Verwaltungsrecht

Straffreiheit bei “Bewährungsduldung”

Aktenzeichen  10 ZB 19.1552

Datum:
2.4.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 9490
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 11 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 1 , § 60a
EMRK Art. 8
BGB § 133, § 157

 

Leitsatz

Bei einer „Bewährungsduldung“ ist für die vereinbarte Voraussetzung der Straffreiheit ausschlaggebend, dass nicht weitere Ausweisungsgründe entstehen.  (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 25 K 17.4912 2019-06-05 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage weiterverfolgt, die Beklagte zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten, ist zulässig, aber unbegründet.
Die vom Kläger geltend gemachten Zulassungsgründe greifen nicht durch. Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) noch wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) oder Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat den vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – unabhängig vom Aufenthaltszweck – verneint, weil sowohl die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 AufenthG als auch ein Versagungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegenstünden. Der Kläger sei mit Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2011, der nach Rücknahme der Klage in der mündlichen Verhandlung am 30. November 2011 bestandskräftig geworden sei, ausgewiesen worden. Da er bisher nicht ausgereist sei, sei auch die im Nr. 3. des Bescheids vom 18. Juli 2011 bestimmte Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots (von drei Jahren) noch nicht abgelaufen. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 30. November 2011 vereinbarten Bewährungsduldung. Denn deren Voraussetzungen seien jedenfalls in den Nrn. 1. und 4. nicht erfüllt. Der in Nr. 1. vorausgesetzte „Nachweis der Straffreiheit“ sei nicht erbracht. Die Beklagte habe danach die Bewährungsduldung nur unter der Voraussetzung gewährt, alle strafrechtlich relevanten Vorgänge, also auch etwaige offene Strafverfahren oder bislang von den Strafverfolgungsbehörden noch nicht aufgegriffene Taten, zu kennen. Der Kläger habe jedoch nicht offengelegt, dass er im Zeitraum 30. September 2009 bis 31. März 2011 insgesamt 122 falsche Rechnungen ausgestellt und auf diese Weise zu Unrecht insgesamt zwischen 30.000 und 35.000 Euro erlangt habe. Die diesbezüglichen strafrechtlichen Ermittlungen seien noch während der (in der Duldungsvereinbarung bestimmten) Bewährungszeit (von fünf Jahren) am 12. Mai 2014 eingeleitet worden. Dass das Strafurteil des Landgerichts Augsburg vom 14. Juni 2017, mit dem der Kläger wegen Urkundenfälschung in 18 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und elf Monaten verurteilt worden ist, erst nach Ablauf der Bewährungszeit ergangen sei, spiele demnach keine entscheidende Rolle. Ebenso wenig erfülle der Kläger die in Nr. 4. festgelegte Voraussetzung der „Schuldenfreiheit gegenüber der öffentlichen Hand“, da er nach den Feststellungen des Strafurteils des Landgerichts Augsburg vom 14. Juni 2017 Steuerschulden in Höhe von 200.000 Euro habe. Weiter stehe der Erteilung eines Aufenthaltstitels der Versagungsgrund gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG entgegen. Durch die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einen (richtig: elf) Monat(en) liege beim Kläger ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG vor. Da er Wiederholungstäter sei, bestehe auch die Gefahr, erneut straffällig zu werden und sich weitere Geldquellen mit strafrechtlicher Relevanz zu erschließen. Gegen seine Ehefrau und ihn sei derzeit ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusfinanzierung und Geldwäsche anhängig. Ein atypischer Ausnahmefall, der ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung gebieten würde, liege nicht vor. Der familiären Situation des Klägers (Ehefrau und vier minderjährige Kinder) sei mit seiner Duldung nach § 60a AufenthG auch mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK hinreichend Rechnung getragen.
Dagegen wendet der Kläger ein, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts lägen die Voraussetzungen Nr. 1. und 4. des in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 30. November 2011 abgeschlossenen Vergleichs vor. Die vom Landgericht Augsburg mit Urteil vom 14. Juni 2017 abgeurteilten Straftaten resultierten aus dem Zeitraum 30. September 2009 bis 31. März 2011, seien zum Zeitpunkt der Vereinbarung vor dem Verwaltungsgericht noch nicht entdeckt und der Kläger im Übrigen auch nicht zu deren Offenlegung verpflichtet gewesen; der Kläger müsse sich nicht selbst belasten. Nach Abschluss der Vereinbarung in der mündlichen Verhandlung habe der Kläger keine Straftaten mehr begangen und demgemäß auch die Voraussetzung Nr. 1. erfüllt. Er bestreite, dass er die Voraussetzungen Nr. 4. nicht erfülle. Zwar bestünden nach den Feststellungen des Strafurteils vom 14. Juni 2017 Steuerschulden in Höhe von 200.000 Euro, hierüber sei ihm aber nichts bekannt. Der Fiskus sei bisher nicht an ihn herangetreten und irgendwelche aussagekräftigen Unterlagen diesbezüglich lägen nicht vor.
