Verwaltungsrecht

Unbegründete Klage eines marokkanischen Staatsangehörigen gegen Ausweisung wegen Sexualstraftaten

Aktenzeichen  M 25 K 18.5783

Datum:
6.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 28962
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11, § 53, § 54, § 55
GG Art. 6
EMRK Art. 8
ENA Art. 3
Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko Art. 64

 

Leitsatz

1. Die im Rahmen einer Ausweisung anzustellende Prognose bezüglich der Wiederholungsgefahr beinhaltet, dass nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts die Eintrittswahrscheinlichkeit der Gefahr und das (mögliche) Schadensausmaß in Beziehung zu setzen sind. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, auch wenn dies nicht bedeutet, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (BVerwGE 144, 230 = BeckRS 2012, 59367). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Generalpräventive Erwägungen können dann ein Ausweisungsinteresse begründen (vgl. BVerwG 162, 349 = BeckRS 2018, 18382), wenn der Ausländer vor dem Hintergrund eines einschlägigen Delikts hohe Rechtsgüter wie die sexuelle Selbstbestimmung der Frau oder den Schutz von Minderjährigen gefährdet. Die Ausweisung zeigt in diesem Fall auf, dass derartige Delikte in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur strafrechtliche Konsequenzen haben, sondern auch ausländerrechtliche (vgl. VG München BeckRS 2019, 7044). (Rn. 25) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Berührt die Ausweisung die familiären Beziehungen des Betroffenen zu seiner Ehefrau, gilt es zu berücksichtigen, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 GG kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt ergibt (BVerfG BeckRS 2009, 30698), sondern dass Art. 6 Abs. 1 die Behörden lediglich verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu beachten (BVerfG BeckRS 2009, 30698). (Rn. 30) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Aus dem Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko und insb. dessen Art. 64 ergeben sich grundsätzlich keine aufenthaltsrechtlichen Ansprüche für marokkanische Arbeitnehmer (BVerwGE 118, 249 = BeckRS 2003, 24363). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht auch dann nicht, wenn die Ausweisung des Betroffenen dem Schutz eines berechtigten Interesse des Staates – der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – dient (BVerwGE 135, 334 = BeckRS 2010, 47963). (Rn. 43) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG bedarf es der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das einer zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Bei einer (auch) aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung kommt es darauf an, wie lange von dieser Ausweisung eine abschreckende Wirkung  auf andere Ausländer ausgeht (VGH München BeckRS 2017, 105415). (Rn. 45) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Die sieben bzw. neunjährige Wiedereinreisesperre ist ebenfalls rechtmäßig ergangen.
I.
Die Ausweisung des Klägers erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (Vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris, Rn. 12) als rechtmäßig.
1. Rechtsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG, wonach ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen wird, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen am weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
a) Der weitere Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet stellt eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG dar, da mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass der Kläger erneut erheblich straffällig wird (vgl. zum Prognosemaßstab BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris).
Bei der anzustellenden Prognose bezüglich einer Wiederholungsgefahr ist zu beachten, dass jede sicherheitsrechtliche Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch wenn dies nicht bedeutet, dass bei hochrangigen Rechtsgütern bereits jede auch nur entfernte Möglichkeit eine Wiederholungsgefahr begründet (vgl. BVerwG, U. v. 4.10.2012 – 1 C 13/11 – juris, Rn. 18).
Der Kläger wurde unter anderem wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Vergewaltigung verurteilt. Die Straftaten des Klägers stellen Verstöße gegen hochrangige Rechtsgüter dar, die nicht nur die sexuelle Selbstbestimmung der Opfer betreffen sondern auch ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BayVGH B. v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris, Rn. 11). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die Opfer des Klägers Kinder und Jugendliche waren, die besonders schützenswert und auf Grund ihrer sexuellen Unreife verletzlich sind. Alle drei Opfer litten zum Zeitpunkt der strafrechtlichen Verurteilung des Klägers – über 1,5 Jahre nach den Taten – laut den Feststellungen des Landgerichts erheblich psychisch unter den Taten. Bei zwei Geschädigten zeigte sich dies insbesondere im Ritzen. Die dritte Geschädigte befand sich weiterhin in psychischer Behandlung.
