Verwaltungsrecht

Spezialpräventive Ausweisung eines faktischen Inländers

Aktenzeichen  M 12 K 18.36

Datum:
25.10.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 40798
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1a, § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 58 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, § 59 Abs. 3 S. 2
BtMG § 29, § 35
AsylG § 13 Abs. 1, § 14
EMRK Art. 8 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Erfolgt die Verurteilung in Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) aufgrund von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasster Taten und anderweitiger Taten, so muss die einbezogene von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasste Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben. Aus den Urteilsgründen, insbes. den Strafzumessungserwägungen, müssen die Einsatzstrafen erkennbar sein. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2 Ein Ausländer, der behauptet, ihm drohten aus politischen Gründen Menschenrechtsverletzungen, aber trotz dieses formlosen Nachsuchens um Asyl (§ 13 Abs. 1 AsylG) keinen förmlichen Asylantrag gem. § 14 AsylG stellt, begibt sich damit gleichwohl in die Prüfungszuständigkeit des Bundesamts und kann nicht geltend machen, er begehre lediglich isoliert einen in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde fallenden Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes kann sich nicht nur aus der Stellung eines formellen Antrages ergeben, sondern auch aus der Geltendmachung eines materiellen Asylbegehrens. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid vom 7. Dezember 2017 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er hat auch keinen Anspruch auf Verkürzung der Wiedereinreise- und Aufenthaltssperre (§ 113 Abs. 5 VwGO).
1. Die in Nr. 1 des Bescheids der Beklagten vom 7. Dezember 2017 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch den Beklagten getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Ein Ausländer, dem – wie dem Kläger – nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Da der Ausweisungsschutz aus Art. 3 Abs. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen nicht weiter reicht als der aus ARB 1/80, ergibt sich aus dieser Norm kein anderer Maßstab für die rechtliche Überprüfung der Ausweisung des Klägers (vgl. BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 15).
a) Vom Kläger geht eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers vom … April 2017 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten wegen Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit Nötigung in Tatmehrheit mit Körperverletzung in drei Fällen in Tatmehrheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis. Dem lag neben einer Trunkenheitsfahrt ohne Fahrerlaubnis im Juli 2015 zugrunde, dass der Kläger am … August 2015 bei einer verbalen und körperlichen Auseinandersetzung dem Geschädigten ohne Vorwarnung und ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mit der Faust ins Gesicht geschlagen hat, um ihn zu verletzen. Nachdem sich der Kläger anschließend Richtung Ausgang des Diskogeländes begeben hatte, drehte er sich plötzlich um, sprintete zurück zu dem Geschädigten und sprang aus ca. einer Entfernung von 1,5 Metern in die Luft und schlug diesem nochmals ohne Vorwarnung und mit voller Wucht mit der Faust ins Gesicht, so dass dieser sogar bewusstlos wurde. Nur wenige Tage später am … September 2015 hat der Kläger zwei Geschädigten gedroht, sie umzubringen, hat während einer Autofahrt das Smartphone einer der Geschädigten aus dem Fenster geworfen, um zu verhindern, dass diese die Polizei ruft und nach dem Anhalten des Autos diese an den Armen und Haaren aus dem Fahrzeug gezogen und auf den Boden geworfen, wodurch sie zweimal mit dem Kopf auf dem Teerboden aufschlug und sich nicht nur unerhebliche Verletzungen zuzog. Insbesondere das betroffene Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit nimmt in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und löst staatliche Schutzpflichten aus. Der Schutz der Bevölkerung vor Körperverletzungsdelikten stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Insbesondere die mehrfache Begehung derartiger Körperverletzungsdelikte begründet daher eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft an der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 15).
Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Körperverletzungsdelikten, ausgeht. Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe: So hat der Kläger seit dem Jahr 2007 eine Vielzahl von Straftaten, insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikten, begangen. Er wurde bereits sieben Mal strafrechtlich verurteilt, zuletzt am … April 2018 wegen Betäubungsmitteldelikten unter Einbeziehung des Urteils vom … April 2017 zu einer Freiheitstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Bereits am … April 2009 wurde der Kläger wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu zwei Tagen Arrest verurteilt, weil er im Jugendwerk … einem Geschädigten mit der Faust ins Gesicht und nur gut zwei Wochen später einem anderen Geschädigten mit der Faust gegen die Brust und ins Gesicht geschlagen hat. Bereits am … Januar 2010 erhielt er wegen einer am … Oktober 2009 und damit nur ein halbes Jahr nach seiner letzten Verurteilung begangenen vorsätzlichen Körperverletzung eine richterliche Weisung. Anstatt sich einsichtig zu zeigen, musste wegen Zuwiderhandlung gegen Auflagen in der Folge jedoch ein Jugendarrest von einer Woche verhängt werden. Bereits sechs Monate nach der letzten Verurteilung bzw. vier Monate nach Verbüßung des Jugendarrests hat der Kläger einem Geschädigten die Nase gebrochen, weswegen er am … Oktober 2010 wegen gefährlicher Körperverletzung zu neun Monaten Jugendstrafe verurteilt wurde. Obwohl die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung zunächst zurückgestellt und dem Kläger damit die Möglichkeit eingeräumt wurde, durch ein positives und einsichtiges Verhalten die Strafaussetzung zu erreichen, konnte diese letztlich nicht erfolgen, da eine positive Sozialprognose nach dem Verhalten des Klägers im Anschluss an das Urteil gerade nicht festgestellt werden konnte. Nur knapp vier Monate nach der Verurteilung vom … Oktober 2010 hat der Kläger ab Februar 2011 begonnen, mehrfach massiv gegenüber seiner damaligen Freundin straffällig zu werden. So hat er diese im Februar 2011 bis zur Atemnot gewürgt, im März 2011 mit einem Taschenmesser am Hals und durch Drohungen und Beleidigungen dazu veranlasst, ihm Geld von ihrem Bankkonto abzuheben, sie im April 2011 mehrfach ins Gesicht geschlagen, an den Haaren gezogen und sie 10 bis 15 Minuten auf dem Boden fixiert. Am … Mai 2011 würgte er sie erneut, schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht und versetze ihr mehrere Faustschläge gegen Schulter, Brust und Rückenbereich. Wegen all dieser Taten wurde er am … Januar 2012 wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen in Tatmehrheit mit schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit zwei Fällen der vorsätzlichen Körperverletzung, in einem Fall in Tateinheit mit Freiheitsberaubung zu einer Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren unter Einbeziehung des Urteils vom … Oktober 2010 verurteilt. Dennoch hat der Kläger während offener Restrafenbewährung im Juli 2014 einer Geschädigten mit der Faust ins Gesicht und auf den Arm geschlagen und ihr im August 2014 wiederum mit der Faust ins Gesicht und eine Stunde lang immer wieder wahllos auf sie eingeschlagen, sie beleidigt, gewürgt und mit dem Tod bedroht. Hierfür wurde er am … März 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt. Statt nunmehr Einsicht in sein rechtswidriges Handeln zu zeigen und die Strafe anzunehmen, hat er sich dem Strafantritt durch Untertauchen entzogen, in dieser Zeit täglich Alkohol und Drogen konsumiert und trotz der drohenden Inhaftierung nur gut fünf bzw. sechs Monate nach dieser Verurteilung die Anlasstaten für die Ausweisung begangen. Daneben ist der Kläger wegen einer ganzen Bandbreite weiterer Delikte, darunter mehrfach Betäubungsmittel- und Verkehrsdelikte, strafrechtlich in Erscheinung getreten. Das Verhalten des Klägers zeigt, dass er nicht gewillt ist, sich an die Rechtsordnung in Deutschland zu halten. Er hat sich von keiner der zahlreichen Verurteilungen beeindrucken und davon abhalten lassen, erneut Körperverletzungs- und Gewaltdelikte zu begehen bzw. in anderer Weise strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Selbst die Verbüßung zweier Jugendarreste und einer Jugendstrafe hat den Kläger nicht von seinem delinquenten Verhalten abbringen