Verwaltungsrecht

Streitgegenstand und Zulässigkeit der Klage bei schulbezogenen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (hier: Dyskalkulietherapie), Voraussetzungen der Selbstbeschaffung

Aktenzeichen  AN 6 K 18.01194

Datum:
22.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 43750
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 36
SGB VIII § 36a

 

Leitsatz

Leistungen der Eingliederungshilfe im schulischen Bereich werden üblicherweise für ein Schuljahr bewilligt; entscheidet das zuständige Jugendamt abschlägig über einen solchen Antrag, so bezieht sich diese Ablehnung, ohne dass dies ausdrücklicher Klarstellung in dem ablehnenden Bescheid bedarf, auf ein Schuljahr, d. h. auf das nächste Schuljahr, beziehungsweise, wenn das Schuljahr begonnen hat, auf den Rest des noch laufenden Schuljahres. Bevor Hilfen auf Jahre hinaus selbst beschafft werden, muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe, um nicht bloße Zahlstelle auf Dauer zu werden, spätestens nach Ende des üblichen Bewilligungszeitraumes (hier eines Schuljahres) also über den aus Sicht der Klägerin fortbestehenden Bedarf erneut in Kenntnis gesetzt werden.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I. Die Klage war abzuweisen, da sie teilweise nicht zulässig, im Übrigen aber unbegründet ist.
1. Soweit die Klägerin Kosten für die selbst beschaffte Dyskalkulietherapie, die ab Beginn des Schuljahres 2018/2019 und später angefallen sind, geltend macht, ist die Klage schon nicht zulässig; hilfsweise ist sie jedenfalls unbegründet.
a) Die Klage ist diesbezüglich nicht zulässig, da sich die Klägerin nicht vorab an den Beklagten gewandt hat.
aa) Vor Erhebung einer Verpflichtungsklage hat die Klägerseite ein Verwaltungsverfahren zu durchlaufen und muss sich dementsprechend vorab mit ihrem Anliegen an die zuständige Behörde gewandt haben (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage 2018, § 42 VwGO Rn. 37).
bb) Der am 14. August 2017 (Eingang bei dem Beklagten) gestellte Antrag auf Bewilligung einer Dyskalkulietherapie genügt diesen Anforderungen nur bezüglich des Schuljahres 2017/2018 und im Übrigen, hinsichtlich aller nachfolgenden Schuljahre, die hier Klagegegenstand sind, nicht, denn er konnte sich nicht auf Zeiträume nach Ende des Schuljahres 2017/2018 beziehen. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid in der Fassung des entsprechenden Widerspruchsbescheides wurde lediglich über das Vorliegen der Voraussetzungen der Eingliederungshilfe im Schuljahr 2017/2018 entschieden, sodass mit dem Vorgehen gegen diesen Bescheid und der Klage auf Erstattung der Kosten der Selbstbeschaffung lediglich dieser Zeitraum zulässigerweise zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemacht werden konnte.
(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich auch die obergerichtliche Rechtsprechung angeschlossen hat, handelt es sich bei Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht um Dauerleistungen, d. h. um Leistungen, die einmal auf unbestimmte Zeit bewilligt werden, sondern um Leistungen, die nur für bestimmte Zeiträume oder Kontingente bewilligt werden. Ein Antrag auf die Bewilligung einer solchen Leistung, der abgelehnt wurde, kann daher nur in dem zeitlichen Umfang, in dem über ihn entschieden wurde, d. h. bezüglich des nächsten Bewilligungsabschnitts, Gegenstand einer Klage werden (vgl. BVerwG in ständiger Rechtsprechung, beispielsweise U.v. 26.11.1981 – 5 C 56/80 – BeckRS 1981, 5546; vgl. OVG Münster, B.v. 22.10.2012 – 12 E 1003/12 – juris).
(2) Leistungen der Eingliederungshilfe im schulischen Bereich werden üblicherweise für ein Schuljahr bewilligt; entscheidet das zuständige Jugendamt abschlägig über einen solchen Antrag, so bezieht sich diese Ablehnung, ohne dass dies ausdrücklicher Klarstellung in dem ablehnenden Bescheid bedarf, nach Auffassung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Köln auf ein Schuljahr (vgl. VG Köln, U.v. 23.9.2020 – 26 K 756/18 – BeckRS 2020, 30126). Da sich eine Entscheidung des Jugendamtes auch im Falle einer Ablehnung damit maximal auf das nächste Schuljahr, beziehungsweise, wenn das Schuljahr begonnen hat, auf den Rest des noch laufenden Schuljahres bezieht, kann auch vorab nicht mehr als eine Entscheidung über diesen Antrag in diesem zeitlichen Umfang beantragt werden.