Damit hat der Kläger jedoch die die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragende Annahme, der begehrten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis stehe infolge der bestandskräftig gewordenen Ausweisungsverfügung der Beklagten vom 18. Juli 2011 die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG entgegen, nicht mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt. Zum einen hat der Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 30. November 2011 lediglich erklärt: „Die Beklagte ist bereit, gegen Klagerücknahme und unter folgenden weiteren Voraussetzungen dem Kläger für die Dauer von fünf Jahren wiederholt (auf jeweils ein Jahr) Bewährungsduldungen, die ihm zugleich die Erwerbstätigkeit gestatten, zu erteilen: … (Es folgen die Voraussetzungen Nr. 1. bis 4., deren Vorliegen der Kläger jeweils vor Verlängerung der Duldung erbracht haben muss). Eine (weitergehende) Regelung bzw. Zusicherung bezüglich der Ausweisungsverfügung und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist dagegen ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 30. November 2011 nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut dieser Erklärung nicht erfolgt. Selbst wenn man die Prozesserklärung der Beklagten vom 30. November 2011 jedoch entsprechend §§ 133, 157 BGB auch dahingehend verstehen wollte, dass sie unter den in der Erklärung genannten vier Voraussetzungen nach Ablauf der Bewährungszeit von fünf Jahren auch nicht mehr an ihrer Ausweisungsverfügung festhalten bzw. diese dem Kläger nicht mehr entgegenhalten werde, ergäbe sich nicht der vom Kläger behauptete Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Denn das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Kläger weder die Voraussetzung der Nr. 1. „Nachweis der Straffreiheit (Vorsatzstraftaten)“ noch der Nr. 4. „Nachweis der Schuldfreiheit gegenüber der öffentlichen Hand“ erfüllt.
Den Nachweis der Straffreiheit hat der Kläger nicht erbracht, weil er mit Urteil des Landgerichts A. vom 14. Juni 2017 (rechtskräftig seit 22.6.2017) wegen Urkundenfälschung in 18 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr elf Monaten (ausgesetzt zur Bewährung mit einer Bewährungszeit von vier Jahren) verurteilt worden ist. Unabhängig von der Frage, ob der Kläger im Zeitpunkt der Vereinbarung in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 30. November 2011 bereits auf diese damals noch nicht angeklagten Straftaten (Urkundenfälschungen) wegen ihrer möglichen Relevanz für eine Bewährungsduldung hätte hinweisen müssen, ist bezüglich des nach der Vereinbarung erforderlichen Nachweises der „Straffreiheit“ entscheidend, dass der Kläger nach diesem Zeitpunkt erneut wegen Vorsatzstraftaten verurteilt worden ist. Nach zutreffender Auffassung des Verwaltungsgerichts ist insoweit unerheblich, dass diese Vorsatzstraftaten vom Kläger im Zeitraum 30. September 2009 bis 31. März 2011 und damit noch vor der mündlichen Verhandlung am 30. November 2011 und den entsprechenden Prozesserklärungen der Parteien verübt worden sind. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass es bei einer (möglichen) „Bewährungsduldung“, bei der die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen für einen festgelegten Zeitraum den Vollzug der mit der Ausweisung bezweckten Aufenthaltsbeendigung aussetzt, um dem Betroffenen die Gelegenheit der Bewährung und damit einer Grundlage für einen weiteren (legalen) Aufenthalt zu ermöglichen, für die Voraussetzung der „Straffreiheit“ ausschlaggebend ist, dass nicht weitere Ausweisungsgründe bzw. -interessen (s. § 54 AufenthG) vorliegen oder entstehen. Dies ist beim Kläger durch die Verurteilung des Landgerichts A. vom 14. Juni 2017 aber der Fall.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der nach Nr. 4. dieser Vereinbarung zu erbringende „Nachweis der Schuldfreiheit gegenüber der öffentlichen Hand“ liege nicht vor. Der Einwand des Klägers, von den im Strafurteil vom 14. Juni 2017 angeführten Steuerschulden in Höhe von 200.000 Euro sei ihm „nichts bekannt“ und der Fiskus sei bis jetzt nicht an ihn „herangetreten“, weshalb er diese Schulden „bestreite“, verkennt seine in dieser Voraussetzung festgelegte Nachweispflicht.
Greift nach alledem im Fall des Klägers bereits die Titelerteilungssperre gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG, kommt es nicht mehr entscheidungserheblich darauf an, ob das durch die strafrechtliche Verurteilung vom 14. Juni 2017 indizierte Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) auch aktuell noch besteht und ob gegebenenfalls ein atypischer Fall vorliegt, der eine Ausnahme von dieser Regelerteilungsvoraussetzung (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) gebietet.
2. Die Berufung ist auch nicht wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72).
Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen, der Frage der Bindungswirkung einer Vereinbarung bezüglich Straffreiheit in der vorliegenden Fallkonstellation komme mangels obergerichtlicher Entscheidungen grundsätzliche Bedeutung zu, nicht. Schon die Formulierung der Frage zielt auf die einzelfallbezogene Auslegung einer Prozesserklärung ab. Ein weitergehender Klärungsbedarf wird nicht aufgezeigt.
3. Die Zulassungsbegründung genügt auch nicht den Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Diese erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 73 m.w.N.). Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 22.3.2019 – 10 ZB 18.2598 – juris Rn. 18; B.v. 18.4.2019 – 10 ZB 18.2660 – juris Rn. 9 m.w.N.). Daran fehlt es hier.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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