Verwaltungsrecht

Staatliche Zurechnung von Handlungen Dritter gegenüber Homosexuellen

Aktenzeichen  Au 4 K 20.30055

Datum:
23.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 3192
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3c, § 3d, 3 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7, § 60a Abs. 2c

 

Leitsatz

Unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage trotz gesellschaftlicher Stigmatisierungen, Benachteiligungen und Diskriminierungen von LGBTI-Personen ist nicht davon auszugehen, dass Handlungen von Privatpersonen gegenüber Homosexuellen dem sierra-leonischen Staat i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG zuzurechnen sind. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.  
II.    Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 

Gründe

Über die Klage konnte entschieden werden, obwohl die Beklagte zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist. Bei der Ladung wurde darauf hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, vgl. § 102 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Gewährung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG. Auch die Befristungsentscheidung ist nicht zu beanstanden. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
1. Zur Überzeugung des Gerichts ist das Vorbringen des Klägers vor dem Bundesamt sowie die allgemeine, insbesondere die politische, wirtschaftliche und humanitäre Lage in Sierra Leone und auch die Situation des Klägers bei einer Rückkehr in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend dargestellt und gewürdigt worden. Das Gericht folgt daher, auch unter Berücksichtigung des Klägervorbringens im gerichtlichen Verfahren, in vollem Umfang der Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und nimmt hierauf Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG). Insbesondere ist unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage trotz gesellschaftlicher Stigmatisierungen, Benachteiligungen und Diskriminierungen von LGBTI-Personen nicht davon auszugehen, dass Handlungen von Privatpersonen gegenüber Homosexuellen dem sierra-leonischen Staat i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG zuzurechnen sind (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.7.2019 – RN 14 K 18.30289 – juris Rn. 33 m.w.N.). Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs geht das Gericht ferner davon aus, dass nicht angenommen werden kann, dass der Staat gegen kriminelle Handlungen privater Dritter, die sich gegen Homosexuelle richteten, nicht schutzfähig oder schutzwillig i.S.d. § 3d AsylG wäre (stRspr: BayVGH, B.v. 23.11.2017 – 9 ZB 17.30302 – juris Rn. 4; B.v. 27.3.2018 – 9 ZB 18.30439 – juris Rn. 6; B.v. 15.7.2019 – 9 ZB 19.32519 – juris Rn. 4; siehe auch: VG München, U.v. 9.11.2018 – M 30 K 17.43175 – juris Rn. 27 ff.). Um den Übergriffen seines Onkels zu entgehen, ist der Kläger zudem auf inländische Fluchtalternativen zu verweisen (§ 3e AsylG). So hielt sich der Kläger vor seiner Ausreise ein bis zwei Monate in Waterloo bei seiner Tante auf und war dort jedenfalls vor seinem Onkel sicher. Anhaltspunkte für die Gewährung subsidiären Schutzes liegen vor diesem Hintergrund ebenfalls nicht vor.
2. Entsprechendes gilt für die zuletzt erstmals geltend gemachten Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Die mit Schriftsatz vom 11. Februar 2021 vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen vermögen schon keine Gesundheitsgefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zu belegen. Im Übrigen genügen sie nicht den Anforderungen nach § 60a Abs. 2c AufenthG bzw. sind – soweit es die Unterlagen von August und September 2020 betrifft – entgegen § 60 Abs. 2d AufenthG nicht unverzüglich vorgelegt worden. Das von der Klagepartei in Bezug genommen Länderinformationsblatt des IOM zu Sierra Leone, Stand Juni 2014, gibt nicht die aktuelle Auskunftslage (vgl. Auskunft Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an VG Regensburg v. 14.8.2020; an BAMF v. 23.2.2015; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich v. 4.7.2018) wieder, wonach der Zugang zur staatlichen Gesundheitsversorgung weitgehend kostenfrei ist. Die erforderlichen Medikamente sind in Sierra Leone überwiegend verfügbar (vgl. Auskunft Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an VG Regensburg v. 14.8.2020). Dessen ungeachtet kann der Kläger auf familiäre Unterstützung zurückgreifen, da er neben seinem Onkel, welcher Teil seiner Fluchtgeschichte sei, noch weitere Verwandte und Bekannte in seiner Heimat hat (s.o.).
