Verwaltungsrecht

Verlustfeststellung, Verurteilungen wegen Diebstählen, Grundinteresse der Gesellschaft, Gefahrenprognose, Verstoß gegen rechtliches Gehör, (angeblich verspätete) Entscheidung über Prozesskostenhilfeantrag

Aktenzeichen  10 ZB 22.440

Datum:
27.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 10616
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, 5
FreizügG/EU § 6 Abs. 2, 3

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 10 K 19.5956 2021-09-16 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 4. November 2019 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für vier Jahre untersagt und die Abschiebung aus der Haft angeordnet bzw. ihm unter Bestimmung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Polen angedroht wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine zur Zulassung der Berufung führenden Gründe gemäß § 124 Abs. 2 VwGO.
Die Klägerseite trägt ohne ausdrückliche Benennung eines in § 124 Abs. 2 VwGO aufgeführten Zulassungsgrundes im Wesentlichen vor, die Berufung sei schon deshalb zuzulassen, da ihm nicht rechtzeitig Prozesskostenhilfe gewährt und damit die gebotene anwaltliche Vertretung vorenthalten worden sei. Er habe mit Schreiben vom 26. August 2021 Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung seines Bevollmächtigten beantragt. Es sei davon auszugehen, dass das Verwaltungsgericht mehr als zwei Wochen Zeit gehabt hätte, über diesen Antrag zu entscheiden oder den Termin zur mündlichen Verhandlung zu verlegen. Das Gericht habe jedoch über den Antrag erst in der mündlichen Verhandlung am 16. September 2021 entschieden, eine Ladung des Bevollmächtigten oder dessen Information aber unterlassen. Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts dürfe nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU nur erfolgen, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Dies sei bei der Kleinkriminalität des Klägers und Verurteilungen wegen kleinerer szenetypischer Delikte wie Diebstähle, mit denen er seinen Lebensunterhalt bzw. Alkoholkonsum finanziert habe, nicht gegeben. Der Kläger sei nunmehr erstmalig für einen längeren Zeitraum in Haft und habe die feste Absicht, künftig abstinent zu bleiben und in seinem Heimatland Polen eine Therapie zu absolvieren. Die Verlustfeststellung sei auch eine erhebliche Erschwerung der Arbeitsaufnahme in den Nachbarländern der Bundesrepublik Deutschland wie beispielsweise Holland, Belgien und Frankreich.
Damit wird vom Kläger aber weder ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts durchgreifend infrage gestellt. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zu Recht angenommen, dass die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt durch die Beklagte rechtmäßig ist (1.). Auch ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör des Klägers durch rechtswidrige Vorenthaltung der Prozesskostenhilfe und der Möglichkeit anwaltlicher Vertretung liegt nicht vor (2.).
1. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die den zahlreichen Straftaten des Klägers zu Grunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Es hat dabei zutreffend darauf abgestellt, dass der Kläger nach seiner Einreise in das Bundesgebiet im Jahr 2018 bis heute mit hoher Rückfallgeschwindigkeit eine erhebliche Anzahl an Straftaten, insbesondere Eigentumsdelikte, darunter Diebstahl in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung bzw. Hausfriedensbruch, begangen habe; weder Verurteilungen zu Geld- bzw. Bewährungsstrafen noch Strafhaft oder die streitgegenständliche Verlustfeststellung hätten ihn von der Begehung weiterer derartiger Delikte abgehalten. Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich dabei nicht nur, wie er bagatellisierend meint, um bloße „Kleinkriminalität“, die als Basis einer Verlustfeststellung ausscheidet. Vielmehr handelt es sich bei den zahlreichen Diebstählen, die er begangen hat, um sich eine laufende Einnahmequelle zur Finanzierung seines Lebensunterhalts und seiner Alkoholsucht zu sichern, um ein die Gesellschaft und insbesondere das verfassungsrechtliche Schutzgut Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) schädigendes Verhalten. Ein Grundinteresse der Gesellschaft ist nicht, wie der Kläger suggeriert, erst bei Gewalttaten oder anderen vergleichbar schweren Straftaten berührt (stRspr des Senats, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 12.11.2019 – 10 ZB 18.2467 – juris Rn. 7; B.v. 7.10.2019 – 10 ZB 19.1744 – juris Rn. 8; B.v. 5.8.2019 – 10 ZB 18.1174 – juris Rn. 7 f. jew. m.w.N.). Zudem hat das Verwaltungsgericht zu Recht berücksichtigt, dass der Kläger sich im Zusammenhang mit der Begehung derartiger Vermögensdelikte bereits gewalttätig gezeigt hat und daher die konkrete Gefahr besteht, dass er erneut gewalttätig wird.
Die Prognose des Verwaltungsgerichts, dass vom Kläger gegenwärtig eine hinreichend schwere Gefahr der Begehung weiterer derartiger Straftaten ausgehe, wird nicht durch den Hinweis des Klägers auf seine „feste Absicht, abstinent zu bleiben“ und den Wunsch, eine (weitere) Suchttherapie in Polen zu absolvieren, erschüttert. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht zu Recht auf nach Angaben des Klägers bisher ohne (anhaltenden) Erfolg absolvierte Therapien und seine ungelöste Alkoholsucht verwiesen (vgl. auch BayVGH, B.v. 12.11.2019 – 10 ZB 18.2467 – juris Rn. 8).
Schließlich ist die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass die Verlustfeststellung auch unter Würdigung der in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU genannten Belange ermessensfehlerfrei erfolgt ist, rechtlich nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat die in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte gewürdigt und zutreffend entscheidend darauf abgestellt, dass der Kläger weder besonders schützenswerte soziale, familiäre oder wirtschaftliche Bindungen im Bundesgebiet habe noch die Rückkehr nach Polen und dortige Reintegration für ihn unzumutbar seien.
2. Auch ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör durch rechtswidrige Vorenthaltung der Prozesskostenhilfe und der Möglichkeit anwaltlicher Vertretung im erstinstanzlichen Klageverfahren liegt nicht vor.
Zum einen ist diesbezüglich festzustellen, dass der Prozesskostenhilfeantrag des Klägers für das Klageverfahren (Schreiben vom 26. August 2021) ausweislich des Eingangsstempels erst am 15. September 2021 und damit einen Tag vor der bereits terminierten mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht München eingegangen ist und von einer „verspäteten“ Entscheidung des Gerichts über diesen Antrag demgemäß keine Rede sein kann. Zum anderen hat das Verwaltungsgericht dem Kläger mit dem in der Sitzung an 16. September 2021 gefassten Beschluss Prozesskostenhilfe für seine Klage (lediglich) bezüglich der in Nr. 3 Satz 2 des angegriffenen Bescheids vom 4. November 2019 bestimmten Ausreisefrist Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten bewilligt und den Antrag im Übrigen (mangels hinreichender Erfolgsaussichten) zu Recht abgelehnt. Deshalb kann das angefochtene Urteil auch nicht im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO auf diesem behaupteten Verfahrensmangel beruhen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren war abzulehnen, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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