können. Die Chance, sich im Anschluss an die Verurteilung zu einer neunmonatigen Jugendstrafe zu bewähren und damit die Strafaussetzung zu erreichen, hat er nicht genutzt. Zudem ist der Kläger ein Bewährungsversager, nachdem er die Straftaten im Juli und August 2014 in offener Reststrafenbewährung begangen hat. Die Wiederholungsgefahr ist auch nicht deswegen entfallen, weil der Kläger sich zum ersten Mal im Erwachsenenstrafvollzug befindet und er dort am … Juni 2017 selbst Opfer eines körperlichen Übergriffs wurde. So wird der Kläger im Führungsbericht der JVA … als impulsiv und sein Verhalten als nicht immer kontrolliert beschrieben. Nicht einmal im geschützten Umfeld des Strafvollzugs war der Kläger in der Lage, sich beanstandungsfrei zu führen. So hat er lt. Führungsbericht der JVA … vom 23. Oktober 2018 am … Mai 2017 die Weisungen der Beamten nicht befolgt und das geordnete Zusammenleben gestört. Am … August 2018, also bereits nach der Gewalterfahrung in der JVA und in Kenntnis der Ausweisung, ist er wegen ungebührlichen Verhaltens beim Antigewalttraining disziplinarisch geahndet worden und musste den Kurs verlassen. Darüber hinaus ist die Aggressionsproblematik des Klägers derzeit nicht ausreichend therapeutisch bearbeitet, geschweige denn, dass sich der Kläger bereits in Freiheit bewährt hätte. Aus der Stellungnahme des Psychologischen Dienstes der JVA … vom 19. Oktober 2018 ergibt sich, dass aus den in Haft begonnenen Maßnahmen nicht sicher prognostiziert werden kann, dass der Kläger nach Haftentlassung dauerhaft ein straffreies Leben führen werde. Auch sei ein grundlegender Persönlichkeitswandel unter Haftbedingungen nicht sicher feststellbar. Zwar lasse sich sagen, dass die Teilnahme an derartigen Maßnahmen unter der Voraussetzung eines festen Willens zur Legalität die Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten reduziere. An diesem festen Willen zur Legalität hegt das Gericht aufgrund des bisherigen Verhaltens des Klägers sowohl in Freiheit als auch im Strafvollzug jedoch erhebliche Zweifel. Zwar attestiert der Psychologische Dienst dem Kläger dennoch eine authentische Veränderungsabsicht, führt jedoch auch aus, dass eine weitere therapeutische Anbindung zum aktuellen Zeitpunkt erforderlich erscheint, um den Kläger weiterhin zu stabilisieren, ihn in seinen Ressourcen und Veränderungen zu stärken und einen konstruktiven Umgang mit seinen Schwächen zu erlernen. Von einer bereits abgeschlossenen therapeutischen Aufarbeitung des Aggressions- und Gewaltpotentials des Klägers kann somit keine Rede sein. Für Vollzugslockerungen oder Urlaub ist der Kläger lt. Führungsbericht der JVA … nicht geeignet. Hinzu kommt, dass die Gewaltexzesse des Klägers häufig auch mit alkohol- und drogenbedingter Enthemmung einhergegangen sind. Das Amtsgericht … hat im Urteil vom … April 2017 festgestellt, dass sämtliche dort abgeurteilten Taten aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers begangen wurden. In Fällen, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.). Eine derartige abgeschlossene Therapie liegt beim Kläger nicht vor. Auch hat er sich noch nicht in Freiheit bewährt. Die Aufarbeitung der Alkohol- und Drogenproblematik erschöpft sich nach dem letzten Führungsbericht der JVA … bislang in einer Beteiligung an vier Gruppensitzungen der Drogengruppe und der Absicht, nach der Haft eine Therapie bei C… zu absolvieren. Somit besteht die erhebliche Gefahr, dass der Kläger bei erneutem Kontakt mit Alkohol und Drogen in Freiheit schon allein aufgrund der damit verbundenen Enthemmung sein Aggressionspotential nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass es einen einmaligen Anlass für die vom Kläger begangenen Straftaten gab, der nunmehr weggefallen ist. Zwar hat sich eine Reihe von Körperverletzungen gegen seine damalige Freundin gerichtet. Abgesehen davon, dass der Kläger auch gegenüber zahlreichen anderweitigen Dritten Körperverletzungsdelikte begangen hat, kann jedoch auch insoweit nicht von Beziehungstaten ausgegangen werden, die auf einer einmaligen, so nicht wiederholbaren Situation beruhen. Dies ergibt sich bereits aus der Anzahl der gewalttätigen Übergriffe sowie der Geringfügigkeit der jeweiligen Anlässe, die gerade nicht einer emotionalen und einmaligen Ausnahmesituation entsprungen waren.
b) Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergebnisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu der Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
Im Fall des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist. Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts … vom … April 2017 wegen Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit Nötigung in Tatmehrheit mit Körperverletzung in drei Fällen in Tatmehrheit mit fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Erfolgt die Verurteilung in Tateinheit (§ 52 StGB) oder Tatmehrheit (§ 53 StGB) aufgrund von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasster Taten und anderweitiger Taten, so muss die einbezogene von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasste Straftat an der Gesamtstrafe einen Anteil von mindestens einem Jahr haben. Aus den Urteilsgründen, insbesondere den Strafzumessungserwägungen, müssen die Einsatzstrafen erkennbar sein. Nur auf diese Weise kann zweifelsfrei darauf geschlossen werden, dass die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfassten Taten das Mindeststrafmaß von einem Jahr erfüllen (Bauer/Dollinger in Bergmann/Dienelt/Bauer/Dollinger, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 54 AufenthG Rn. 10 i.V.m. Rn. 9). Für die vom Kläger mit Gewalt begangenen drei Körperverletzungsdelikte wurden im Strafurteil vom … April 2017 Einzelstrafen von sechs, vier und fünf Monaten für tat- und schuldangemessen erachtet, so dass diese mit insgesamt 15 Monaten das Mindestmaß von einem Jahr erfüllen.
Darüber hinaus liegt auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist. Bereits mit Urteil des Amtsgerichts … vom … Februar 2012 wurde der Kläger wegen vorsätzlicher Straftaten zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG gegenüber, da der Kläger in Deutschland geboren ist, eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat.
Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse. Die Ausweisung ist angesichts der Gesamtumstände und unter Berücksichtigung der Anforderungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig, sondern vielmehr unerlässlich, um ein Grundinteresse der Gesellschaft zu wahren.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
Die Ausweisung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzen (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8/96 – juris Rn. 30). Obwohl der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hier den qualifizierenden Mittelschulabschluss erreicht hat, er seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat und die Mehrzahl seiner Verwandten hier leben, erscheint eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland nicht unzumutbar. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration des Klägers im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass er über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Der Kläger hat keine Berufsausbildung abgeschlossen und war vor seiner Inhaftierung über ein Jahr untergetaucht. Er ist in Deutschland nicht beruflich integriert, sondern war nur zeitweise mit Hilfstätigkeiten erwerbstätig. Er hat bislang seinen Lebensunterhalt nie über einen längeren Zeitraum durch eine Beschäftigung selbst verdient. Das angebliche Arbeitsangebot für die Zeit nach der Haft hat der Kläger nicht belegt. Die Teilnahme an einem Fernlehrgang „…“ ist zwar positiv, führt jedoch derzeit nicht zu einer wirtschaftlichen oder beruflichen Integration des Klägers. Der Kläger spricht nach eigenen Angaben Türkisch, so dass dem Aufbau einer Existenz in der Türkei daher auch keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Etwaige Defizite kann der Kläger als junger Mann mit zumutbarer Anstrengung ohne weiteres ausgleichen. Zudem hat der Kläger bereits sein Heimatland besucht. Er kann die ggf. vorhandenen kulturellen Hürden mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Darüber hinaus leben mit seinen Großeltern mütterlicherseits und einer Tante und deren Ehemann Verwandte des Klägers in der Türkei. Sollte zu diesen tatsächlich derzeit kein Kontakt bestehen, ist es dem Kläger, ggf. mit Hilfe seiner Mutter, zumutbar, diesen Kontakt herzustellen, um eine erste Anlaufstelle in der Türkei zu haben. Abgesehen davon ist der Kläger als erwachsener junger Mann von 26 Jahren in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Daher wird sich der Kläger in seinem Heimatland, insbesondere – angesichts seiner guten deutschen Sprachkenntnisse – in den Tourismusgebieten, eine neue Existenz aufbauen können. Weiter ist vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK und des Art. 6 GG zu berücksichtigen, dass große Teile der Familie des Klägers in Deutschland leben und er – mittlerweile auch zu seiner Mutter – guten Kontakt zu diesen pflegt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Kernfamilie des Klägers. Der Kläger ist volljährig und somit nicht mehr auf die Unterstützung seiner Mutter oder anderer Verwandter angewiesen, auch wenn er in manchen Aspekten noch unreif sein mag. Den Kontakt zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten kann der Kläger auch von der Türkei aus über Telekommunikationsmittel und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG). Dem Umstand, dass die Straffälligkeit möglicherweise ihre Ursache in der schwierigen Kindheit des Klägers hat, kann kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden, da es sich bei der Ausweisung um eine sicherheitsrechtliche Maßnahme handelt, die allein der Prävention künftiger Straftaten und Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dient.
Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Anzahl und Schwere der vom Kläger begangenen Taten und der von ihm ausgehenden erheblichen Gefahr weiterer Straftaten gegen höchste Rechtsgüter wie insbesondere die körperliche Unversehrtheit, fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
2. Nr. 2 des Bescheides stellt lediglich einen Hinweis auf die Rechtslage ohne regelnden Charakter dar.
3. Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3 und Nr. 4 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, ergeben sich aus §§ 58 Abs. 1 und 59 Abs. 1 AufenthG und sind ebenfalls nicht zu beanstanden.
Die Benennung der Türkei als Zielstaat ist nicht zu beanstanden, insbesondere war die Türkei in der Abschiebungsandrohung nicht gem. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG als Staat zu bezeichnen, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf. Der Beklagte hat zwar grundsätzlich vor Erlass der Abschiebungsandrohung unter Beteiligung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt; § 72 Abs. 2 AufenthG) zu prüfen, ob zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG vorliegen. Nach Stellung eines Asylantrags obliegt jedoch gem. § 24 Abs. 2 AsylG auch die Entscheidung, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, allein dem Bundesamt.
Der Kläger hat vorliegend geltend gemacht, aufgrund seiner mitteleuropäischen Lebensführung und seiner Identifikation mit der deutschen Leitkultur Anfeindungen, im schlimmsten Fall politischer Verfolgung in der Türkei ausgesetzt zu sein. Er macht damit eine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG geltend.
