Verwaltungsrecht

Türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volks-, sunnitischer Religionszugehörigkeit, Im Asylfolgeverfahren, Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes sowie auf die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten, Im Asylerstverfahren behauptetes HDP-Engagement und sonstiges politisches Engagement (nicht exponiert), Im Asylerstverfahren behauptete Teilnahme an Versammlungen mit PKK-Bezug und deswegen eingestelltes Strafverfahren mit noch anhängigem Rechtsmittel der Oberstaatsanwaltschaft dagegen, Im Asylerstverfahren behauptete anlasslose Ingewahrsamnahme und Vortrag eines Anwerbeversuchs als Spitzel, Im Asylerstverfahren behauptete Wehrdienstverweigerung, Im Asylfolgeverfahren vorgelegte türkische Unterlagen zu einem Strafverfahren wegen Terrorpropaganda

Aktenzeichen  Au 6 K 21.31131

Datum:
23.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 5984
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 87b

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf die Gewährung subsidiären Schutzes oder auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 10. November 2021 ist daher rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungsgründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
a) Die politische Lage in der Türkei stellt sich derzeit wie folgt dar:
Die Türkei ist nach ihrer Verfassung eine konstitutionelle Präsidialrepublik und ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat und war besonders den Grundsätzen des Staatsgründers Mustafa Kemal („Atatürk“) verpflichtet. Der – im Jahr 2014 erstmals direkt vom Volk gewählte – Staatspräsident hatte eine eher repräsentative Funktion; die Regierungsgeschäfte führte der Ministerpräsident. Durch die Verfassungsänderungen des Jahres 2018 ist die Türkei in eine Präsidialrepublik umgewandelt worden, in welcher Staats- und Regierungschef personenidentisch sind: Staatspräsidenten Erdoğan (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 6 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – im Folgenden: BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 5 ff. m.w.N.; Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 10 ff.).
Im Parlament besteht von Verfassungs wegen ein Mehrparteiensystem, in welchem die seit dem Jahr 2002 regierende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) des früheren Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Erdoğan die zahlenstärkste Fraktion darstellt. Die heutige Parteienlandschaft in der Türkei ist geprägt von drei Faktoren, die sich gegenseitig verstärken: Erstens herrschen zwischen den Parteien relativ stabile Größenverhältnisse in der Relation 4 zu 2 zu 1. Die AKP ist stets unangefochten stärkste Kraft. Mit klarem Abstand folgt die CHP, die in der Regel halb so viele Stimmen bekommt wie die AKP, und darauf die MHP mit wiederum circa der Hälfte der Stimmen der CHP. Die pro-kurdische Partei der Demokratie der Völker (HDP) hat sich erst in den letzten Jahren dauerhaft etabliert. Zweitens sind die Wähler von drei der genannten Parteien relativ klar abgegrenzten Milieus zuzuordnen, die sich nicht nur nach ethno-kulturellen Zugehörigkeiten unterscheiden lassen, sondern auch nach divergierenden Lebensstilen sowie schichtenspezifischen sozialen und wirtschaftlichen Lagen. Die AKP stützt sich primär auf eine türkisch-national empfindende und ausgeprägt religiöse Wählerschaft mit konservativer Sittlichkeit und traditionellem Lebensstil, die eher den unteren Einkommens- und Bildungsschichten zuzurechnen ist. Die CHP dagegen vertritt die türkisch-säkularen Schichten höheren Bildungsgrades mit einem europäischen Lebensstil und durchschnittlich deutlich höheren Einkommen. Ob im Hinblick auf Schicht oder Bildung, Modernität oder Konservatismus: Die MHP steht zwischen den beiden größeren Parteien. Charakteristisch für sie ist ein stark ethnisch gefärbter türkischer Nationalismus, der sich in erster Linie als bedingungslose Identifikation mit dem Staat und als starke Ablehnung kurdischer Identität äußert. Die HDP gibt sich als linke Alternative, wird jedoch generell als die Partei der kurdischen Bewegung wahrgenommen. Mehr noch als bei den anderen Parteien ist die ethnisch-nationale Komponente für die Zugehörigkeit ihrer Anhängerschaft bestimmend. Drittens verfügen drei der genannten Parteien über geographische Stammregionen mit einem eigenen Milieu. So ist die AKP in allen Landesteilen stark vertreten, hat aber ihr Stammgebiet in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste. Die CHP hat an den Küsten der Ägäis und in zweiter Linie in Thrazien und am Mittelmeer großen Rückhalt; die HDP hingegen in den primär kurdisch besiedelten Regionen. Die klare Aufteilung folgt auch der wirtschaftlichen Entwicklung der Stammregionen, denn die CHP reüssiert in den ökonomisch am stärksten entwickelten Regionen, die keine oder nur wenig staatliche Förderung benötigen. Die AKP vertritt die immer noch eher provinziell geprägten Gebiete, die auf staatliche Infrastrukturleistungen und Investitionen angewiesen sind. Die HDP ist in den kurdischen besiedelten Gebieten zuhause, die als Schauplatz des türkisch-kurdischen Konflikts (dazu unten) besonders unterentwickelt sind. Wahlergebnisse in der Türkei bilden deshalb nicht primär Verteilungskonflikte ab, sondern Identitäten ihrer Wähler: In den europäischen Ländern, die türkische Arbeitsmigranten aufgenommen haben, stimmten weit über 60 Prozent für Erdoğan und seine AKP; dagegen votierten in den USA, wo sich die türkische Migration aus Akademikern und anderen Angehörigen der Mittelschicht zusammensetzt, weniger als 20 Prozent für die AKP (zum Ganzen Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 2 f., www.swp-berlin.org; detailliert zu den Parteien Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 22 ff.).
