Verwaltungsrecht

Überwiegendes Ausweisungsinteresse bei Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit

Aktenzeichen  M 4 K 19.1658

Datum:
29.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 22106
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53, § 54, § 55
GG Art 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen.  (Rn. 71) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage erweist sich als unbegründet.
Die Entscheidung konnte mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die nach Fällung des Urteils eingegangenen Schriftsätze der Beklagten vom 2. Juli und vom 6. Juli 2021, die übersandten Strafakten, eingegangen bei Gericht am 29. Juni 2021 nach Fällung der Entscheidung, sowie der Beschluss des Amtsgerichts München vom 9. März 2020, eingegangen bei Gericht am 30. Juni 2021, hat das Gericht zur Kenntnis genommen. Aus ihrem Inhalt ergab sich nichts, was eine abweichende, positive Entscheidung zugunsten des Klägers hätte bewirken können, im Gegenteil. Es handelt sich um Stellungnahmen des psychologischen Fachdiensts und andere Berichte des Sozialreferats der Beklagten zur Situation der Familie, insbesondere des Sohnes des Klägers seit dem Jahr 2019, um einen Vermerk zur nichtöffentlichen Sitzung des Amtsgerichts München – Familiengericht – vom 9. März 2020 sowie um die Gründe des Beschlusses des Familiengerichts vom 9. März 2020 und um die Strafakten sowie das Vollstreckungsheft der Staatsanwaltschaft München I zum Verfahren des Klägers wegen u.a. Räuberischer Erpressung (Az.: … … …18). Da das Gesetz für Urteile ohne mündliche Verhandlung die Übergabe einer von den mitwirkenden Richtern unterschriebenen Urteilsformel an die Geschäftsstelle nach § 117 Abs. 4 Satz 2 VwGO nicht vorsieht, ist die Entscheidung in einem solchen Verfahren erst getroffen, wenn das vollständig abgesetzte Urteil von der Geschäftsstelle zum Zweck der Zustellung zur Versendung gebracht wurde (Geiger in: Eyermann, VwGO, § 102 Rn. 11 m.w.N.). Eine erneute Beratung und Urteilsfällung war jedoch nicht veranlasst, (§ 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog). Es liegt kein beachtliches Vorbringen vor. Sowohl der Inhalt des Strafverfahrens, zu dem die Strafakten vorgelegt wurden, als auch der Beschluss des Amtsgerichts München vom 9. März 2020 waren dem Gericht inhaltlich schon im Zeitpunkt seiner Entscheidung bekannt. Aus den nachträglich vorgelegten Teilen der Behördenakte ergaben sich im Übrigen auch keine Umstände, die sich überhaupt, geschweige denn entscheidungserheblich, zugunsten des Klägers hätten auswirken können.
I.
Die Klage ist unbegründet. Die Ausweisung erweist sich als rechtmäßig (1.). Gleiches gilt für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (2.). Die Abschiebungsandrohung begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken (3.). Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (4.).
Das Gericht verweist auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen im angegriffenen Bescheid, folgt der Begründung und sieht insoweit von der Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Darüber hinaus gilt ergänzend folgendes:
1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung der Nr. 1 des Bescheids vom 2. April 2019, weil dieser im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts (vgl. BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12) rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 VwGO).
Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung (1.1.). Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist (1.2.).
1.1. Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG dar, da mit hinreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger erneut straffällig werden wird.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 10).
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass vom Kläger bei einem Verbleib im Bundesgebiet die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten ausgeht. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar.
Das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe. So hat der Kläger seit dem Jahr 2014 überwiegend unter Alkoholeinfluss zahlreiche Straftaten begangen (1.1.1.), reiste unerlaubt erneut in das Bundesgebiet ein (1.1.2.) und beendete eine Entzugstherapie ohne Erfolg (1.1.3.). Zudem bestehen generalpräventive Gründe für eine Ausweisung (1.1.4.).