Neben dem gefährdeten hohen Rechtsgut und den besonders schützenswerten potentiellen Opfern, besteht auch eine Wiederholungsgefahr. Das Gericht verkennt nicht, dass der psychiatrische Gutachter im Strafverfahren zu dem Ergebnis gelangt ist, dass keine hangbedingte Gefährlichkeit (i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB) besteht und dass sich aus den durchgeführten Tests keine Anhaltspunkte für eine sexuelle Devianz ergeben hatten. Dennoch stellte der Gutachter fest, dass der Kläger im Laufe der Zeit ein sexuelles Interesse für präpubertäre Mädchen – wenn auch nicht ausschließlich – entwickelt habe. Der Kläger hat bisher keine Therapie für Sexualstraftäter erfolgreich abgeschlossen. Zwar führt er seit Mitte Oktober 2019 Gespräche mit externen Therapeuten, allerdings kann durch diese seit Kurzem geführten Gespräche nicht von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden.
Ebenso wenig verkennt die Kammer, dass der Kläger Ersttäter war und den Großteil seines Lebens straffrei in Deutschland verbracht hat. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass der Kläger nicht für eine singuläre Tat verurteilt wurde, sondern für Taten, die sich über mehrere Monate hinzogen und die drei verschiedene Geschädigte und unterschiedliche Begehungsformen betrafen.
Insgesamt besteht weiterhin eine beachtliche (Wiederholungs-)Gefahr für hochrangige Schutzgüter.
Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Denn eine Ausweisung vor dem Hintergrund eines Deliktes gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen setzt ein deutliches Signal, dass die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und der Schutz von Minderjährigen in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland hohe Rechtsgüter darstellen und derartige Delikte nicht nur strafrechtliche Konsequenzen haben, sondern auch ausländerrechtliche (vgl. VG München, U. v. 13.3.2019 – M 25 K 18.2515 – juris, Rn. 30). Allein diese generalpräventiven Gründe begründen ein Ausweisungsinteresse (BVerwG U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris, Rn. 16).
b) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Interessen ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt und die Ausweisung nicht unverhältnismäßig ist, § 53 Abs. 1 AufenthG.
aa) Aufgrund der Verurteilung des Klägers vom 23. Februar 2018 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor.
Dem steht auf Seiten des Klägers ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und er sich seit 1973 rechtmäßig in Deutschland aufgehalten hat.
bb) Unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten persönlichen Belange des Klägers und der Positionen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK überwiegt jedoch das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers. Die Entscheidung wahrt im Übrigen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Die Ausweisung des Klägers berührt seine familiären Beziehungen im Bundesgebiet zu seiner Ehefrau. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 GG kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt ergibt (vgl. BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn 14), sondern dass Art. 6. Abs. 1 GG die Behörden verpflichtet, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn 14).
Die Ehefrau des Klägers ist, aufgrund ihrer sehr begrenzten Deutschkenntnisse und da sie nicht Lesen und Schreiben kann, auf gelegentliche Unterstützung angewiesen. Diese Unterstützung übernahm, bis zu seiner Inhaftierung, der Kläger. Seit der Inhaftierung des Klägers wird diese Unterstützung durch Bekannte der Familie übernommen. Auch wenn es von dem Kläger und seiner Ehefrau gewünscht ist, dass der Kläger sich nach seiner Inhaftierung wieder um seine Ehefrau sorgt, hat die Zeit seit November 2016 gezeigt, dass die notwendige Unterstützung auch durch andere Personen vorgenommen werden kann und eine Anwesenheit des Klägers in Deutschland nicht zwingendermaßen erfordern.