In der vorverlegten Präsidentschaftswahl vom 24. Juni 2018 hat Erdoğan die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können; auch die regierende AKP errang bei der Parlamentswahl mit 42,5% der Stimmen die relative Mehrheit und zusammen mit den 11,2% Stimmenanteil der mit ihr verbündeten ultranationalistischen MHP auch die Mehrheit der Parlamentssitze, während die linkskemalistische CHP 22,65% erreichte, die rechtsnationalistische IYI Parti 9,96% und die kurdische HDP trotz Inhaftierung ihres Vorsitzenden Demirtas seit 2016 11,70% (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 6 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6 f.; Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 17).
Durch die o.g. abgeschlossene Verfassungsänderung wurde Staatspräsident Erdoğan zugleich Regierungschef. Ohne parlamentarische Mitsprache ernennt und entlässt der Staatspräsident die Regierungsmitglieder, kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen und vier der 13 Mitglieder im Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) ernennen (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7, 22; Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 20). In den Kommunalwahlen vom 30. März 2019 verlor die AKP nach 20 Jahren die Stadt Ankara an die Opposition, ebenso die Großstädte Adana, Antalya und Mersin sowie in der Wiederholungswahl am 23. Juni 2019 auch das von ihr seit 25 Jahren regierte Istanbul, wo Staatspräsident Erdoğan einst als Bürgermeister seine politische Laufbahn begonnen hatte. Diese ist von nationaler Bedeutung, da ein Fünftel der türkischen Bevölkerung in Istanbul lebt und die Stadt ein Drittel des Bruttonationalproduktes erwirtschaftet. Zudem hatte Staatspräsident Erdoğan mehrmals erklärt, wer Istanbul regiere, regiere die Türkei (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 6; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 6).
In der Nacht vom 15./16. Juli 2016 fand in der Türkei ein Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Erdoğan statt, dem sich auf Aufrufe der AKP hin viele Bürger entgegenstellten und der innerhalb weniger Stunden durch regierungstreue Militärs und Sicherheitskräfte niedergeschlagen wurde. Staatspräsident Erdoğan und die Regierung machten den seit dem Jahr 1999 im Exil in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen und dessen bis dahin vor allem für ihr Engagement in der Bildung und in der humanitären Hilfe bekannte Gülen-Bewegung (zu ihrer Entwicklung vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 4; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 12 f.; zum Putschversuch Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 35 ff.) für den Putsch verantwortlich. Diese wurde als terroristische Organisation eingestuft und ihre echten oder mutmaßlichen Anhänger im Zuge einer „Säuberung“, die sich auch auf Anhänger der verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) erstreckte, mit einer Verhaftungswelle überzogen. Gegen ca. 600.000 Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, über 25.000 Personen befinden sich in Haft. Über 150.000 Beamte und Lehrer an Privatschulen wurden vom Dienst suspendiert bzw. aus dem Militärdienst entlassen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch die Ausrufung des Ausnahmezustands (Notstand), welcher der Exekutive erhebliche Handlungsvollmachten einräumte, mehrfach verlängert wurde und zwar am 19. Juli 2018 auslief, aber in einigen Bereichen in dauerhaft geltendes Recht überführt wurde (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 03.06.2021, S. 4 f. – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 8, 12, 23 f.). Zu diesen Regelungen gehören insbesondere die Ermächtigung der Gouverneure, Ausgangssperren zu verhängen, Demonstrationen und Kundgebungen zu verbieten, Vereine zu schließen sowie Personen und private Kommunikation intensiver zu überwachen (vgl. Stiftung Wissenschaft und Politik – SWP, Die Türkei nach den Wahlen: Alles wie gehabt und doch tiefgreifend anders, S. 8, www.swp-berlin.org; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 7).
Als Sicherheitsorgane werden die Polizei in den Städten, die Jandarma am Stadtrand und in den ländlichen Gebieten sowie der Geheimdienst (MIT) landesweit tätig; das Militär ging in den vergangenen Jahren seiner staatlichen Sonderrolle mit einer de-facto-Autonomie gegenüber parlamentarischer Kontrolle als Hüter kemalistischer Grundsätze verlustig (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 7) und dem Verteidigungsminister als ziviler Instanz unterstellt mit der zusätzlichen Befugnis des Staatspräsidenten, den Kommandeuren der Teilstreitkräfte direkt Befehle zu erteilen (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 27). Durch die „Säuberungen“ in Folge des Putsches wurde seine innenpolitische Selbständigkeit beseitigt und z.B. die Militärgerichtsbarkeit in die zivile Gerichtsbarkeit überführt.