1.1.1. Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe durch das Amtsgericht München mit Urteil vom 6. Dezember 2018 (Az.: … … … … …18) wegen räuberischer Erpressung, gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung. Die festgestellten Taten ereigneten sich über einen längeren Zeitraum von 2013 bis 2018 und richteten sich sämtlich gegen die Ehefrau des Klägers, mit der dieser in einem Haushalt lebte. Es lässt sich ein verfestigtes Verhaltensmuster beim Kläger erkennen, der gegenüber seiner Ehefrau mehrfach alkoholisiert gewalttätig wurde oder dieser mit der Anwendung von Gewalt drohte. Gemäß den Feststellungen des Amtsgerichts war der Kläger nicht ausschließbar zu allen Tatzeitpunkten alkoholisiert bzw. stand unter Einfluss von Kokain und war deswegen besonders aggressiv gegenüber der Geschädigten. Das Amtsgericht begründete seine Entscheidung unter Bezugnahme auf die Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen, der beim Kläger die Gefahr der Begehung weiterer, durch den Hang zu Alkohol und Kokain bedingter, erheblicher rechtswidriger Taten bejahte.
Bereits zuvor wurden gegen den Kläger mit Urteilen des Amtsgerichts München vom 25. März 2014, 16. Juli 2014 und 15. Dezember 2015 zunächst Geldstrafen, im Rahmen der Verurteilung vom 24. Mai 2018 dann auch eine Freiheitsstrafe von drei Monaten verhängt. Den Verurteilungen vom 25. März 2014 und 24. Mai 2018, jeweils wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr, lag jeweils, wie in der Anlasstat, eine Alkoholisierung zugrunde. Der Kläger ließ sich keines der Urteile zur Warnung dienen, sondern blieb weiterhin straffällig.
1.1.2. Trotz erfolgter Abschiebung am 26. August 2020 und des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von fünf bzw. sieben Jahren durch Bescheid vom 2. April 2019 reiste der Kläger wieder in das Bundesgebiet ein und wurde am 22. März 2021 in München im Rahmen strafrechtlicher Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen. Nach eigenen Angaben im Ermittlungsverfahren war der Kläger ca. 1,5 Monate vor dem Zeitpunkt seiner Festnahme unter anderem Namen in das Bundesgebiet eingereist, obwohl er wusste, dass gegen ihn mit Bescheid vom 2. April 2019 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt worden war, dessen Aufhebung er im vorliegenden Verfahren begehrt.
1.1.3. Zudem hat der Kläger eine Drogen- oder Alkoholtherapie ohne positives Resultat abgeschlossen. Eine Entzugstherapie im Rahmen des Maßregelvollzugs im … … blieb erfolglos. Nach ärztlichem Bericht vom 5. November 2019 wurde die Erledigung des Maßregelvollzugs übereinstimmend von Seiten der Klinik mangels ausreichender Therapiemotivation, Absprachefähigkeit und Mitarbeit des Klägers beschlossen. Der Kläger bagatellisierte seine Straftaten und war rein extrinsisch motiviert. Zudem entwich der Kläger vom 20. September 2019 bis zum 27. September 2019 für mehrere Tage aus der Klinik, bis ihn die Polizei in der Wohnung seiner ehemaligen Ehefrau aufgriff. Während dieser Zeit konsumierte der Kläger nach seinen eigenen Angaben mehrfach Alkohol und kaufte Kokain. Das Landgericht München I erklärte die Unterbringung in der Entziehungsanstalt mit Beschluss vom 12. Dezember 2019 auf Empfehlung der behandelnden Ärzte für erledigt. Das Landgericht ging davon aus, dass der Zweck der Maßregel nicht mehr zu erreichen ist. Bei seiner erneuten Festnahme am 22. März 2021 in München wurde beim Kläger im Rahmen eines Atem-Alkoholtests ein Alkoholwert von 0,87 mg/l gemessen.
Auch das Landgericht Augsburg ging in seinem Beschluss vom 11. Juli 2020 davon aus, dass beim Kläger eine positive Sozialprognose nicht gestellt werden könne. Dabei nimmt das Gericht auf den Reststrafenaussetzungsbeschluss vom 18. März 2020 Bezug, nach dem eine Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden könne. Beim Kläger bestehe aufgrund geringer psychischer Belastbarkeit eine ungelöste Alkohol- und Drogenproblematik, die erneute Straftaten befürchten lasse.
Insgesamt geht vom Kläger nach Auffassung des Gerichts, insbesondere auch mangels erfolgreich abgeschlossener Therapie seiner deliktsfördernden Alkohol- und Drogenabhängigkeit eine hinreichende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus.
