Verwaltungsrecht

Rückkehrprognose im Rahmen der Prüfung von nationalem Abschiebungsschutz

Aktenzeichen  13a ZB 19.33975

Datum:
3.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 1238
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

 

Leitsatz

1. Für die Gefahrenprognose ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie in Deutschland im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehre. (Rn. 2) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

Au 5 K 16.31285 2018-10-30 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg

Tenor

Die Berufung wird antragsgemäß hinsichtlich des Vorliegens eines national begründeten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zugelassen.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 30. August 2018 hat Erfolg. Die Berufung ist antragsgemäß hinsichtlich des Vorliegens eines national begründeten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zuzulassen.
Der Kläger macht eine grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) der Frage geltend, “ob ein Familienvater, sofern sein Asylverfahren vom Asylverfahren der Familie getrennt wurde und der Familie ein Bleiberecht zuerkannt wurde, als Einzelperson zu betrachten ist”. Diese Frage ist mittlerweile geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – Asylmagazin 2019, 311) hat entschieden, dass für die Prognose, welche Gefahren dem einzelnen Ausländer bei Rückkehr in das Herkunftsland drohen, die Situation einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband zugrunde zu legen ist. Für die Gefahrenprognose sei von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung der – wenngleich notwendig hypothetischen – Rückkehrsituation und damit bei tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie in Deutschland im Regelfall davon auszugehen, dass diese entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam im Familienverband zurückkehre. Dies gelte auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden sei. Daraus, dass nach dem Ablauf der Antragsfrist auf Grund dieses Urteils des Bundesverwaltungsgerichts die zuvor gegebene grundsätzliche Bedeutung entfallen ist, darf dem Kläger jedoch kein Nachteil erwachsen. Da die Berufung vor der Klärung unter dem dargelegten Gesichtspunkt zuzulassen gewesen wäre, kann sie nunmehr unter dem Gesichtspunkt der (nachträglichen) Divergenz zugelassen werden (BVerwG, U.v. 29.10.2015 – 3 B 70.15 – BVerwGE 153, 169; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124 Rn. 40; Kopp/Schenke, VwGO, 25. Aufl. 2019, § 124 Rn. 12 m.w.N.).
Hinsichtlich der Erkenntnis, dass von einer alleinigen Rückkehr des Klägers auszugehen sei und ihm als Familienvater kein nationaler Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zustehe, sind die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG gegeben (Divergenz). Eine Divergenz liegt vor, wenn das Verwaltungsgericht mit einem sein Urteil tragenden Obersatz von einem Obersatz des Bundesverwaltungsgerichts oder des Oberverwaltungsgerichts abgewichen ist (BVerwG, B.v. 19.8.1997 – 7 B 261.97 – NJW 1997, 3328; Kraft in Eyermann, a.a.O., § 132 Rn. 35).
Dies ist hier der Fall. Nach der dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist der Kläger bei der Rückkehrprognose im Rahmen der Prüfung von nationalem Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG nicht als Einzelperson zu betrachten, sondern eine Rückkehr gemeinsam im Familienverband anzunehmen. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht entschieden, dass der Schutz der familiären Lebensgemeinschaft ein von der Ausländerbehörde zu beachtendes, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis sei und nicht im Rahmen der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (UA S. 5 f.). Damit weicht es von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab. Dass die familiäre Gemeinschaft – worauf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts abzielt – erst im Bundesgebiet begründet wurde, ist nicht von Bedeutung. Das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 4.7.2019, a.a.O., juris Rn. 18) stellt allein auf eine im Bundesgebiet “gelebte” Kernfamilie ab. Die Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr setzt danach eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Da der Kläger vorliegend – auch schon im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts – unstreitig mit seiner bleibeberechtigten Ehefrau in Deutschland eine Lebensgemeinschaft gebildet hat, sind die vom Bundesverwaltungsgericht geforderten Voraussetzungen erfüllt. Das angefochtene Urteil beruht auch auf dieser Abweichung.
Im Hinblick auf die nunmehr bestehende Familie mit einem minderjährigen Kind weicht das Urteil auch von der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212) ab, wonach schlechte humanitäre Bedingungen eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinn von Art. 3 EMRK führt. Dass bei der Rückkehr von Familien mit minderjährigen Kindern unter den in Afghanistan herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen eine solche Gefahrenlage anzunehmen ist und in der Folge ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mit Urteilen vom 21. November 2014 entschieden (13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197 = juris und 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212 = juris) und dies mit Urteilen vom 23. März 2017 (13a B 17.30030 – AuAS 2017, 175 = juris Rn. 14) und vom 21. November 2018 (13a B 18.30632 – juris Rn. 29) bestätigt.
Ob vorliegend eine Ausnahme hiervon gerechtfertigt sein könnte, weil der Kläger arbeiten und auf Unterstützung von Verwandten in Afghanistan zurückgegriffen werden könnte, wie die Beklagte im Zulassungsverfahren einwendet, war nicht Gegenstand des Urteils des Verwaltungsgerichts, da dort eine alleinige Rückkehr des Klägers zugrunde gelegt wurde. Diese Frage wird aber im Berufungsverfahren zu prüfen sein. Allein der bloße Umstand, dass es – was in der Regel der Fall sein dürfte – Verwandte im Heimatland gibt, dürfte dabei die Annahme einer Ausnahme allerdings noch nicht rechtfertigen können.
Das Verfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt (§ 78 Abs. 5 Satz 3 AsylG); der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht.


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