Verwaltungsrecht

Schutzberechtigter, Auskünfte des Auswärtigen Amtes, Anerkannte Schutzberechtigte, Verwaltungsgerichte, Subsidiärer Schutz, Prozeßbevollmächtigter, Mitgliedstaaten, Erniedrigende Behandlung, Asylantragstellung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Kostenentscheidung, Sozialversicherungsnummer, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Nationales Abschiebungsverbot, Griechenland, Sozialleistungen, Europäisches Asylsystem, Asylverfahren, Internationaler Schutz, Abschiebungsandrohung

Aktenzeichen  B 8 K 19.30979

Datum:
20.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 43519
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für … vom … wird in den Ziffern 1, 2, 3 Satz 1-3 und Ziffer 4 aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandeln, weil diese mit ordnungsgemäßer Ladung hierauf hingewiesen wurde (§ 102 Abs. 2 VwGO). Weiterhin konnte nach der Einholung der Auskunft durch das Gericht ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierauf verzichtet haben.
Die zulässige Klage hat Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig, und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Aufgrund der Verhältnisse in Griechenland, durfte der Asylantrag des Klägers nicht als unzulässig abgelehnt werden.
1. Die Entscheidung der Beklagten zu Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides beruht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer – wie hier nachweislich Griechenland am 04.03.2014 -bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Der Ausschluss eines erneuten Asylverfahrens ist mit Europarecht vereinbar, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der RL 2013/32/EU (BVerwG, U.v. 17.06.2014, Az. 10 C 7.13). Jedoch ist es dem Mitgliedstaat hiernach verboten, von der Befugnis, den Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als anerkannter Flüchtling erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu erfahren (EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 -NVwZ 2020, 137-139). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist dabei auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu berücksichtigen. Dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht folgend, ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Mietgliedstaaten die grundlegenden Werte der Union, wie sie insbesondere in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten. Dieser Grundsatz gilt auch im Rahmen des europäischen Asylsystems und gerade auch bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3). Der genannte Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut im Sinne einer unwiderlegbaren Vermutung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das gemeinsame europäische Asylsystem in der Praxis auf große Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt. In diesem Fall kann ein ernsthaftes Risiko bestehen, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesem Mitgliedstaat rechtswidrig behandelt werden. Dies zu prüfen obliegt den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 86 ff.).
Derartige Funktionsstörungen führen erst dann zum Ausschluss den Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn sie eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den Antragsteller tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C -297/17 u.a. – juris Rn. 89). Hierfür ist weder der bloße Umstand ausreichend, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der RL 2011/95/EU (Qualifikations-RL) entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 36), noch ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen, eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 94, 96). Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedsstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn die Schutzberechtigten sich aufgrund ihrer besonderen Verletzbarkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befänden. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 97).
Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 90). Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu gelangen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 – A 4 S 1329/19 – juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, wenn diese nicht mit extremer materieller Not einhergeht, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 – Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 – NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 91). Für die zu treffende Prognoseentscheidung, ob dem Schutzberechtigten eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloße Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Entscheidung selbst, § 77 AsylG. Daher kann auch nur begrenzt berücksichtigt werden, inwiefern es dem Kläger gelungen ist, bisher in Griechenland, nicht zu verelenden bzw. ob er sich in eine etwaige Gefahr der Verelendung durch seine Weiterreise in Europa selbst begeben hat (vgl. ausführlich VG Aachen U.v. 20.07.2020 – 10 K 1678/19.A – juris Rn. 170 ff., m.w.N.).
Die Situation von Schutzsuchenden und anerkannt Schutzberechtigten in Griechenland hat sich in den letzten Jahren verbessert. So hat die griechische Regierung zusammen mit internationalen Organisationen insbesondere Anstrengungen unternommen, die entsprechenden Personen unterzubringen, zu versorgen und zu integrieren hat. Dies gipfelte zuletzt in verschiedenen Programmen zur Unterbringung von international Schutzberechtigten im Rahmen einer neuen wohnungsbezogenen Sozialleistung, sowie Wohnungen durch des IOM, Schritten zur Implementierung einer Integrationsstrategie, einem Beschäftigungsprogramm für anerkannte Schutzberechtigte, bei der die Arbeitsverwaltung neue Stellen erhalten hat um die Betreuung insbesondere von Migranten zu verbessern, sowie besondere Unterbringung Möglichkeiten von vulnerablen Personen, die bereits alle angelaufen sind (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.08.2019). Dennoch droht zumindest dem hiesigen Kläger bei einer Rückkehr nach Griechenland die Verelendung, weil die Lage dort für anerkannte Schutzberechtigte immer noch schwierig ist und er von den aufgelegten Programmen nicht profitieren wird.