1.1.4. Überdies liegen auch erhebliche generalpräventive Gründe für die Ausweisung vor. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verstöße zu begehen (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn. 17). Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83 – juris Rn. 24; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77 – juris Rn. 37; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06 – juris Rn. 23 ff.). Es liegt vorliegend im öffentlichen Interesse, die vom Kläger begangenen Verstöße mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass derartige Verstöße, hier insbesondere gegen die körperliche und psychische Unversehrtheit von Familienmitgliedern im häuslichen Bereich, zur Aufenthaltsbeendigung und einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot führen. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen. Die konsequente Ahndung ist geeignet, unmittelbar auf das Verhalten anderer Ausländer einzuwirken und damit künftigen Vergehen generalpräventiv vorzubeugen.
1.2. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an eine Ausreise überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
1.2.1. Beim Kläger liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. Der Kläger wurde mit Urteil des Amtsgerichts München vom 6. Dezember 2018 (Az.: 831 Ls 234 Js 116717/18) wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung in Tateinheit mit Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit Beleidigung in Tatmehrheit mit versuchter räuberischer Erpressung unter Einbeziehung der Verurteilung vom 24. Mai 2018 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt.
Es besteht auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a. b) AufenthG, da die dem Strafurteil vom 6. Dezember 2018 zugrundeliegenden Einzelstrafen für eine vorsätzliche Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit von zehn und sechs Monaten addiert eine Freiheitsstrafe von über einem Jahr ergeben. Nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a. b) AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist wegen einer oder mehrerer Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Auch wenn die verhängten Einzelstrafen jeweils nicht das Strafmaß von einem Jahr erreicht haben, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach die wegen der Körperverletzungsdelikte verhängten Strafen mindestens ein Jahr betragen müssen, dass der Tatbestand der Norm verwirklicht ist, wenn durch mehrere Einzelstrafen die Summe von einem Jahr erreicht wird. Das Gesetz spricht von einer oder mehreren Straftaten (BayVGH, B.v. 18.7.2019 – 10 ZB 19.776 – juris Rn. 18; BeckOK, AuslR/Fleuß AufenthG § 54 Rn. 40). Vorliegend bildete das Strafgericht im Urteil vom 6. Dezember 2018 eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten (s.o.). Jedoch richteten sich nicht alle dem Urteil zugrundeliegenden Straftaten gegen das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit, sondern nur die beiden Einzelstrafen für die Taten vom 15. August 2013 zu zehn Monaten Freiheitsstrafe und vom Januar 2014 zu sechs Monaten Freiheitsstrafe (Abschnitt V., Ziffer 1 und 2. der Gründe des Urteils vom 6. Dezember 2018). Bei Addierung dieser beiden Einzelstrafen ergeben sich in der Summe 16 Monate, womit das Mindestmaß von einem Jahr überschritten ist.
Es besteht weiter ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, da der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts München vom 6. Dezember 2018 zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wurde (Az.: … … … … …18).
Beim Kläger liegt ferner ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vor, da dieser, insbesondere festgestellt durch Urteil vom 6. Dezember 2018 (Az.: … … … … …18) und durch seine unerlaubte Wiedereinreise unter falschen Namen nach seiner Abschiebung im August 2020, nicht nur vereinzelt oder geringfügig gegen Rechtsvorschriften und behördliche Entscheidungen verstoßen hat.
1.2.2. Auf ein gesetzlich normiertes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG kann sich der Kläger nicht berufen. Insbesondere sind § 55 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 Nr. 5 AufenthG nicht einschlägig.
Ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kommt nicht in Betracht, da der Kläger zum einen spätestens seit Antritt der Untersuchungshaft am 12. Februar 2018 nicht mehr in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem Kind lebt. Zum anderen hat der Kläger sein Personensorgerecht für seinen minderjährigen Sohn durch Beschluss des Amtsgerichts München – Familiengericht vom 9. März 2020 verloren. Überdies übt der Kläger sein Umgangsrecht mit seinem Sohn ausweislich der Besuchsliste der Justizvollzugsanstalt München nicht aus. Im Übrigen ist der Kläger durch Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 11. Juli 2020 angewiesen, Kontakt zu seinem Sohn ausschließlich nach Vereinbarung mit dem Jugendamt aufzunehmen und jegliche selbständige Kontaktaufnahme zu unterlassen.