Aber auch die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Bestätigung der psychotherapeutischen Behandlung vom 15. Februar 2021 und die „Stellungnahme zum Behandlungsbedarf sowie eventueller Folgen fehlender oder unzureichender Behandlungsmöglichkeiten“ vom 16. Februar 2021 rechtfertigen kein anderes Ergebnis. Ausweislich dieser Stellungnahmen, die u.a. Bezug nehmen auf die am 11. Februar 2021 vorgelegten ärztlichen Unterlagen, wird beim Kläger eine Posttraumatische Belastungsstörung und eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert. Allerdings beruhe die Belastungsstörung auch auf nicht zielstaatsbezogenen Erlebnissen wie bspw. Ereignisse während der Flucht und „stehe im Zusammenhand mit der drohenden Abschiebung“. Soweit demzufolge auf Ereignisse während der Flucht bzw. auf die Abschiebung abstellt wird, sind diese in Bezug auf den hier maßgeblichen Zielstaat ohnehin nicht beachtlich. Entsprechendes gilt hinsichtlich der durch das Asylverfahren ausgelösten Belastungen wegen der geplanten Unterbringung außerhalb einer Jugendhilfeeinrichtung (s. bspw. Bericht BKH Schwaben v. 27.8.2020). Unabhängig davon genügen die vorgelegten Unterlagen auch deswegen nicht den Darlegungsanforderungen, weil die erforderlichen Kriterien einer Diagnose nach ICD-10 nicht erfüllt werden. Denn wird das Vorliegen einer psychischen Störung auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8.07 und 10 C 17.07 – juris). Eine Begründung dafür, warum die Erkrankung nicht früher ggf. schon während des Aufenthalts in Italien geltend gemacht worden ist, erfolgte nicht. Vielmehr bestätigte der Kläger noch auf ausdrückliche Nachfrage bei seiner Anhörung beim Bundesamt am 16. September 2019, außer Kopfschmerzen keine gesundheitlichen Einschränkungen zu haben (Bl. 153 f. der BA-Akte). In diesem Zusammenhang erschließt sich dem Gericht nicht, weswegen der Kläger (nunmehr) neben der rein medikamentösen Behandlung zwingend auch auf eine psychotherapeutische bzw. traumafokussierte Behandlung angewiesen sein soll, nachdem noch ausweislich der mit Schriftsatz vom 11. Februar 2021 vorgelegten Unterlagen ärztlicherseits eine rein medikamentöse Behandlung ausreichte; die aktuellen psychotherapeutischen Unterlagen verhalten sich hierzu jedenfalls nicht. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der in der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar ist (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Schließlich unterstellt die eingereichte psychologische Stellungnahme vom 16. Februar 2021 eine „Retraumatisierung durch eine drohende Verfolgung“ in der Heimat (S. 3 oben), ohne die Möglichkeiten internen Schutzes nach § 3d und § 3e AsylG (s.o.) zu beleuchten, was ohnehin nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung ist (vgl. BayVGH, B.v. 20.1.2020 – 9 ZB 20.30060 – juris Rn. 5 f.; B.v. 30.10.2018 – 9 ZB 18.32680 – juris Rn. 23 jew. m.w.N.). Die Vermutung nach § 60a Abs. 2c AufenthG, dass gesundheitliche Gründe einer Abschiebung nicht entgegenstehen, ist somit nicht widerlegt.
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist vorliegend ebenfalls nicht erkennbar. Eine Abschiebung würde den Kläger nicht in eine aussichtslose Lage schicken, dass er nicht im Stande wäre, sich zumindest sein Existenzminimum zu sichern.
Dabei verkennt das Gericht die schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Sierra Leone nicht. Insofern wird auf die umfangreichen Ausführungen des Bundesamtes zu den Verhältnissen in Sierra Leone gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen.
Trotz der schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Lage ist nicht erkennbar, dass dem voll erwerbsfähigen und weitgehend gesunden Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Umstände, insbesondere seiner Schulbildung, seiner Erwerbsbiographie und aufgrund seines (familiären) Netzwerkes nicht möglich wäre, in Sierra Leone sein Existenzminimum zu sichern. Die Ausführungen des Bundesamtes im streitgegenständlichen Bescheid sind insoweit zutreffend und nicht zu beanstanden.
3. Nachdem auch die Befristungsentscheidung keinen rechtlichen Bedenken begegnet, war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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