International Schutzberechtigte sind in Griechenland Inländern rechtlich gleichgestellt. Sie haben unter den gleichen rechtlichen Voraussetzungen wie Inländer Zugang zu Arbeitsmarkt, Wohnungen und medizinischer Versorgung (vgl. Aida Country Report Greece, 2019 Update, Seiten 217 ff.; Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, Gesamtaktualisierung am 04.10.2020, letzte Information eingefügt am 19.03.2020, Seiten, 28-31). Dennoch sind sie im Vergleich zu Inländern in besonderen Maß sowohl von tatsächlichen als auch bürokratischen Hindernissen betroffen, sodass die Gefahr der Verelendung besteht. Dies gilt zumindest für solche Personen, die wie der Kläger nicht von Unterstützungsprogrammen profitieren und auch sonst mit keiner Unterstützung rechnen können.
Der Zugang zum griechischen Arbeitsmarkt ist für international Schutzberechtigte zwar gleichermaßen wie für Inländer gegeben, die Chancen auf Vermittlung eines Arbeitsplatzes sind jedoch im Vergleich zu Inländern besonders gering, da die staatliche Arbeitsverwaltung schon für die griechischen Staatsangehörigen kaum Ressourcen für eine aktive Arbeitsvermittlung hat. Zudem haben sich die allgemeinen Arbeitsmarktbedingungen durch die andauernde Wirtschafts- und Finanzkrise verschlechtert (BFA a.a.O., S. 31). Zuverlässige Zahlen zur Beschäftigungssituation anerkannt Schutzberechtigter sind nicht vorhanden. Der Zugang zu den für die Arbeitsaufnahme notwendigen Voraussetzungen (Steueridentifikationsnummer und Bankkonto) ist grundsätzlich möglich, jedoch erschwert: Im Juli 2019 verfügten über 50% der anerkannt Schutzberechtigten mit Steueridentifikationsnummer ausgestattet, neuere Zahlen sind nicht vorhanden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 8, AIDA Country Report Greece, 2019 Update, S. 220 f.). Rechtmäßig ansässige Drittstaatsangehörige sind, wenn sie überhaupt Arbeit finden, meist im niedrigqualifizierten Bereich und in hochprekären Beschäftigungsverhältnissen oder gleich in der Schattenwirtschaft tätig (Konrad Adenauer Stiftung, Integrationspolitik in Griechenland, Stand Juli 2018, S. 9). Weiterhin macht die Sprachbarriere eine Integration im Arbeitsmarkt schwierig (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7; Aida Country Report Greece, 2019 Update, S.219 f.). Eine spezielle Förderung zur Arbeitsmarktintegration anerkannt Schutzberechtigter inklusive Sprachkursen findet derzeit nicht bzw. nur äußerst eingeschränkt statt (Pro Asyl, Update Stellungnahme Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland, Stand 30.8.2018, S. 10; Aida Country Report Greece, 2019 Update, S.219). Vereinzelt haben NGOs bzw. kirchliche Institutionen Initiativen zur Arbeitsvermittlung gestartet, etwa der Arbeiter-Samariter-Bund und die Diakonie. Für gut ausgebildete Schutzberechtigte besteht im Einzelfall auch die Chance auf Anstellung bei einer solchen Organisation, etwa als Dolmetscher oder Team-Mitarbeiter (für alles Vorstehende: Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin vom 4.12.2019, S. 7; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 28.08.2020 S.2; BFA a.a.O., S. 31). Dafür, dass der Kläger zu einer Gruppe gehört, die nach den genannten Kriterien einfacher Arbeit finden könnte, ist nichts ersichtlich. Es ist also anzunehmen, dass der Kläger in Griechenland faktisch größte Probleme haben wird Arbeit zu finden und so seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Entsprechendes gilt für das Finden einer Unterkunft. Wohnraum ist sowohl für Inländer als auch anerkannte Schutzberechtigte grundsätzlich auf dem freien Wohnungsmarkt zu beschaffen. Es gibt keine allgemeinen staatlichen Programme zur Unterbringung von Menschen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig 28.01.2020) Das private Anmieten von Wohnraum für bzw. durch anerkannte Schutzberechtigte wird durch das traditionell bevorzugte Vermieten an Familienmitglieder, Bekannte und Studenten, sowie gelegentlich durch Vorurteile erschwert. Personen, die keine Unterkunft haben und nicht das Geld besitzen, eine zu mieten, leben oft in überfüllten Wohnungen, verlassenen Häusern ohne Zugang zu Strom oder Wasser oder werden obdachlos. Schutzberechtigte haben Zugang zu Unterbringungseinrichtungen für Obdachlose, die jedoch nur begrenzt vorhanden sind (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 28.08.2020 S.1; BFA a.a.O, S.30; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig 28.01.2020; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin 04.12.2019; AIDA Country Report Greece 2019, S.217 f.) Das System der Sozialhilfe ist zudem insgesamt noch im Aufbau. Traditionell ist die Wohnungseigentumsquote in Griechenland sehr hoch, so dass eine etwaige Beihilfe als Beihilfe zu Wohnnebenkosten und zur Verhinderung von Zwangsversteigerungen für Eigentümer konzipiert ist (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Chemnitz 01.02.2019), dies kann anerkannt Schutzberechtigten bei der Finanzierung von Wohnraum nur begrenzt weiterhelfen, da sie in aller Regel kein Eigentum an Wohnraum haben. Das zum 01.01.2019 neu eingeführte soziale Wohngeld greift zudem nur bei legalem Voraufenthalt von mindestens fünf Jahren in Griechenland. Im Falle international Schutzberechtigter wird die Aufenthaltsdauer ab Asylantragstellung angerechnet (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth vom 28.08.2020). Diese Zeiten des legalen Voraufenthalts kann der Kläger jedoch nicht nachweisen, da er inzwischen einige Jahre in Deutschland gelebt hat. Insofern besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger – neben Problemen beim Finden von Arbeit – in Griechenland auch keine Unterkunft finden und obdachlos sein wird.
Dass Obdachlosigkeit unter Flüchtlingen in Athen nach Wahrnehmung des Auswärtigen Amtes dennoch (bislang) kein augenscheinliches Massenphänomen darstellt, mag zwar auch darauf zurückzuführen sein, dass Flüchtlinge, denen die Unterbringungsmöglichkeiten für Asylsuchende nicht (mehr) zur Verfügung stehen, teilweise „auf die Bildung von eigenen Strukturen und Vernetzung innerhalb der jeweiligen Landsmannschaft“ und hierdurch gebotene „informelle Möglichkeiten“ der Unterkunft (etwa in illegal besetzten Gebäuden, wie z. B. ehemaligen Schulen, Hotels oder Krankenhäusern) zurückgreifen (vgl. hierzu Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Stade vom 6.12.2018, S. 3; vgl. insoweit auch VG Cottbus, B.v. 10.02.2020 – 5 L 581/18.A -, juris, Rn. 33 ff.). Solch „Informelle Möglichkeiten“ der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden sind allerdings nicht nur illegal, weswegen (nicht nur) rückgeführte anerkannt Schutzberechtigte hierauf nicht verwiesen werden können. (Vgl. hierzu etwa VG Aachen U.v. 20.07.2020 – 10 K 1678/19.A – juris, Rn. 118 ff. m.w.N.) Die Unterkünfte weisen häufig zudem menschenunwürdige Zustände auf: es fehlt ein gesicherter Zugang zu sanitären Einrichtungen, Wasser und Strom. Die Bewohner der Unterkünfte sind außerdem zunehmend der Gefahr der Räumung der Gebäude ausgesetzt (Vgl. Pro Asyl, „Abschiebungen ins Nichts: Zur Situation von anerkannten Flüchtlingen in Griechenland“, Bericht vom 07.01.2019, Pro Asyl, Stellungnahme zu den Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Griechenland vom 23.06.2017, S. 3, 14 ff., 16 f., und Update vom 30.08.2018, S. 5). Daneben dürften fehlende Zahlen zu Obdachlosigkeit von anerkannt Schutzberechtigten auch darauf zurückzuführen sein, dass zum einen die große Zahl der