Ein schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG scheidet ebenfalls aus. Das Gericht geht nicht davon aus, dass eine persönliche Verbundenheit des Kindes zu seinem Vater besteht, auf deren Aufrechterhaltung es zu seinem Wohl angewiesen ist. Die Belange oder das Wohl eines Kindes sind bzw. ist nur zu berücksichtigen, wenn zwischen dem Ausländer und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung oder eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind angewiesen ist (BeckOK, AuslR/Fleuß AufenthG § 55 Rn. 115). Der Kläger hat derzeit weder das Sorgerecht noch ein Umgangsrecht mit seinem Sohn. Gemäß der Stellungnahme des Sozialbürgerhauses … vom … … 2021 besteht keine persönliche Verbundenheit des Sohnes zu seinem Vater, dem Kläger, auf deren Aufrechterhaltung der Sohn des Klägers angewiesen ist. Die Beziehung seitens des Sohns ist von Angst und Unsicherheit geprägt. Ausweislich des Schreibens des Sozialbürgerhauses vom … … 2021 muss zunächst ein familienpsychologisches Gutachten erstellt werden, um die Auswirkung eines Umgangs des Klägers mit seinem Sohn auf das Kindswohl zu prüfen. Der Sohn benötigt, nach Angaben seiner Mutter vom … … 2021, den Kläger als Vater weiterhin nicht und wünscht keinen Kontakt. Nach alledem geht das Gericht nicht davon aus, dass zwischen dem Kläger und seinem Sohn derzeit eine schützenswerte Bindung besteht, auf deren Aufrechterhaltung der Sohn zu seinem Wohl angewiesen ist.
1.2.3. Unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Rechte aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK überwiegt das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Entscheidung wahrt im Übrigen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die aus spezialpräventiven Gründen für das Überwiegen des Ausweisungsinteresses sprechenden Gesichtspunkte sind gemeinsam mit den generalpräventiven Gründen so gewichtig, dass die Abwägung zu Lasten des Klägers erfolgt. Die Beklagte hat die privaten Interessen des Klägers umfassend und zutreffend dargestellt und mit ausführlicher Begründung, der sich das Gericht anschließt, gegen die für die Ausreise sprechenden Gründe abgewogen.
Für den weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet sprach bei dieser Abwägung, dass er im Zeitraum vom Februar 2010 bis zum August 2020 für zehn Jahre im Bundesgebiet lebte und Vater eines minderjährigen deutschen Kindes ist, mit dem er zumindest in der Zukunft wieder ein Umgangsrecht erlangen könnte. Der Kläger lebte sieben Jahre lang mit dem Sohn in häuslicher Gemeinschaft und betreute diesen überwiegend. Jedoch hat sich der Kläger nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse integriert, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Er reiste erst im Alter von 30 Jahren im Wege des Ehegattennachzugs in das Bundesgebiet ein. Der Kläger ist in … geboren, absolvierte dort eine Schul- und Berufsausbildung und lebte dort auch wieder nach seiner Abschiebung am 26. August 2020. Den Kläger erwarten im Fall seiner Rückkehr nach … weder unüberbrückbare sprachliche, noch kulturelle Hürden, sodass ihm insoweit eine Reintegration möglich sein wird.
Seit seiner Einreise im Jahr 2010 ist dem Kläger eine wirtschaftliche Integration nicht gelungen. Er verfügt über keine gesicherte berufliche Position. Vom … … 2010 bis zum … … 2012 ging er geringfügigen, teilweise nicht versicherungspflichtigen Beschäftigungen nach. Der Kläger lebte, abgesehen von einer versicherungspflichtigen Tätigkeit am … … 2014, vom Einkommen seiner Ehefrau, ohne eigenes Einkommen zu erzielen.