(3) Das Gericht folgt dieser Auffassung. Hätte der Beklagte die Leistung bewilligt, so wäre dies nicht auf Dauer geschehen; da es sich um eine Leistung handelt, die sich auf den schulischen Bereich bezieht, ist bei lebensnahem Verständnis davon auszugehen, dass mit dem Antrag vom 14. August 2017 lediglich eine Bewilligung für das Schuljahr 2017/2018 zu erreichen war. Im Falle einer Bewilligung hätte dann auch ein weiterer Antrag auf Fortsetzung der Hilfe im Schuljahr 2018/2019 gestellt werden müssen beziehungsweise hätte der Beklagte gesondert davon in Kenntnis gesetzt werden müssen, dass der Bedarf aus Sicht der Klägerin fortbesteht. Wird der Antrag abgelehnt, kann spiegelbildlich nichts anderes gelten. Der Beklagte konnte schon keine Leistung auf Dauer bewilligen und so konnte er auch die Leistung nicht für alle Zukunft ablehnen. Nach Ende des Schuljahres hätte die Beklagte also erneut über den Bedarf in Kenntnis gesetzt werden und ein erneutes behördliches Prüfungsverfahren hätte in der Folge stattfinden müssen. Die Klägerin wandte sich jedoch nicht an den Beklagten, sondern beschaffte die begehrte Hilfe auch weiterhin selbst, ohne dass sie dem Beklagten die Gelegenheit gab, das Verfahren nach § 36 SGB VIII noch einmal durchzuführen.
b) Hilfsweise ist die Klage diesbezüglich jedenfalls unbegründet, da dem Beklagten der (aus Sicht der Klägerin fortbestehende) Bedarf nicht vor der Selbstbeschaffung ab dem Schuljahr 2018/2019 mitgeteilt wurde.
aa) § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII bestimmt, dass der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur dann zum Ersatz der Aufwendungen für selbst beschaffte Hilfen verpflichtet ist, wenn (unter anderem) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vorab über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat.
bb) Nach oben Dargestelltem hätte, da sich die ablehnende Entscheidung des Jugendamtes nur auf das Schuljahr 2017/2018 bezog und beziehen konnte, die Klägerin den Beklagten vor jedem neuen Schuljahr darüber in Kenntnis setzen müssen, dass der Bedarf aus ihrer Sicht fortbestehe. Nur auf diese Weise wäre es dem Beklagten möglich gewesen, jeweils zu überprüfen, ob ein Bedarf tatsächlich (fort-)besteht. Gerade dann, wenn, wie vorliegend, Hilfen selbst beschafft werden, ist durchaus zu erwarten, dass im Laufe eines Schuljahres Änderungen eintreten, die sich auf den Bedarf auswirken und eine andere Gestaltung, auch einen erhöhten Umfang der Leistung (oder auch deren Einstellung) rechtfertigen. Bevor Hilfen auf Jahre hinaus selbst beschafft werden, muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe, um nicht bloße Zahlstelle auf Dauer zu werden, spätestens nach Ende des üblichen Bewilligungszeitraumes (hier eines Schuljahres) also über das aus Sicht der Klägerin Fortbestehen des Bedarfs erneut in Kenntnis gesetzt werden. Anderenfalls drohen der Charakter der Jugendhilfeleistungen, keine Dauerleistung zu sein, und die Wertung des § 36a Abs. 3 SGB VIII, der zu verhindern bezweckt, dass das Jugendamt bloße Zahlstelle wird, unterlaufen zu werden.
cc) Zusammenfassend kann es nach den Wertungen des Kinder- und Jugendhilferechts und der Natur der begehrten Leistung nicht richtig sein, dass die Klägerin auf Grundlage eines einzigen Antrags und eines Hilfeplanverfahrens über Jahre hinaus Leistungen selbst beschafft. So wie auch im Falle einer Bewilligung das Fortbestehen der Voraussetzungen durch Stellung eines weiteren Antrags und einer weiteren Überprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 36 SGB VIII erwiesen werden muss, muss auch im Falle einer Ablehnung, wenn der Zeitraum, für den eine Bewilligung bestenfalls erwartet werden konnte, verstreicht, das Fortbesten des Bedarfs erneut mitgeteilt werden. Auf Grundlage eines Antrags, zu dessen Untermauerung ein Gutachten vorgelegt wird, in dem von 40 Therapiestunden gesprochen wird (einem Kontingent, das normalerweise innerhalb eines Schuljahres aufgebraucht ist), kann die Klägerin keine 92 Therapiestunden selbst beschaffen.