Neben dem Putschversuch im Juli 2016 prägt der Kurdenkonflikt die innenpolitische Situation in der Türkei, in welchem der PKK zugehörige oder von türkischen Behörden und Gerichten ihr zugerechnete Personen erheblichen Repressalien ausgesetzt sind (vgl. dazu unten). Die PKK (auch KADEK oder KONGRA-GEL genannt) ist in der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet (vgl. Rat der Europäischen Union, B.v. 4.8.2017 – (GASP) 2017/1426, Anhang Nr. II. 12, ABl. L 204/95 f.) und unterliegt seit 1993 in der Bundesrepublik Deutschland einem Betätigungsverbot; ihre Anhängerzahl wird hier auf rund 14.000 Personen geschätzt (vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, www.verfassungsschutz.de/de/ arbeitsfelder/af-auslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-ist-auslaenderextremismus/ arbeiterpartei-kurdistans-pkk, Abfrage vom 26.4.2018; zu Struktur und Zielen auch Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 32 ff., 92 ff.). Die PKK wird als die schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland eingestuft; sie sei in der Lage, Personen weit über den Kreis der Anhängerschaft hinaus zu mobilisieren. Trotz weitgehend störungsfrei verlaufender Veranstaltungen in Europa bleibe Gewalt eine Option der PKK-Ideologie, was sich nicht zuletzt durch in Deutschland durchgeführte Rekrutierungen für die Guerillaeinheiten zeige (Bundesamt für Verfassungsschutz, ebenda).
b) Eine Gruppenverfolgung allein wegen einer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden haben Asylbewerber aus der Türkei nicht zu befürchten. Kurden gehören zu einer weit verbreiteten Bevölkerungsgruppe in der Türkei (Daten bei Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 7, 203 ff.). Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung ethnischer Kurden liegen nicht vor (vgl. in st. Rspr. VG Augsburg, U.v. 17.12.2019 – Au 6 K 17.35166 – juris Rn. 40 ff. m.w.N.; bestätigend BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – Rn. 6). Dies gilt auch für den Kläger.
c) Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur PKK oder HDP hat der Kläger nicht zu befürchten. Weder gehört er ihnen an, noch wird er ihnen vom türkischen Staat als Mitglied zugerechnet.
d) Eine individuelle Verfolgung wegen des Vorwurfs von „Terrorismus“ hat der Kläger nicht zu befürchten. Zwar sind dem Festnahmebefehl zur Vernehmung der Tatvorwurf der Propaganda für eine Terrororganisation und als einschlägige Gesetzesstelle Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes, mithin der Verdacht einer seitens des türkischen Staats als „Terrorismus“ bezeichneten Handlung/Haltung zu entnehmen. Es liegt aber in der reinen strafprozessualen Ermittlung und dem Festnahmebefehl zwecks Vernehmung mit anschließend vorgesehener Freilassung von der Intensität der Maßnahme ohne ersichtlichen Politmalus her noch keine Verfolgungshandlung vor.
Der Kläger macht hierzu im Wesentlichen geltend, er habe lediglich die o.g. Tweets in Twitter verfasst oder geteilt. Das sei keine propagandistische Unterstützung etwaigen Terrors, denn er lehne Gewalt ab.
Unscharf und Vorwand für die Bandbreite an Repressalien ist der von türkischen Behörden und Gerichten angewandte Begriff des „Terrorismus“. Zwar gewährleistet die türkische Rechtsordnung die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein mit einer unspezifischen Terrorismusdefinition. Seitens der regierenden AKP wird eine Neudefinition des „Terrorismus“-Begriffs im Antiterrorgesetz vorbereitet, wonach auch Personen, die in Medien und sozialen Netzwerken „Terrorpropaganda betreiben sowie Terrororganisationen logistische Unterstützung leisten“, erfasst werden. Ebenso problematisch ist jedoch die sehr weite Auslegung des „Terrorismus“-Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei oder das Teilen von Beiträgen mit PKK-Bezug bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die „Beleidigung des Türkentums“ ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 4, 9 f.; SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, Auskunft vom 29.10.2020, S. 5 ff.). Die Wahrscheinlichkeit einer Strafverfolgung ist eher willkürlich und nicht prognostizierbar; Bezüge zur PKK werden aber eher strafverfolgungsrelevant als bloß zur HDP (vgl. SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, Auskunft vom 29.10.2020, S. 5 ff.).
Die Anwendungspraxis des Internetgesetzes vom März 2018 und des Gesetzes über soziale Medien aus dem Jahr 2020 ermöglichen weiterhin die (Teil-) Sperrung von Webseiten oder einzelner Artikel mit dem Ziel einer inhaltlichen Zensur sowie der Speicherung und Abfrage von Nutzer-Daten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 11).
Exilpolitische Aktivitäten türkischer Staatsangehörige, die im Ausland in herausgehobener oder erkennbar führender Position für eine in der Türkei verbotene Organisation tätig sind, können nach türkischen Gesetzen bestraft werden. Diese Personen können Ziel polizeilicher oder justizieller Maßnahmen werden, wenn sie in die Türkei einreisen. Insbesondere Personen, die als Auslöser von als separatistisch oder terroristisch erachteten Aktivitäten und als Anstifter oder Aufwiegler angesehen werden, müssen mit strafrechtlicher Verfolgung durch den Staat rechnen, vor allem auch Mitgliedern des sog. „Gülen-Netzwerkes“ (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 15 f.). Öffentliche Äußerungen, auch in Zeitungsannoncen oder -artikeln, sowie Beteiligung an Demonstrationen, Kongressen, Konzerten etc. im Ausland zur Unterstützung kurdischer Belange sind strafbar, wenn sie als Anstiftung zu konkret separatistischen und terroristischen Aktionen in der Türkei oder als Unterstützung illegaler Organisationen nach dem türkischen Strafgesetzbuch gewertet werden können (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 88 f.). Es muss davon ausgegangen werden, dass türkische Stellen Regierungsgegner im Ausland vor allem aus Gülen- und PKK-Kreisen ausspähen (Lagebericht ebenda, S. 15 f.). In diesem Zusammenhang können auch regimekritische Äußerungen insbesondere zu Gunsten der PKK strafverfolgungsrelevant werden (vgl. SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, Auskunft vom 29.10.2020, S. 5 ff.).