Grundsätzlich wäre es der Ehefrau, die ebenfalls die marokkanische Staatsangehörigkeit besitzt, auch möglich, mit dem Kläger nach Marokko zurückzukehren. Während sie dieses in dem Verwaltungsverfahren noch angekündigt hat (Schreiben vom 4.6.2018 – Blatt 174 der Behördenakte), hat sie in der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck gebracht, dass sie in Deutschland bleiben will. Dies ist jedoch für das Gericht nicht glaubhaft. Unterstellt die Ehefrau des Klägers würde in Deutschland bleiben, erscheint es auch möglich, dass der Kläger und seine Ehefrau ihre Ehe auf Entfernung führen, zumindest für die Zeit der Wiedereinreisesperre. Der Kläger hat bis zu seiner Inhaftierung regelmäßig mit seinen Kindern in Marokko telefoniert, weswegen es durchaus möglich und zumutbar erscheint, dass die Ehepartner den Kontakt telefonisch aufrechterhalten. Ebenso haben der Kläger und seine Ehefrau jedes Jahr mindestens vier Wochen in Marokko verbracht. Zusammen mit der Möglichkeit von Betretenserlaubnissen für den Kläger nach § 11 Abs. 8 AufenthG erscheinen gegenseitige Besuche in Deutschland und Marokko möglich.
Weitere familiäre Beziehungen im Bundesgebiet wurden nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich. Die Kinder des Klägers leben, jeweils mit ihren Familien, in Marokko und den USA und die Geschwister des Klägers und die seiner Ehefrau leben in Marokko und Frankreich.
Dementsprechend ist die Ausweisung des Klägers trotz der bestehenden Ehe gleichwohl mit Art. 6 GG vereinbar. Dem Kläger und seiner Ehefrau ist es zumutbar ihre Ehe entweder in Marokko oder für eine begrenzte Zeit auf Entfernung zu führen.
Auch unter Berücksichtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens i.S.d. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist die Ausweisungsentscheidung nicht unverhältnismäßig. Das von Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privatlebens ist als Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu verstehen, die für das Leben eines Menschen in der Gesellschaft konstitutiv sind und denen – angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit des Menschen – bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerwG, U.v. 22.5.2012 – 1 C 6/11 – juris).
Zwar ist der Schutzbereich auf Grund des langjährigen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet eröffnet, jedoch ist der durch die Ausweisung erfolgende Eingriff verhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Danach darf eine Behörde in die Ausübung des in Art. 8 Abs. 1 gewährleisteten Rechts eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten notwendig ist. Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten Boultif-Üner Kriterien (EGMR, U.v. 2.8.2001 – 54273/00, Boultif; U.v. 5.7.2005 (Große Kammer) – 46410/99, Üner) erweist sich die Ausweisung des Klägers als verhältnismäßig.
Der Kläger lebte bis zu seiner Inhaftierung 43 Jahre in Deutschland, spricht Deutsch und hat fast durchgängig in Deutschland gearbeitet. Dementsprechend kann von einer Integration in Deutschland ausgegangen werden. Allerdings beging der Kläger schwere Sexualstraftaten und es besteht weiterhin eine Wiederholungsgefahr. Eine Therapie hat der Kläger noch nicht erfolgreich beendet.
Der Kläger hat nicht vorgetragen – noch ist es ersichtlich – dass er enge bzw. besonders schützenswerte Beziehungen zu anderen Personen als seiner Ehefrau in Deutschland hat.
Bezüglich der Beziehungen zu seiner Ehefrau und dem Recht auf Achtung des Familienlebens unter Art. 8 Abs. 1 EMRK kann auf die Ausführungen zur Vereinbarkeit der Ausweisung mit Art. 6 GG verwiesen werden (s.o.).
Eine Rückkehr nach Marokko ist dem Kläger auch möglich und zumutbar. Er ist dort aufgewachsen, seine Kinder sind dort aufgewachsen und er hat über die Jahre hinweg engen Kontakt zu seinem Heimatland gepflegt durch regelmäßige Telefonate und jährliche Aufenthalte. Er spricht Arabisch und ist weiterhin mit der Kultur vertraut. Der Großteil seiner Familie (Kinder, Geschwister und Geschwister seiner Frau) wohnt in Casablanca, seinem Heimatort in Marokko.
Insofern der Kläger vorgetragen hat, dass er von seiner Familie in Marokko auf Grund seiner Straftaten ausgestoßen werden würde und sozial isoliert wäre, kann dem nicht gefolgt werden. Erstens ist zu berücksichtigen, dass die Familie des Klägers in Marokko bisher keine Kenntnisse über die wahren Gründe für seine Inhaftierung hat. Es ist nicht ersichtlich warum oder wie sich der Wissensstand der Familie durch eine Ausweisung/Abschiebung ändern sollte. Zweitens würde eine mögliche Isolierung nicht auf der Ausweisung basieren, sondern auf den Straftaten für die der Kläger rechtskräftig verurteilt wurde. Drittens, und unterstellt der Kläger würde von seiner Familie ausgestoßen, erscheint es möglich, dass der Kläger auch ohne familiäre Unterstützung in Marokko lebt. Er spricht die Sprache, ist mit der marokkanischen Kultur und dem Leben in Marokko vertraut und bezieht eine monatliche Rente in Höhe von 880 EUR.