Zwar hat der Kläger keinen förmlichen Asylantrag gem. § 14 AsylG gestellt. Eine Pflicht zur Stellung eines förmlichen Asylantrags besteht auch nicht. Maßgeblich ist hier jedoch der weite Antragsbegriff des § 13 Abs. 1 AsylG (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AufenthG, Stand: März 2016, § 60a AufenthG Rn. 127). Ein Ausländer, der behauptet, ihm drohten aus politischen Gründen Menschenrechtsverletzungen, aber trotz dieses formlosen Nachsuchens um Asyl (§ 13 Abs. 1 AsylG) keinen förmlichen Asylantrag gem. § 14 AsylG stellt, begibt sich damit gleichwohl in die Prüfungszuständigkeit des Bundesamts und kann nicht geltend machen, er begehre lediglich isoliert einen in die Zuständigkeit der Ausländerbehörde fallenden Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 bzw. 7 AufenthG (Treiber in Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Stand: Oktober 2016, § 13 AsylG Rn. 56). Stellt er keinen förmlichen Asylantrag, bleiben die Verfolgungsgründe ungeprüft, und zwar auch insoweit, als zugleich möglicherweise Abschiebungsverbote i.S.d. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG erfüllt sein könnten (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AufenthG, a.a.O. § 60a AufenthG Rn. 248). Aus der eindeutigen Kompetenzzuordnung an das Bundesamt für die Prüfung auch nur potentiell asylrelevanter Verfolgungsgründe und in diesem Zusammenhang auch von Abschiebungsverboten sowie der Bindungswirkung des § 6 AsylG folgt eindeutig, dass für die Entscheidung, ob Ausländern Abschiebungsschutz wegen asyl- bzw. flüchtlingsrelevanter Maßnahmen bei Rückkehr zu gewähren ist, allein das Bundesamt sachlich zuständig ist, auch wenn diese Maßnahmen zugleich die Qualität eines Eingriffs i.S.d. § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG haben. Der Ausländer hat es nicht in der Hand, bei Vortrag eines Lebenssachverhalts, der politische Verfolgung oder eine Maßnahme i.S.d. § 4 AsylG darstellen kann, durch das Unterlassen bzw. die Weigerung, einen förmlichen Asylantrag zu stellen, über die Zuständigkeit des Bundesamts zu disponieren (Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GK-AsylG, Stand: Oktober 2016, § 6 AsylG Rn. 14.1). Es besteht insofern kein „Wahlrecht“ des Ausländers zwischen asylrechtlichem oder ausländerrechtlichem Schutz vor Verfolgung im Heimatland. § 13 Abs. 1 AsylG ist vielmehr zur Konzentration und Beschleunigung des Verfahrens sowie auch zum Ausschluss von Verfahrensverzögerungen durch nachgeschaltete Asylanträge geschaffen worden. Danach ist derjenige Schutzsuchende, der sich materiell auf Asylgründe beruft, zwingend auf das – alle Schutzersuchen und Schutzformen erfassende (vgl. BVerwG, U.v. 18.1.1994 – 9 C 48.92 – juris) – Asylverfahren zu verweisen und hiermit ausschließlich das besonders sachkundige Bundesamt zu befassen. Die ausschließliche Zuständigkeit des Bundesamtes kann sich mithin nicht nur aus der Stellung eines formellen Antrages ergeben, sondern auch aus der Geltendmachung eines materiellen Asylbegehrens. Maßgeblich für die Abgrenzung der Zuständigkeiten bei der Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote ist somit, ob der Ausländer – wie hier – die Feststellung aufgrund behaupteter Verfolgungsgefahren (Zuständigkeit des Bundesamtes) oder aus verfolgungsunabhängigen, rein humanitären Gründen (Zuständigkeit der Ausländerbehörde) begehrt (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 29.3.2011 – 8 LB 121/08 – juris; BVerwG, U.v. 9.6.2009 – 1 C 11.08 – juris; BVerwG, B.v. 3.3.2006 – 1 B 126.05 – juris; OVG Saarland, B.v. 20.3.2008 – 2 A 33/08 – juris).
Die vom Kläger vorgebrachten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote waren daher durch die Beklagte nicht zu prüfen. Es obliegt dem Kläger, diese ggf. in einem Asylverfahren geltend zu machen.
4. Die Verpflichtungsklage auf Verkürzung der Befristung der gesetzlichen Wirkungen der Ausweisung nach § 11 AufenthG ist unbegründet (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Befristung der Wirkungen der Ausweisung in Nr. 5 des angegriffenen Bescheids in der durch den Beklagten in der mündlichen Verhandlung geänderten Fassung auf sechs Jahre weist keine Rechtsfehler auf.
Die Ausweisung des Klägers hat gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Dieses ist von Amts wegen zu befristen, § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf sechs Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Rahmen. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde und außerdem von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht (s.o). Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der hohen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers an das Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers eine Frist von sechs Jahren unter o.g. Bedingungen nicht zu beanstanden. Ggf. bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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