Dagegen wiegen die vom Kläger verübten Straftaten schwer. Der Kläger hat zum Ausdruck gebracht, dass er nicht willens oder jedenfalls nicht in der Lage ist, sich an die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu halten. Der Kläger beging über Jahre hinweg Straftaten, inklusive Körperverletzungen, vor allem gegenüber seiner Ehefrau. Dabei demonstrierte er eine erhebliche Gewaltbereitschaft und schreckte nicht davor zurück, seine Ehefrau mehrfach zu schlagen, sie durch Spucken zu demütigen und sie massiv zu bedrohen. Besonders negativ ins Gewicht fällt, dass der Kläger, trotz erfolgter Abschiebung in sein Heimatland …, weiterhin Bedrohungen über verschiedene Kommunikationsmedien gegenüber seiner Frau äußerte und nach einigen Monaten unter anderem Namen, entgegen des Einreise- und Aufenthaltsverbots, erneut in die Bundesrepublik einreiste, wo er kurz nach seiner Einreise erneut wegen des Verdachts auf alkoholbedingte Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit einer Frau inhaftiert wurde.
Vor diesem Hintergrund, insbesondere unter Berücksichtigung der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr, sowie des erheblichen generalpräventiven Interesses, fällt – selbst wenn man ein normiertes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 5 AufenthG annehmen sollte – die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses verhältnismäßig.
2. Die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots beruht auf § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot in Nr. 3 des angegriffenen Bescheids auf fünf bzw. sieben Jahre ist nicht zu beanstanden.
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Die Frist darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen der Abs. 5 bis 5b überschreiten. Gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG, der hier einschlägig ist, soll im Falle der Ausweisung wegen einer strafrechtlichen Verurteilung die Frist zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d. h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8. EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56).
Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf fünf bzw. sieben Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler sind nicht ersichtlich, § 114 VwGO. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 3 Satz 2 und Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit Ausweisung verfolgten Zwecke sowie die privaten Interessen des Klägers berücksichtigt. Ausgehend von der bestehenden Gefahr weiterer Straftaten durch den Kläger erscheint auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Bedingungen des Klägers zum Bundesgebiet eine Frist von fünf bzw. sieben Jahren nicht unverhältnismäßig, sondern erforderlich, um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer Straftaten zu begegnen.
3. Die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist in Nr. 4 des Bescheids entsprechen den gesetzlichen Vorschriften (§ 50 Abs. 1, § 58 Abs. 1 und 2, § 59 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 AufenthG) und sind nicht zu beanstanden.
4. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung des Gerichts auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Bescheid der Beklagten vom 2. April 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
Das Gericht verweist auf die zutreffenden Ausführungen im ausführlich begründeten Bescheid, folgt der Begründung und sieht insoweit von der Darstellung eigener Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Darüber hinaus gilt ergänzend folgendes:
4.1. Der Kläger hat bereits keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, da dem die Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 AufenthG entgegensteht. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG darf einem Ausländer, der ausgewiesen wurde, selbst im Falle eines Anspruchs nach dem AufenthG kein Aufenthaltstitel erteilt werden.
Die Ausweisung des Klägers ist noch nicht bestandskräftig oder vollziehbar, weil die dagegen gerichtete Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 80 Abs. 1 VwGO). Sie ist aber trotz der gegen sie gerichteten Anfechtungsklage wirksam (§ 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Dies genügt für die Auslösung der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG (vgl. BVerfG, B. v. 29.3.2007 – 2 BvR 1977/06 – juris Rn. 26). Im Übrigen ist die Ausweisung rechtlich nicht zu beanstanden (s.o.).
4.2. Unabhängig davon hat der Kläger keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zweck des Familiennachzugs, da bereits die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht erfüllt sind.
Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zum Zweck des Familiennachzugs als Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge scheitert bereits daran, dass der Kläger die Personensorge nicht innehat. Mit Beschluss vom 9. März 2020 entzog das Amtsgericht München – Familiengericht – dem Kläger das Sorgerecht hinsichtlich seines Sohnes und übertrug dieses der Mutter (Az.: … 19).
Eine Ausnahme vom Erfordernis der Personensorge gemäß § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG kommt ebenfalls nicht in Betracht, da der Kläger nicht mit seinem Sohn in häuslicher Gemeinschaft lebt. Abgesehen davon ist eine Ermessensreduzierung auf Null nicht ersichtlich.
4.3. Ferner sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht erfüllt, da mehrere Ausweisungsinteressen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. §§ 54 Abs. 1 Nr, 1, Nr. 1a. b.), Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 9 AufenthG bestehen.
Von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist auch nicht wegen eines Ausnahmefalls abzusehen.
Die Klage war somit insgesamt abzuweisen.
II.
Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO).
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 704 ff., 708 Nr. 11 ZPO.


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