2. Soweit die Klägerin die Erstattung von Kosten für selbst beschaffte Hilfen im Schuljahr 2017/2018 begehrt, ist ihre Klage zulässig, aber unbegründet, da die Voraussetzungen der Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 SGB VIII nicht vorlagen und damit auch keine Selbstbeschaffung zulässig war, § 36a Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII.
aa) Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche dabei dann, wenn eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
bb) In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist das Vorgehen des Beklagten nicht zu beanstanden.
Die Vorgaben des § 36 SGB VIII wurden insgesamt eingehalten. Insbesondere kann dem Beklagten nicht durchgreifend zur Last gelegt werden, den die Klägerin begutachtenden Facharzt Dr. … bei der Klärung der Frage, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht, nicht mehr zurate gezogen zu haben. Ob eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit vorliegt, ist auf der Grundlage fachärztlicher Einschätzung zu beurteilen. Ob hingegen eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht, ist im Rahmen sozialpädagogischer Beurteilung zu bestimmen und ist nicht mehr Aufgabe eines Psychotherapeuten (vgl. Bohnert, in: Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, Beck-Online Großkommentar, Stand: 1.7.2021, § 35a SGB VIII Rn. 46), sodass es jedenfalls im vorliegenden Fall aufgrund der hier gegebenen Umstände – die für das Schuljahr 2017/2018 vorliegenden Dokumente zeigen deutlich, dass eine Teilhabebeeinträchtigung zumindest damals nicht drohte (dazu unten mehr) – nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte nicht noch einmal Rücksprache hielt und die Teilhabebeeinträchtigung verneinte.
cc) Im Schuljahr 2017/2018 war eine Beeinträchtigung der Teilhabe nicht vorhanden und sie drohte auch nach den damals eingeholten und dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen nicht.
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liegt vor, wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist, wenn also nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene aktiv, selbstbestimmt und altersgemäß soziale Funktionen und Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen wie Familie, Freundeskreis, Schule und Freizeit ausüben kann (vgl. OVG Weimar, U.v. 19.1.2017 – 3 KO 656/16 – BeckRS 2017, 128900, Rn. 36). Eine solche Beeinträchtigung droht, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Für die Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII genügt bereits das Drohen einer Teilhabebeeinträchtigung.
Eine Teilhabebeeinträchtigung drohte jedoch im Schuljahr 2017/2018 nicht. Aus den vorgelegten Zeugnissen, den Aussagen der Eltern und den Stellungnahmen der Schule geht insgesamt hervor, dass die Klägerin zwar nicht selten Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern hatte, dass aber diese Probleme jedenfalls damals nicht das Maß einer Teilhabebeeinträchtigung erreichten. Die Klägerin wurde eben auch als durchaus integrierte und geachtete Schülerin beschrieben, die zudem diversen Aktivitäten außerhalb der Schule nachging. Sie wurde als aufgeschlossenes Kind mit vielseitigen Interessen beschrieben; nach ihren eigenen Angaben soll sie viele Freunde gehabt haben. Seitens der Schule wurde erklärt, dass sie fröhlich und beliebt gewesen sei und offen auf andere zugehe. Trotz der bestehenden Probleme ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht das Bild einer der totalen Vereinzelung anheimfallenden Schülerin; auch völlige Schulverweigerung oder gravierende Schulängste waren jedenfalls damals nicht ersichtlich. Die zuletzt vorgelegte, psychotherapeutische Stellungnahme vom 9. Juli 2020 vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Eine Teilhabebeeinträchtigung im Bereich der Teilleistungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie wird jedoch in der Rechtsprechung nur unter diesen strengen Voraussetzungen angenommen (vgl. OVG Koblenz, B.v. 26.3.2007 – 7 E 10212/07 – NJW 2007, 1993 ff, 1994).
Ob sich dies später änderte, kann vorliegend offenbleiben, da die Klage diesbezüglich nicht zulässig beziehungsweise wegen unterbliebener Mitteilung des Hilfebedarfs nicht begründet ist (s. oben).
3. Nach alledem war die Klage abzuweisen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 161 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.


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