Unter Berücksichtigung sämtlicher beim Kläger zu beachtender Belange, insbesondere jedoch der Schwere der vom Kläger begangenen Taten, der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr und den hochrangigen Schutzgütern, die gefährdet sind, fällt die nach § 53 Abs. 1, 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und der Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und der Verhinderung von Straftaten dient. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig.
2. Der Ausweisung steht auch nicht der verstärkte Schutz des Art. 3 Europäisches Niederlassungsabkommen entgegen, da Marokko kein Unterzeichnerstaat des Abkommens ist. Auch aus dem Europa-Mittelmeer-Abkommen/Marokko und insbesondere dessen Art. 64 ergeben sich grundsätzlich keine aufenthaltsrechtliche Ansprüche für marokkanische Arbeitnehmer (BVerwG, U.v. 1.7.2003 – 1 C 18/02 -juris; EuGH, U.v. 2.3.1999 – C-416/96 El-Yassini – juris; U.v. 14.12.2006 – C-97/05 Gattousi – juris). Eine Ausnahme zu diesem Grundsatz liegt im vorliegenden Fall nicht vor, da die Ausweisung des Klägers dem Schutz eines berechtigten Interesses des Staates – der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (s.o.) – dient (BVerwG, U.v. 8.12.2009 – 1 C 16/08 – juris).
3. Auch das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1, 3, 5 AufenthG) begegnet keinen Bedenken. Dass nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG n.F. ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, macht den Bescheid vom 30. Oktober 2018 nicht fehlerhaft, denn nach der obergerichtlichen Rechtsprechung zur früheren Rechtslage war in einer behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer zu sehen (BayVGH, B.v. 11.9.19 – 10 C 18.1821 – Rn. 13; BVerwG, B.v. 13.7.2017 – 1 VR 3.17 – juris Rn. 72; BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 13.17 – juris Rn. 23). Die Beklagte hat vorliegend das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben bzw. neun Jahren befristet.
Diese Dauer ist rechtmäßig und nicht zu beanstanden. Hinsichtlich der Dauer der Sperrfrist gemäß § 11 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG bedarf es der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen – das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt – das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Bei einer (auch) aus generalpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung kommt es darauf an, wie lange von dieser Ausweisung eine abschreckende Wirkung auf andere Ausländer ausgeht (BayVGH, B.v. 14.3.2017 – 10 C 17.2660 – Rn. 4). In diesem Rahmen sind auch verfassungsrechtliche Wertentscheidungen (Art. 6 GG) sowie die Vorgaben aus Art. 8 EMRK zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20/11 – juris).
Ausgehend von der bestehenden Gefahr weiterer Straftaten durch den Kläger (s.o.) erscheint auch unter Berücksichtigung der persönlichen und familiären Bindungen des Klägers zum Bundesgebiet eine Frist von sieben bzw. neun Jahren nicht unverhältnismäßig, sondern erforderlich, um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Begehung weiterer schwerer Straftaten zu begegnen. Auch hierbei ist die besondere Schutzwürdigkeit der sexuellen Selbstbestimmung und von Minderjährigen zu beachten und das erhebliche Interesse daran zu berücksichtigen, Ausländern vor Augen zu führen, dass Straftaten gegen hochrangige Schutzgüter neben den strafrechtlichen Sanktionen auch erhebliche aufenthaltsrechtliche Konsequenzen haben.
4. Keinen Bedenken begegnet die Abschiebungsandrohung nach §§ 59, 58 AufenthG. Soweit die Abschiebung aus der Haft angekündigt wurde (Ziffer 3 des Bescheides), erfüllt dies die Voraussetzungen von §§ 58 Abs. 3 Nr. 1, 59 Abs. 5 AufenthG.
Die für den Fall einer Abschiebung nach Haftentlassung festgesetzte Ausreisefrist von vier Wochen ist angemessen (Ziffer 3 des Bescheides). § 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG sieht als Mindestfrist sieben Tage vor. Angesichts des Umstandes, dass der Kläger kein Arbeitsverhältnis kündigen und auch sonst keinen größeren organisatorischen Aufwand zur Abwicklung seiner hiesigen Lebensverhältnisse ergreifen muss, erscheint eine Ausreisefrist von vier Wochen angebracht.
II.
Die Klage ist nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 ZPO.


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