Die neue Strafverfolgung gegen den Kläger wegen des Tatvorwurfs der Propaganda für eine Terrororganisation weist zwar ersichtlich einen unterstellten prokurdischen und separatistischen Bezug auf. Die einschlägige zitierte Gesetzesstelle Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes unterstreicht dies.
Allein aus dem Akt der Strafverfolgung als solchem aber kann noch nicht darauf geschlossen werden, dass eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts vorliegt. Nach der Rechtsprechung ist bei staatlichen Maßnahmen, die allein dem grundsätzlich legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz, etwa im Bereich der Terrorismusbekämpfung, dienen oder die nicht über das hinausgehen, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird, nicht von politischer Verfolgung auszugehen (vgl. VG Augsburg, U.v. 10.11.2021 – Au 3 K 20.30960 – Rn. 35 m.w.N. auf NdsOVG, U.v. 31.5.2016 – 11 LB 53/15 – juris; VG Bremen, U.v. 08.5.2020 – 2 K 962/18 – juris Rn. 23).
aa) Die abstrakte Strafbarkeit und Strafandrohung einer Propaganda für eine Terrororganisation nach Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes stellen noch keine Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG dar, da sie nicht automatisch an ein in § 3b AsylG genanntes Merkmal anknüpfen, sondern allein an eine behauptete Tathandlung der Propaganda für eine Terrororganisation.
Der Schutz des Staates vor Terrorismus und die Unterbindung der Verherrlichung terroristischer Ziele sind per se noch von der Verteidigung der staatlichen Ordnung durch einen Staat umfasst. Die Unterbindung und ggf. strafrechtliche Sanktionierung von Propaganda für eine Terrororganisation ist ein auch in demokratischen Staaten gebilligtes öffentliches Interesse, das durch entsprechende Strafnormen wie § 129a Abs. 5 StGB auch in Deutschland geschützt wird. Wie die Beklagte zutreffend in ihrer Bescheidsbegründung ausführt, handelt es sich abstrakt noch um eine staatliche Verfolgung kriminellen Unrechts in Bezug auf eine Terrororganisation, vorbehaltlich der konkreten Anwendung der Norm im Einzelfall. Daher ist der Straftatbestand des Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes keine als solche diskriminierende gesetzliche Maßnahme.
Dies gilt auch für die abstrakte Strafandrohung, die im deutschen Strafrecht nach § 129a Abs. 5 StGB die Unterstützung einer Terrororganisation mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bestraft und die Werbung von Mitgliedern für eine Terrororganisation mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft und die in der Türkei nach Art. 7 Abs. 2 Satz 1 des Terrorbekämpfungsgesetzes (Gesetz Nr. 3713) mit einer Freiheitsstrafe von einem bis zu maximal fünf Jahren und somit noch innerhalb des maximalen Strafmaßes des deutschen Strafrechts und nicht unvertretbar schärfer ahndet.
bb) Auch die konkrete Anwendung der Strafnorm des Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes (Gesetz Nr. 3713) durch die türkischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte lässt weder abstrakt noch im Fall des Klägers konkret eine Diskriminierung („Politmalus“) erkennen.
Wie die Beklagte zutreffend in ihrer Bescheidsbegründung ausführt, setzt eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung voraus, dass sich aus den Umständen des Einzelfalls ergibt, dass entweder im Rahmen des Strafverfolgungsprozesses über alle Instanzen oder aus Inhalt, Umfang und Begleitumständen des Urteils entnommen werden kann, dass bestehende Strafverfolgungsnormen unverhältnismäßig oder diskriminierend angewandt würden, um den Kläger in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal gezielt rechtsgutverletzend vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Es sei bei Anknüpfung an eine politisch oppositionelle Überzeugung zu unterscheiden, ob sich aus den Umständen der Strafverfolgung ein unverhältnismäßiger Charakter erkennen lasse, dass der Staat das Strafrecht zur Verfolgung politischer Gegner einsetze, oder ob es sich um rechtmäßige Strafverfolgung handele.
Sie führt weiter aus, bei Wahrunterstellung des Festnahmebefehls ergebe sich, dass der Kläger der Straftat „Betreiben von Propaganda für eine Terrororganisation“ verdächtigt und deswegen festgenommen und nach der Aufnahme der Aussage freigelassen werden soll. Es handele sich um eine staatliche Verfolgung kriminellen Unrechts in Bezug auf eine Terrororganisation. Da der Kläger die Tweets einräume, die ersichtlich Bezug zur gewaltsamen Durchsetzung politischer Ziele, Grußadressen an bewaffnete Kämpfer und an den früheren Vorsitzender der PKK Öcalan enthielten, sei von einem legitimen Strafverfahren auszugehen. Schließlich sei eine Festnahme hinsichtlich eines Verhörs mit anschließender Freilassung beantragt und angeordnet worden. Aus den Inhalten der beiden Dokumente ergebe sich nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren in der Türkei nicht rechtsstaatlichen Prinzipien entspreche. Das Asylverfahren stelle kein (internationales) Rechtsmittelverfahren dar, sondern schütze nur vor diskriminierender Verfolgung. Demnach sei dem Kläger die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz aufgrund politischer Verfolgung zu versagen, da er lediglich vor einer legitimen Strafverfolgung aus der Türkei geflohen sei.