Asylsuchenden unter den Flüchtlingen in aller Regel in staatlichen Aufnahmelagern oder Wohnungen des ESTIA – Programms untergebracht ist und dort nach der Anerkennung – wie aufgezeigt – bislang für eine Übergangszeit von sechs bis zwölf Monaten weiter „geduldet“ wurde (seit März 2020 offenbar nur noch für 30 Tage, vgl. UNHCR, Greece must ensure safety net and integration opportunities for refugees – UNHCR Briefing Notes 02.06.2020), und dass zum anderen die hier zu betrachtende Gruppe der rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten, die dadurch, dass sie Griechenland vorübergehend verlassen hatten, besonderen Integrationsschwierigkeiten ausgesetzt sind, bislang noch relativ klein ist. Denn die Zahl der Rückführungen nach Griechenland ist offenbar nach wie vor gering (Vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung vom 09.08.2019 auf die Kleine Anfrage u. a. der Fraktion DIE LINKE zu Abschiebungen und Ausreisen im ersten Halbjahr 2019, BT-Drucksache 19/12240, S. 3 (neben 7 Dublin-Überstellungen insgesamt 70 „Abschiebungen“ im 1. Halbjahr 2019); vgl. auch Auswärtiges Amt, Auskünfte vom 01.02.2019 an das VG Chemnitz, S. 5 („geringe Fallzahlen“) und vom 06.12.2018 an das VG Stade, S. 9 (34 Rückführungen aus Deutschland im Zeitraum Januar bis September 2018 nach Angaben des BMI)). Dadurch sind jedoch die wenigen veröffentlichten Fallschilderungen von rückgeführten anerkannt Schutzberechtigten, auch als hinreichend aussagekräftig zu bewerten.
Der Zugang zu den ohnehin geringen staatlichen Sozialleistungen ist für anerkannt Schutzberechtigte ebenfalls erschwert und für den Kläger sogar ausgeschlossen. Für die Teilhabe am Sozialversicherungssystem gibt es folgende Hürden: Aufenthaltstitel, Nachweis des Wohnsitzes im Inland (z. B. elektronisch registrierter Mietvertrag, Gas-/Wasser-/Stromrechnungen auf den eigenen Namen oder Nachweis, dass man von einem griechischen Residenten beherbergt wird), Bankverbindung (ggf. später nachzureichen), Steuernummer (AFM), Sozialversicherungsnummer (AMKA), die o. g. Arbeitslosenkarte (OAED) und eine Kopie der Steuererklärung und Steuerprüfung (Ekkatharistiko) für das vorangegangene Jahr. Für Alleinerziehende zusätzlich eine Sterbeurkunde des anderen Elternteils oder ein Nachweis über dessen Inhaftierung. Für Schwerbehinderte zusätzlich eine Anerkennung des Behindertenstatus durch das Zentrum für die Anerkennung von Behinderungen (KE.P.A.). Für die Registrierung der Steuernummer und der Sozialversicherungsnummer sind jeweils der Nachweis des Wohnsitzes und ein gültiges Ausweisdokument erforderlich. Sofern Wohnsitz, Nachweis des Aufenthalts und Vorlage eines gültigen Ausweisdokuments vorgewiesen werden können, werden diese Dokumente anerkannt Schutzberechtigten ausgestellt. Die Bearbeitungsdauer bei administrativen Vorgängen ist oft sehr lang und erfordert häufig die persönliche Vorsprache und ggf. einen Rechtsbeistand, um Verfahrensfragen zu klären. NGOs unterstützen Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigte in diesen Vorgängen. Nach Angaben des UNHCR besaßen von den Ende Oktober 2018 im ESTIA-Programm untergebrachten 21.684 Personen (Asylsuchende und anerkannt Schutzberechtigte) 92% eine Sozialversicherungsnummer, 59% eine Steuernummer und 25% eine Arbeitslosenkarte. Nachdem eine Voraussetzung für den Bezug von staatlichen Sozialleistungen der Nachweis eines dauerhaften einjährigen Mindestaufenthalts im Inland durch die inländische Steuererklärung des Vorjahres ist, sind aus dem Ausland zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte wie der hiesige Kläger zunächst von einem Bezug ausgeschlossen (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Chemnitz 01.02.2019; vgl. auch BFA a.a.O. S.28 f.).
