Verwaltungsrecht

Unzulässiger Asylantrag mangels Zuständigkeit

Aktenzeichen  M 1 S 16.50004

Datum:
7.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 27a, § 34a
VO (EU) 604/2013 Art. 13, Art. 22 Abs. 3

 

Leitsatz

Systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien liegen nicht vor. Trotz teilweise langer Dauer der Bearbeitung von Asylanträgen, sind die Mängel des italienischen Aufnahme- und Versorgungssystems doch nicht derart flächendeckend und gravierend, dass Asylsuchende mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu rechnen hätten (Fortführung von VG Ansbach BeckRS 2016, 40098). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge nigerianischer Staatsangehöriger und reiste am 24. Juni 2015 in das Bundesgebiet ein. Er beantragte hier am 8. September 2015 seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Bei seiner Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 8. September 2015 gab er an, sich vor seiner Einreise in das Bundesgebiet seit dem 1. Juni 2015 für drei Wochen in Italien aufgehalten zu haben. Das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 31. Oktober 2015 gemäß Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) wurde durch die italienischen Behörden nicht beantwortet.
Mit Bescheid vom 9. Januar 2016 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und die Abschiebung nach Italien angeordnet (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylG unzulässig, weil Italien aufgrund der illegalen Einreise gemäß Art. 22 Abs. 7 i. V. m. Art 13 Abs. 1 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG.
Am … Januar 2016 erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Bundesamts vom 9. Januar 2016 (M 1 K 15.50003) und beantragte dessen Aufhebung. Am selben Tag hat er beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 15. Januar 2016 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der gemäß § 34a Abs. 2 S. 1 Asylgesetz (AsylG) i. V. m. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässige Antrag ist unbegründet, denn die Hauptsacheklage hat keine Aussicht auf Erfolg.
Der Bescheid der Beklagten vom 9. Januar 2016 erweist sich als rechtmäßig.
Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
1. Die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens als Mitgliedstaat, in den der Antragsteller illegal eingereist ist, ergibt sich aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art. 22 Abs. 3 Dublin-III-VO. Aufgrund der fehlenden fristgerechten Reaktion Italiens auf das Übernahmeersuchen vom 31. Oktober 2015 ist nach Art. 22 Abs. 7 Dublin-III-VO davon auszugehen, dass Italien dem Aufnahmegesuch stattgeben wird.
Zwar endet gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO die Zuständigkeit des Mitgliedstaats dessen Grenze illegal überschritten wurde zwölf Monate nach dem illegalen Grenzübertritt. Jedoch erlischt die Zuständigkeit des Mitgliedstaats der illegalen Einreise wegen der Regelung in Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO nur dann, wenn die Asylantragstellung erst mindestens zwölf Monate nach der Einreise in den anderen Mitgliedstaat erfolgt ist. Nachdem der Antragsteller die italienische Grenze am 1. Juni 2015 illegal übertreten und bereits nach gut drei Monaten, am 8. September 2015, in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, greift Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO nicht ein. Die Zuständigkeit Italiens ist nicht nach dieser Vorschrift erloschen und besteht daher zu dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fort (vgl. auch Filzwieser/Sprung, Dublin-III-VO, Stand 1.2.2014, Anmerkung K13 zu Art. 13).
2. Die Abschiebung nach Italien kann gemäß § 34a Abs. 1 AsylG auch durchgeführt werden. Es liegen keine Gründe i. S. d. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO vor, die der Überstellung des Antragstellers nach Italien entgegenstünden.
Nach dem Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) und dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtscharta, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der EMRK steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Den nationalen Gerichten obliegt vielmehr die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta implizieren (EuGH v. 21.12.2011 a. a. O. Rn. 86). Dabei ist die Vermutung nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. Vielmehr ist von systemischen Mängeln nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris; B.v. 6.6.2014 – 10 B 35.14 – juris).
Gemessen an diesem Maßstab und übereinstimmend mit der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris) stehen der Rückführung des Antragstellers nach Italien derzeit keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegen. Auch wenn es vorkommen mag, dass das Asylverfahren in Italien zum Teil lange dauert und Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags auf sich alleine gestellt und zum Teil obdachlos sind, sind die Mängel des italienischen Aufnahme- und Versorgungssystems doch nicht derart flächendeckend und gravierend, dass von einem grundlegenden, systemischen Versagen Italiens in dem Sinne ausgegangen werden müsste, dass Asylsuchende mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta zu rechnen hätten (vgl. auch VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316 – juris Rn. 22 ff. m. w. N.; VG Hannover, U.v. 7.12.2015 – 13 A 3503/15 – juris; VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 43 ff.; OVG NRW, U.v. 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris). Der teilweise hiervon abweichenden Rechtsprechung (vgl. etwa VG Düsseldorf, U.v. 15.12.2015 – 12 K 7303/15.A – juris Rn. 33) folgt das entscheidende Gericht nicht.
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte betreffend die Abschiebung einer Familie mit minderjährigen Kindern nach Italien (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Nr. 29217/12 Tarakhel – NVwZ 2015, 127) ergibt sich nichts anderes. Hiernach ist sorgfältig und auf die Person des Betroffenen ausgerichtet zu prüfen, ob aufgrund der allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der besonderen Lage des Betroffenen nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass er im Fall der Überstellung nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die Überstellung ist auszusetzen, wenn die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nachgewiesen ist (EGMR, U.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 104 f.). Der EGMR geht davon aus, dass aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des Auswärtigen Amtes ernstliche Zweifel an der jetzigen Kapazität des italienischen Systems bestünden. Danach könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft finde oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht werde. Jedoch verhinderten Struktur und allgemeine Lage der Aufnahme in Italien allein nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern in dieses Land (EGMR, Urt.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 115). Für den Fall der Abschiebung einer Familie mit minderjährigen Kindern fordert der EGMR die Abgabe einer Zusicherung durch die italienischen Behörden, um sicherzustellen, dass die Familieneinheit erhalten bleibt und die Asylbewerber in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder entsprechen (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014 a. a. O. Rn. 120; vgl. auch BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 1795/14 – juris).
Der EGMR stellt in seinem Urteil also nicht systemische Mängel im italienischen Asylverfahren fest. Vielmehr schränkt er die Abschiebung von Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien ein. Diese Entscheidung ist auf die persönliche Situation des Antragstellers übertragbar. Weder gehört er als Volljähriger zu dieser Personengruppe noch kann er sich auf die zu bewahrende Familieneinheit berufen noch ergibt sich aus anderen Gründen seine besondere Schutzbedürftigkeit. Daher darf er auch ohne behördliche Zusicherung nach Italien abgeschoben werden.
Darüber hinaus sind außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts verpflichten würden, nicht ersichtlich.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80b AsylG).


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