(1) Vorliegend handelt es sich um einen häufigen Fall der Strafverfolgung in der Türkei, denn es ist bekannt, dass kurzfristige Festnahmen von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 18).
(2) Davon abgesehen mag die Häufigkeit der Einleitung und Durchführung solcher Strafverfahren wegen vermeintlicher „Terrorpropaganda“ im Vergleich zur Zahl jener in Deutschland aus vergleichbarem Anlass befremden. Sie folgt aber aus der Strafhoheit des türkischen Staats und lässt weder abstrakt noch im Fall des Klägers konkret eine Diskriminierung („Politmalus“) erkennen.
cc) Ob sich der Kläger durch die mehrfache Teilung und Verfassung von die PKK verherrlichenden Tweets nach Art. 7 Abs. 2 des Terrorbekämpfungsgesetzes (Gesetz Nr. 3713) strafbar gemacht hat oder nicht, entzieht sich der Bewertung des Verwaltungsgerichts. Nach derzeitigem Verfahrensstand ist der Kläger nicht verurteilt worden, vielmehr soll er ausweislich des von ihm in Kopie vorgelegten Festnahmebefehls erst zum Tatvorwurf vernommen und danach wieder freigelassen werden. Ob er tatsächlich verurteilt würde, ist derzeit völlig offen.
Letztlich aber ist die Auslegung türkischer Strafnormen nach der türkischen Verfassung Aufgabe der türkischen Strafgerichte und nicht eines deutschen Verwaltungsgerichts. Dass das Vorgehen des türkischen Staates über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit dieser sein legitimes Recht auf staatlichen Rechtsgüterschutz ausüben kann (vgl. VG Augsburg, U.v. 10.11.2021 – Au 3 K 20.30960 – Rn. 35 m.w.N. auf VG München, U.v. 9.10.2019 – M 1 K 17.39717 – juris Rn. 44 m.w.N.), also eine diskriminierende Anwendung der türkischen Strafnorm auf den Kläger oder ein „Politmalus“, können zum derzeitigen Stand ihres Strafverfahrens in der Türkei jedenfalls nicht festgestellt werden.
dd) Dass das Strafverfahren gegen den Kläger in der Türkei gegen grundlegende prozessuale Werte und das Gebot der Verfahrensfairness verstieße, ist nach derzeitigem Verfahrensstand nicht ersichtlich und auch von ihm nicht substantiiert geltend gemacht worden.
Hinsichtlich der Strafzumessungs- und Strafverfolgungspraxis in der Türkei zeigt sich ein tendenziell negatives Bild: Von der Europäischen Union wurden der Türkei erhebliche Defizite im Bereich der Justiz bescheinigt. Sichert das türkische Recht im Bereich der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung noch die grundsätzlichen Verfahrensgarantien, bestehen in politisierten Strafverfahren, etwa wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der oder Propaganda für die PKK, DHKP-C oder Gülen-Bewegung, erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und fairen Prozessführung. So wurden einzelne Richter nach kontroversen Entscheidungen suspendiert oder (straf) versetzt, woraufhin andere Richter gegen die gleichen Angeklagten zum politisch opportunen Ergebnis kamen. Belastbare Erkenntnisse über eine Beeinflussung justizieller Entscheidungen in konkreten Einzelfällen lassen sich indes kaum gewinnen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen erwirkt werden wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Damit werden die Betroffenen bereits vor einem gerichtlichen Urteil erheblich in ihren Rechten beeinträchtigt, was eine generelle abschreckende Wirkung bei der Ausübung von Rechten bewirkt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21 f.; auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 12 ff.). Generell ist die türkische Justiz überlastet und nach den zahlreichen Entlassungen in der Justiz in Folge des Putschversuches in Teilen dysfunktional geworden; so dass sich Verfahren häufig lange hinziehen; so wurden ca. 4.000 Richter und Staatsanwälte entlassen und durch unerfahrenes Personal ersetzt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12; Zahlen auch bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 13; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 21; Accord, Türkei COI-Compilation, Auszug in deutscher Übersetzung, Dez. 2020, S. 40 ff., 104 ff.). Der für Entscheidungen u. a. über Verwarnungen, Versetzungen oder den Verbleib im justiziellen Beruf zuständige Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK, vormals Hoher Rat HSYK) unter Vorsitz des Justizministers wurde einer stärkeren Kontrolle des Justizministers unterstellt und damit in seiner Unabhängigkeit deutlich eingeschränkt; ein Teil der Mitglieder wird direkt durch den Staatspräsidenten ernannt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12). Im Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte und – jedenfalls in Terrorprozessen – bei den Verteidigungsmöglichkeiten bestehen erhebliche Defizite; so werden Fälle mit Bezug zur angeblichen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung, der PKK oder deren zivilem Arm KCK häufig als geheim eingestuft und Rechtsanwälten bis zur Anklageerhebung keine Akteneinsicht ermöglicht, aber Teile von Akten oder vertrauliche Informationen werden in AKPnahen Medien veröffentlicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12). Gerichtsprotokolle werden mit wochenlanger Verzögerung erstellt. Beweisanträge der Verteidigung und die Befragung von Belastungszeugen durch die Verteidiger werden im Rahmen der Verhandlungsführung des Gerichts eingeschränkt. Geheime Zeugen können im Prozess nicht direkt befragt werden. Der subjektive Tatbestand wird nicht erörtert, sondern als gegeben unterstellt. Häufig wird auch ein individueller Tatbeitrag allenfalls kursorisch dargestellt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 13).