Die medizinische Versorgung, die formell ebenso wie für Inländer erreichbar ist, ist gleichermaßen mit Hürden verbunden (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Berlin 04.12.2019; AIDA Country Report Greece 2019 S. 222; BFA a.a.O. S. 29). Der tatsächliche Zugang zu medizinischer Versorgung ist in der Praxis durch einen erheblichen Ressourcen- und Kapazitätsmangel sowohl für Fremde als auch für die einheimische Bevölkerung erschwert. Der von verschiedenen Sparmaßnahmen stark betroffene öffentliche Gesundheitssektor steht unter enormem Druck und ist nicht in der Lage, den gesamten Bedarf an Gesundheitsleistungen weder für die einheimische Bevölkerung noch für Migranten zu decken. Ein weiteres Problem stellt die Ausstellung der Sozialversicherungsnummer (AMKA) dar. Zudem fallen Kosten für die ambulante Medikamentenversorgung an.
Bekannte Hilfsprogramme für Asylsuchenden und anerkannt Schutzberechtigten ändern an der eben geschilderten prekären Situation nichts. Sie sind für den Kläger nicht erreichbar, da er die Voraussetzungen nicht erfüllt. Dies gilt sowohl für das HELIOS II-Programm als auch für das ESTIA Programm.
Das ESTIA Programm richtet sich nur an Asylbewerber und kann grundsätzlich von anerkannten Schutzberechtigten nicht in Anspruch genommen werden. Es kann allenfalls im Einzelfall dazu kommen, dass Personen, die von dem Programm profitiert hatten auch nach der Anerkennung als Schutzberechtigte für einen Übergangszeitraum weiter Leistungen erhalten. Für nach Griechenland zurückkehrende Personen wie den Kläger findet das Programm keine Anwendung (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig 28.01.2020; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Chemnitz 01.02.2019; BFA a.a.O.). Inzwischen gibt es zudem Hinweise, dass die Frist nach der Anerkennung, noch von dem Programm zu profitieren auf 30 Tage verkürzt wurde (UNHCR, Greece must ensure safety net and integration opportunities for refugees – UNHCR Briefing Notes 02.06.2020). Entsprechendes gilt für das sog. Cash-Card-Programm, das nur Begünstigte aus dem ESTIA Programm fördert (UNHCR Cash Assistance Update March 2020; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig 28.01.2020 S.2; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.08.2019; BFA a.a.O. S.29).
Auch Hilfen aus dem HELIOS II Programm sind für den Kläger nicht erreichbar. Neben einer Anerkennung als Flüchtling oder der Gewährung von subsidiärem Schutz nach dem 01.01.2018 ist außerdem Bedingung, dass man zum Zeitpunkt der Entscheidung des Asylverfahrens in einer offiziellen Flüchtlingsunterkunft (Open Accommodation Center), einem der Hotspot-Lager (Reception and Identification Center, RIC), einer der Unterkünfte des IOM FILOXENIA Projekts oder in einer Wohnung des ESTIA-Programms untergebracht und gemeldet sein muss. Das Helios-Programm soll dabei unterstützen, einen nahtlosen Übergang von einer griechischen Hilfsmaßnahme zu einer europäischen zu ermöglichen; an in Deutschland (oder im anderen Ausland) lebende Migranten richtet sich das Programm originär nicht (Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Bayreuth 21.08.2020; AIDA Country Report Greece 2019 S. 219; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Leipzig 28.01.2020). Der Kläger erfüllt daher mehrere Voraussetzungen für die Teilhabe am Programm nicht. Ihm wurde einerseits bereits 2014 und damit vor dem Stichtag 01.01.2018 der subsidiäre Schutz zuerkannt, andererseits hat er auch vorher nicht von den Programmen profitiert und kehrt aus dem Ausland nach Griechenland zurück.
Nach alledem besteht die Gefahr, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Griechenland unabhängig von seinen eigenen Anstrengungen alsbald verelenden wird. Es wird ihm weder gelingen eine Wohnung noch Arbeit zu finden und so seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Die Ablehnung seines Asylantrages als unzulässig würde daher einer unmenschlichen erniedrigenden Behandlung gleichkommen, die unzulässig ist.
Ziff. 1 des Bescheides ist damit rechtswidrig. Die hierauf gestützten weiteren Ziffern des Bescheides waren damit ebenfalls aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben