai 2020; BAMF, Briefing Notes v. 27.4.2020; UNOCHA v. 9.7.2020, Lagebericht des Auswärtigen Amts v. 16.7.2020; IRC v. 1.6.2020, Thomas Ruttig v. 29.8.2020; IOM v. 12.8.2020; NTV/Panorama v. 5.8.2020; SZ v. 26.6.2020; UNAMA Midyear Report 2020; Konrad-Adenauer-Stiftung v. Juli 2020; tageschau v. 14.8.2020; Accord v. 5.6.2020; etc.) wird vorgetragen: Die Preise für Nahrungsmittel seien gestiegen. Die Arbeitslosenquote werde aufgrund der Covid-19-Pandemie wieder steigen. Er sei zwar ein junger, gesunder Mann im arbeitsfähigen Alter, jedoch habe er keine Schule besucht. Er wäre auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen und könnte seine Versorgung nicht hinreichend sichern. Bezüglich der medizinischen Versorgung sei auf Folgendes hinzuweisen: Man gehe von einer geschätzten Infektionszahl von 31% aus, in Kabul sogar 50%. Genauere Daten ließen sich wohl nicht bestimmen, da es keinerlei Testkapazitäten gebe. Die veröffentlichten Zahlen seien nicht aussagekräftig. Mittlerweile lägen Informationen vor, dass speziell Männer ab 40 ein erhöhtes Risikoprofil aufweisen würden. Aus der Undurchsichtigkeit der Risikoprofile könne nicht darauf geschlossen werden, dass die Gesamtbevölkerung unterschiedslos an der Pandemie litte. Das Gesundheitssystem kollabiere. Er wäre bei einer Abschiebung einer wirklichen Gefahr ausgesetzt, einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung unterworfen zu werden, da keine hinreichende ärztliche Versorgung gesichert sei. Durch die Freilassung von 5000 Taliban-Kämpfern werde sich die Situation wahrscheinlich noch verschärfen. Medizinisches Personal und Krankenhäuser seien angegriffen worden* Die Ansteckungssituation in Kabul sei am schlimmsten. Es stelle sich auch die Frage der Erreichbarkeit seiner Herkunftsregion. Die Lebensumstände hätten sich nach dem Auftreten von Covid-19-Fällen verändert. Aus dem Iran seien etliche Afghanen zurückgekehrt. Rückkehrer aus dem europäischen Ausland würden als vermeintlich Verantwortliche für die Gefahr durch Covid-19 stigmatisiert. Aufgrund der flächendeckende Pandemie, der desaströsen medizinischen Versorgung und der fehlenden Eindämmungsmöglichkeiten der Pandemie sei von einer extremen Gefahrenlage auszugehen. Das Programm der Erin-Rückkehrhilfen sei aufgrund Corona eingeschränkt.
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
Hiervon ausgehend hat die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung.
Der Kläger wird den Darlegungsanforderungen aus § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG insoweit nicht gerecht, als er sich im Zulassungsantrag nicht hinreichend mit den fundierten Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Lage in Afghanistan unter Berücksichtigung der Covid-19 Pandemie (UA S. 13 ff.) auseinandersetzt. Er verweist vielmehr lediglich auf einige Erkenntnismittel, ohne hinreichend konkret aufzuzeigen, welche in diesen enthaltenen Angaben im Einzelnen von welchen Annahmen im Urteil des Verwaltungsgerichts abweichen sollen. Insbesondere muss, wenn das Verwaltungsgericht Feststellungen zu einer Tatsachenfrage mit von ihm benannten Erkenntnisquellen begründet hat, zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit eine fallbezogene Auseinandersetzung mit diesen Erkenntnisquellen erfolgen (BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 13a ZB 18.30490 – juris Rn. 6 m.w.N.).
Unbeschadet dessen ist die klägerseitig aufgeworfene Frage nicht klärungsbedürftig. Es ist in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs weiterhin geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen ist, die zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 17 ff., U.v. 6.7.2020 – 13a B 18.32817 – juris Rn. 46 ff., 35 ff.; in Fortführung der bisherigen Rechtsprechung, vgl. auch: BayVGH, U.v. 6.2.2020 – 13a B 19.33510 – juris Rn. 17 ff.; U.v. 28.11.2019 – 13a B 19.33361 – juris Rn. 17 ff.; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153 – juris Rn. 31 ff., 57 ff.; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.33359 – juris Rn. 17 ff.; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.33508 – juris Rn. 18 ff. U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 14 ff.). In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist insbesondere auch geklärt, dass die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie insoweit weder etwas an der Einschätzung hinsichtlich eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf die humanitäre bzw. wirtschaftliche Lage in Afghanistan ändern (BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 43 ff.) noch im Allgemeinen zur Annahme einer erheblichen konkreten Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG führen (BayVGH, a.a.O., juris Rn. 53 ff.). Inwieweit im Einzelfall eines konkreten Klägers etwa aufgrund einer Vorerkrankung, hohen Alters oder einer fehlenden (Schul-)Ausbildung mit Blick auf die Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab und ist deshalb nicht allgemein klärungsfähig.
Das Vorbringen im Zulassungsantrag gibt insoweit keinen Anlass zu einer erneuten Überprüfung: Soweit der Kläger auf einige Erkenntnismittel verweist, ist darauf hinzuweisen, dass sich der Verwaltungsgerichtshof in den oben genannten Urteilen vom 1. Oktober und 6. Juli 2020 (13a B 20.31004; 13a B 18.32817 – juris) explizit mit aktuellen Erkenntnismitteln wie etwa den Lageberichten des Auswärtigen Amts vom 16. Juli 2020 bzw. vom 2. September 2019, den UNAMA-Berichten vom 27. Juli und 22. Februar 2020 bzw. vom 27. April und 22. Februar 2020, dem EASO-Bericht vom 1. Juni 2019, dem Länderinformationsblatt Afghanistan des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. November 2019 (zuletzt mit Einfügungen vom 21. Juli 2020), den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 und dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom 12. September 2019 auseinandergesetzt und diese bei seiner Bewertung berücksichtigt hat. Einbezogen in diese Bewertung hat der Verwaltungsgerichtshof ferner auch aktuelle Erkenntnismittel zu den Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie (u.a. ACCORD, Afghanistan: Covid-19 v. 5.6.2020; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan, Stand 21.7.2020; WHO v. 18./30.9.2020; vgl. BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 43 ff./57).
Auch aus dem UNAMA-Bericht vom 27. Oktober 2020 (UNAMA, Afghanistan Third Quarter Report on Protection of Civilians in Armed Conflict: 1 January – 30 September 2020) ergibt sich kein erneuter Überprüfungsbedarf: Hiernach sind in den ersten drei Quartalen 2020 die zivilen Opferzahlen mit insgesamt 5.939 Getöteten und Verletzten im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 30 v.H. zurückgegangen und haben den niedrigsten Stand für einen entsprechenden Zeitraum seit 2012 erreicht. Bei einer proportionalen Hochrechnung dieser Opferzahlen für 2020 insgesamt (7.919 zivile Opfer) und einer zugunsten des Klägers konservativ geschätzten Einwohnerzahl Afghanistans von nur etwa 27 Mio. Menschen ergibt sich hieraus ein konfliktbedingtes Schädigungsrisiko von 1:3.409. Dieses Risiko bleibt deutlich unter 1:800 und damit unverändert weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – NVwZ 2012, 454 – juris Rn. 22 f.). Angesichts dieses Ergebnisses vermag sich auch die in der Pressemitteilung von UNAMA vom 27. Oktober 2020 geäußerte Besorgnis über die teilweise Intensivierung der Kämpfe, einen fehlenden Rückgang der zivilen Opfer aufgrund der Friedensverhandlungen in Doha seit dem 12. September 2020 und einen gegen Zivilisten gerichteten Selbstmordanschlag in Kabul, die ab 1. Oktober 2020 zu mehr als 400 Opfern geführt hätten, nicht durchgreifend auszuwirken. Selbst wenn man daraus schlussfolgern wollte, infolge der Zunahme an Anschlägen sei monatlich mit 400 zusätzlichen Opfern zu rechnen, ergäbe sich hieraus hochgerechnet ein Schädigungsrisiko von 1:2.836.
Unbeschadet dessen ist die klägerseitig aufgeworfene Frage, soweit sich diese auf die mittelfristig zu erwartenden Auswirkungen der SARS-CoV-2-Pandemie bezieht, auch nicht allgemein klärungsfähig: Denn das weltweite Pandemiegeschehen ist gegenwärtig immer noch von großer Dynamik gekennzeichnet und es ist nicht ersichtlich, dass über eine bloße Momentaufnahme hinaus eine verlässliche Einschätzung seiner mittelfristigen Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in einzelnen Ländern überhaupt möglich wäre (BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 48; vgl. auch: BayVGH, B.v. 16.6.2020 – 9 ZB 20.31250 – juris Rn. 4 mit Verweis auf VGH BW, B.v. 8.5.2020 – A 4 S 1082/20 – juris Rn. 5; OVG NW, B.v. 21.9.2020 – 2 A 2255/20.A – juris Rn. 12).
Soweit der Kläger die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts rügt, ist darauf hinzuweisen, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Asylprozess gemäß § 78 Abs. 3 AsylG kein Zulassungsgrund sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.


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