Im Zuge der strafrechtlichen Aufarbeitung des Putschversuches vom Juli 2016 schränkte das Dekret 668 am 27. Juli 2016 die regulären Verfahrensgarantien für Personen weitreichend ein, auch wenn es mittlerweile entschärft wurde. Seit dem 31. Juli 2018 ist befristet bis zum 31. Juli 2021 bei folgenden Straftaten der Polizeigewahrsam für 48 Stunden, bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten für vier Tage möglich: „Straftaten gegen die Sicherheit des Staates“ (Art. 302-308 tStGB), „Straftaten gegen die Verfassungsordnung“ (Art. 309-316 tStGB), „Straftaten gegen die nationale Verteidigung“ (Art. 317-325 tStGB), „Straftaten gegen Staatsgeheimnisse und Spionage“ (Art. 326-339 tStGB), Straftaten im Rahmen des Antiterrorgesetzes sowie Straftaten, die innerhalb einer Organisation begangen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 13).
Für andere Straftaten gelten die allgemeinen Regeln: Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich zwölf Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 1 tStPO). Beim Ergreifen auf „frischer Tat“ beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration kann die Frist auf bis zu 48 Stunden ausgeweitet werden (Art. 91 Abs. 4 tStPO). In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage (jeweils um einen Tag) verlängert werden (Art. 91 Abs. 3 tStPO). In der Vergangenheit gab es Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten wurden. Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist unzulässig, es sei denn er wurde zumindest einmal vom Gericht angehört, ansonsten kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 13).
(1) Hier hat die Beklagte zu Recht darauf hingewiesen, dass das Strafverfahren nach den vom Kläger vorgelegten Unterlagen bisher sorgfältig und in den im türkischen Strafprozess vorgesehenen Verfahrensstufen abgelaufen ist und bisher zu keiner Verurteilung geführt hat.
Der Kläger soll ausweislich der Begründung des Festnahmebefehls ergriffen, vernommen und wieder freigelassen werden. Eine willkürliche Vorenthaltung einer angemessenen Äußerungsmöglichkeit oder Verfahrensvertretung ist nicht glaubhaft gemacht oder sonst ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als anders als im Bereich der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung das türkische Recht die grundsätzlichen Verfahrensgarantien in politisierten Strafverfahren, etwa wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der oder Propaganda für die PKK, nicht mehr vollständig sichere und erhebliche Zweifel an der richterlichen Unabhängigkeit und fairen Prozessführung entstünden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12). Erschwerend komme hinzu, dass auch bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen erwirkt würden, wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Damit würden die Betroffenen bereits vor einem gerichtlichen Urteil erheblich in ihren Rechten beeinträchtigt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12).
Dies ist hier gerade nicht der Fall. da nur eine kurzfristige Ingewahrsamnahme zur Vernehmung, aber keine Untersuchungshaft – gar unabsehbarer Dauer angesichts der Überlastung der türkischen Justiz – des Klägers angeordnet ist.
Soweit der Kläger befürchtet, wegen seiner in der Stellungnahme des Gouverneursamts zitierten früheren Verurteilung (OLG, U.v. 22.12.2015) unabhängig vom jetzigen Festnahmebefehl inhaftiert zu werden, ist dies jedenfalls derzeit nicht beachtlich wahrscheinlich. Ausweislich desselben Dokuments wurde der Kläger am 11. Juni 2014 ergriffen, in Gewahrsam genommen, zu beiden damals anhängigen Strafverfahren verhört und noch am selben Tag wieder freigelassen. Zwar wurde ausweislich dieses Dokuments danach seine Freilassung unter Auflage wegen Aufschiebung der Verkündung einer fünfjährigen Haftstrafe angeordnet, aber diese Auflagen – welche auch immer – hinderten in den folgenden Jahren nicht die Bewegungsfreiheit des Klägers, erst recht nicht seine – auch nach diesem Dokument – offiziell registrierte und damit offensichtlich legale Ausreise auf dem Luftweg rund vier Jahre später. Wenn ihn die türkische Justiz bereits damals trotz des zweiten noch in der Berufungsinstanz anhängigen Strafverfahrens weder an einer Ausreise hindern noch gar zu ergreifen suchte, ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend wahrscheinlich, dass das Risiko einer Inhaftierung über die Vernehmung hinaus durch das nun anhängige Strafverfahren wegen Terrorpropaganda maßgeblich zu Lasten des Klägers gesteigert wäre.
Dass die alten Strafverfahren – wie der Kläger meint – im Fall seiner aktuellen Festnahme wieder aufgerollt würden und ihm nun eine entsprechend härtere Strafe drohte, ist derzeit reine Spekulation und auch aus den vorgenannten Gründen nicht hinreichend wahrscheinlich.
(2) Weiter hat der Kläger nach eigenen Angaben Kenntnis vom Festnahmebefehl durch Einsicht in E-Devlet und UYAP erlangt. Eine geheime Verfahrensführung oder eine willkürliche Vorenthaltung einer Akteneinsicht, insbesondere durch einen den Aktenzugang sperrenden Geheimhaltungsvermerk, wie sie sonst in Verfahren mit „Terrorbezug“ vorkommen, sind nicht glaubhaft gemacht oder sonst ersichtlich.
(3) Schließlich dient der erlassene Festnahmebefehl seiner Vernehmung zum Tatvorwurf und damit der Erfüllung eines zwingenden Elements des türkischen Strafprozesses: Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist unzulässig, es sei denn er wurde zumindest einmal vom Gericht angehört, ansonsten kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 13).
Daher wurde der Kläger zur Vernehmung geladen, wurde wegen seines Ausbleibens ein Festnahmebefehl erlassen und sollte er durch Ergreifen vorgeführt werden. Eine willkürliche Verfahrensgestaltung oder gar eine Verfolgungshandlung kann daher derzeit nicht gesehen werden.
ee) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Anwendung physischer oder psychischer sowie sexueller Gewalt droht nicht.
Dem hilfsweise gestellten Beweisantrag war nicht zu entsprechen. Es wurde beantragt, Zum Beweis dafür, dass Personen in der Türkei unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK/KCK festgenommen werden, mit höherer Wahrscheinlichkeit als andere Straftäter mit menschenrechtswidriger Behandlung durch die türkische Polizei zu rechnen haben, und dass Strafurteile bei diesem Vorwurf deutlich höhere Strafen enthalten als vergleichbare Verurteilungen und damit von einem Politmalus auszugehen ist, wird Beweis durch Auskunft des Auswärtigen Amts und Amnesty International eingeholt.
Erstens ist sachlich nicht hinreichend substantiiert, dass und welche anderen bzw. besseren Erkenntnisse von dieser Beweiserhebung zu erwarten wären, als in den zum Verfahrensgegenstand gemachten Auskünften beider benannten Auskunftsstellen bereits enthalten und – nachfolgend – gewürdigt sind. Im Übrigen ist es eine Frage des Einzelfalls und der gerichtlichen Würdigung (§ 108 VwGO) der jeweiligen Gefahrenlage, ob und inwieweit einer Person in der Türkei angesichts der Bandbreite der Definition des Terrorismus in der Türkei (vgl. dazu oben) tatsächlich Gefahr läuft, Repressionen zu erfahren. Ebenso ist es eine Frage des Einzelfalls, ob andere Personen weniger scharf bestraft werden, wobei der Beweisantrag hierzu auch unbehilflich ist, da er die Vergleichsgruppe offenlässt. Dass vermeintliche Terrorpropaganda für andere Terrororganisationen in der Türkei weniger scharf bestraft würde als für die PKK/KCK, ist nicht hinreichend substantiiert, sondern ins Blaue hinein unterstellt.
Zweitens ist dieser Antrag auch nach § 87b VwGO präkludiert, da er nicht in der mit der Ladung gesetzten einwöchigen Frist ab Zugang der Ladung (am 3. Februar 2022) bis 10. Februar 2022 angekündigt und die Verspätung auch nicht genügend entschuldigt wurde. Das Ergebnis dieser Beweisaufnahme abzuwarten, würde die Entscheidung über die Klage aber erheblich verzögern.
In der Behandlung Straftatverdächtiger zeigt sich ein ambivalentes Bild: Einerseits verfolgt die Türkei offiziell eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter des Staates; eine strafrechtliche Verfolgung von hiergegen verstoßenden Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten ist aber nicht bekannt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 18; auch AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 2; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 28 f.). Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 kam es vermehrt zu Folter- und Misshandlungsvorwürfen gegen Strafverfolgungsbehörden. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Putschversuch und im Rahmen des Vorgehens der Sicherheitskräfte gegen die PKK im Südosten des Landes kamen bzw. kommen allerdings Misshandlungen von in Gewahrsam befindlichen Personen vor. Menschenrechtsorganisationen berichten, dass Dritten der Zugang zu ärztlichen Berichten über den Zustand inhaftierter bzw. in Gewahrsam genommener Personen häufig verweigert wird und eine unabhängige Überprüfung von Foltervorwürfen nur schwer möglich ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 18; eine Zunahme der Berichte über Misshandlungen in Polizeigewahrsam bestätigt AI, Auskunft vom 23.4.2019 an das VG Karlsruhe, S. 2 f.; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 28.1.2020, S. 1 f.; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 17 f.; Schweizer Flüchtlingshilfe SFH, Schnellrecherche an das VG Karlsruhe vom 17.2.2017, S. 3). Teils wird auf im Erlassweg eingeräumte Straffreiheit der entsprechend der Notstandsverordnungen tätigen Staatsbediensteten verwiesen (vgl. AI, Stellungnahme an das VG Karlsruhe vom 9.3.2017, S. 2). Misshandlungen von am Putschversuch Beteiligter wie Piloten und Offiziere in den ersten Tagen nach dem Putschversuch im Juli 2016 werden aber als gesichert angesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Ansbach vom 4.4.2017, S. 2; AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 3; offiziell genehmigte Fotos gefolterter Offiziere bei Kamil Taylan, Gutachten an das VG Karlsruhe vom 13.1.2017, S. 20; Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 19 f.). Schutzvorkehrungen zur Vermeidung bzw. Dokumentation von Folter im Polizeigewahrsam wie die Durchführung ärztlicher Untersuchungen bei Aufnahme und Entlassung aus Gewahrsam oder Haft in Abwesenheit der Vollzugsbeamten werden unterlaufen; teils die untersuchenden Ärzte auch eingeschüchtert (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 18).
Das Risiko solcher Misshandlungen ist für der PKK oder der Gülen-Bewegung zugerechnete Personen erhöht (vgl. AI, Auskunft vom 23.4.2019 an das VG Karlsruhe, S. 3), nicht aber für Inhaftierte aus dem Bereich des islamistischen Extremismus wie IS-Verdächtige. Für ein strukturell bestehendes Risiko von Misshandlungen von IS-Verdächtigen oder gehäufte Einzelfälle solcher Misshandlungen gibt es nach Recherchen des Auswärtigen Amts unter Einbeziehung von Menschenrechtsorganisationen keine Anhaltspunkte (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 12.3.2018). Dass Gülen-Verdächtigte in Strafhaft mit systematischer Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung zu rechnen hätten. lägen keine Erkenntnisse vor (Auswärtiges Amt, Auskunft vom „8.8.2020“ [Eingang: 16.1.2020 am VG] an das VG Augsburg zu Frage 1 f). Gleichwohl gibt es auch Hinweise, dass wegen der Vertretung von wegen PKK- oder „FETÖ“-Verdachts angeklagter Personen selbst verhaftete Rechtsanwälte in staatlicher Haft misshandelt wurden und das türkische Parlament entsprechenden Beschwerden nicht nachgeht (vgl. Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 15 ff.).
Dass sich eine Misshandlung bei der Vollstreckung des nun erlassenen Festnahmebefehls (Ingewahrsamnahme und Vernehmung) ereignen oder wiederholen wird, ist nicht hinreichend wahrscheinlich. Erst recht wird der Kläger nach derzeitigem Verfahrensstand auch unmittelbar nach der Vernehmung auch wieder freigelassen werden, wie der Festnahmebefehl es anordnet, auch wenn der Kläger dies auf Grund seiner Einschätzung der türkischen Strafverfolgungsbehörden und mit Blick auf seine – soeben gewürdigten – früheren und teils noch offenen bzw. nicht strafvollstreckten Strafverfahren bestreitet.
ff) Eine Verfolgung i. S. des § 3 i.V.m. § 3a Abs. 2 AsylG in Gestalt diskriminierend angewandter administrativer oder justizieller Maßnahmen oder eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes droht auch sonst nicht.
Die Türkei gewährleistet grundsätzlich Verfahrensgarantien im Strafverfahren; Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulichen Informationen und beim Zugang zu erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte, insbesondere bei der Akteneinsicht in Fällen wegen angeblicher Mitgliedschaft bei PKK und FETÖ (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.6.2021, S. 12). Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene bei regulären Straftaten dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden; in Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam nach Art. 91 tStPO auf bis zu drei Tage verlängert werden. Seit dem 31. Juli 2018 ist (befristet bis 31. Juli 2021) bei folgenden Straftaten der Polizeigewahrsam für 48 Stunden, bei gemeinschaftlich begangenen Straftaten für vier Tage möglich: „Straftaten gegen die Sicherheit des Staates“ (Art. 302-308 tStGB), „Straftaten gegen die Verfassungsordnung“ (Art. 309-316 tStGB), „Straftaten gegen die nationale Verteidigung“ (Art. 317-325 tStGB), „Straftaten gegen Staatsgeheimnisse und Spionage“ (Art. 326-339 tStGB), Straftaten im Rahmen des Antiterrorgesetzes sowie Straftaten, die innerhalb einer Organisation begangen werden. Bei diesen Strafvorwürfen kann auch die Kommunikation zwischen Mandanten und Verteidigern weiter audio-visuell überwacht werden, was zumindest in Fällen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der „Gülen-Bewegung“ regelmäßig der Fall ist. Inzwischen ist der Kontakt mit Verteidigern wieder zeitlich unbeschränkt eröffnet (vgl. Lagebericht, S. 15; schon Lagebericht vom 3.8.2018 ebenda S. 19).
Wie soeben ausgeführt, ist in den vorgelegten Dokumenten kein Anhaltspunkt für eine diskriminierende Anwendung administrativer oder justizieller Maßnahmen oder für eine diskriminierende Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes ersichtlich. Gegenteiliges hat der Kläger nicht substantiiert geltend gemacht. Die Strafverfolgung wegen Terrorpropaganda war und ist nicht illegitim unter Würdigung der vom Kläger als selbst gepostet oder geteilt eingestandenen Tweets, welche wie gezeigt Grußadressen an Öcalan und befürwortende Darstellungen und Preisungen von Kämpfern enthalten.
gg) Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse spricht auch die unbehelligte Ausreise mit eigenem Reisepass.
Gegen eine politische Verfolgung spricht nach Auffassung des Verwaltungsgerichts im Asylerstverfahren weiter, dass der Kläger einen Reisepass, gültig vom 16. April 2018 bis 20. September 2019 gehabt habe und unbehelligt über den Flughafen in … nach Mazedonien ausgereist sei. Daran hat sich durch die neu vorgelegten Unterlagen nichts geändert. Im Gegenteil wurde seine offensichtlich legale Ausreise auf dem Luftweg ausweislich des Berichts des Gouverneursamts offiziell registriert und damals trotz offener Strafverfahren nicht unterbunden. Wenn ihn die türkische Justiz bereits weder an einer Ausreise hindern noch gar zu ergreifen suchte, ist zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts nicht hinreichend wahrscheinlich, dass das Risiko einer Inhaftierung über die Vernehmung hinaus durch das nun anhängige Strafverfahren wegen Terrorpropaganda maßgeblich zu Lasten des Klägers gesteigert wäre (vgl. oben).
3. Der Kläger hat aus diesen Gründen auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
4. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor. Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
5. Nachdem sich auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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