Verwaltungsrecht

Verlustfeststellung, Wiederholungsgefahr

Aktenzeichen  M 10 K 19.4620

Datum:
15.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 39926
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1
FreizügG/EU § 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Gründe

A. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 6. August 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
Ob der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung aufgrund seiner beruflichen Situation die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllte, kann offen bleiben, da das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts keine Voraussetzung für die Feststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist (vgl. VG München, U.v. 13.2.2020 – M 10 K 18.6271 – BeckRS 2020, 7932 Rn. 47 ff. m.w.N.). Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU mit der Folge der erhöhten Anforderungen an die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU hat der Kläger, der sich aktuell seit dem Jahr 2017 und damit noch keine fünf Jahre in der Bundesrepublik aufhält, nicht erworben.
II. Die Beklagte hat den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
1. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde lagen, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 – EuZW 2004, 402).
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, Entscheidung v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei dem Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Körperverletzungsdelikte gegeben.
Der Kläger hat noch im Jahr seiner Wiedereinreise in die Bundesrepublik Deutschland im April 2017 mit hoher Rückfallgeschwindigkeit zwei einschlägige nicht unerhebliche Körperverletzungsdelikte begangen. Zwischen den beiden Delikten vom 15. Mai 2017 und 26. Dezember 2017 liegt ein Zeitraum von nur knapp 8 Monaten. Die Tat vom 26. Dezember 2017 erfolgte dabei nur gut zwei Monate nach der Verurteilung vom 24. Oktober 2017 und dem Ende der Untersuchungshaft sowie unter offener Bewährung. Zudem zeugen die Verurteilungen vom 11. Mai 2015 und 18. November 2015 sowie die Verurteilung wegen Vergewaltigung durch ein litauisches Gericht von einer fehlenden Akzeptanz der Rechtsordnung. Weder die zweimalige Verurteilung des Klägers zu Geldstrafen noch die in Litauen verbüßte Haftstrafe haben den Kläger von der Begehung der beiden Körperverletzungsdelikte abgehalten. Zwar ist zugunsten des Klägers zu werten, dass die letzte abgeurteilte Tat nach Aktenlage bereits am 26. Dezember 2017 begangen wurde. Allerdings ist insoweit zu berücksichtigen, dass dem Kläger zunächst aufgrund der letzten Tat ein Widerruf der Aussetzung der mit Urteil vom 24. Oktober 2017 verhängten Strafe sowie eine erneute Verurteilung aufgrund der Tat vom 26. Dezember 2017 drohte, er sich später im Berufungsverfahren gegen das Urteil vom 21. Juni 2018 befand und schließlich seit 21. August 2019 inhaftiert war. Damit bestanden seit der letzten Tat durchweg erhebliche Gründe, die den Kläger von weiteren Taten abhalten konnten.
Zudem wurde im vorliegenden Verfahren von Seiten des Klägers mehrmals besonders hervorgehoben, dass seine frühere Verlobte einen positiven Einfluss auf ihn gehabt habe. Auch wenn der Kläger angab, weiterhin Kontakt zu dieser zu haben, ist dennoch festzuhalten, dass ein aus Sicht des Klägers zuvor wesentlicher Faktor für seine Straffreiheit nach der Trennung von seiner Verlobten aktuell nicht mehr besteht und auch deshalb ein Rückfall in alte Verhaltensmuster droht.
Zu Lasten des Klägers ist auch zu berücksichtigen, dass sowohl die Tat vom 15. Mai 2017 als auch die Tat vom 26. Dezember 2017 unter nicht unerheblichem Alkoholeinfluss begangen wurden. Auch wenn in den ergangenen Strafurteilen keine Alkoholabhängigkeit festgestellt wurde, liegt hierin ein Aspekt, der sich im Rahmen der Prognose negativ auswirkt. Es ist davon auszugehen, dass sich das Risiko für erneute Körperverletzungsdelikte unter Alkoholeinfluss erhöhen wird. In seiner Stellungnahme an die Beklagte vom 26. Juli 2019 sowie in der Klagebegründung mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2019 begründete der Kläger seine Straffälligkeit selbst unter anderem mit seinem früheren unkontrollierten Alkoholgenuss. Auch in der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 17. März 2021 wurde von einer Suchtmittelerkrankung des Klägers ausgegangen. Damit ist auch ohne eine ärztliche oder strafgerichtliche Feststellung einer Alkoholabhängigkeit festzuhalten, dass Alkoholkonsum und die dadurch bedingte Enthemmung jedenfalls mitursächlich für die begangenen Straftaten waren.
Zwar hat der Kläger nach seinen eigenen Angaben sowie den Angaben seiner früheren Verlobten nach den Taten eigenständig von weiterem Alkoholkonsum Abstand genommen. Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, dass die Beziehung des Klägers zu seiner Verlobten, die für seine positive Entwicklung maßgeblich war, nicht mehr besteht. Professionelle Hilfe zur Ausräumung der Alkoholproblematik hat der Kläger nicht in Anspruch genommen. Dass der Kläger ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 17. März 2021 bei sich weder eine Abhängigkeitssymptomatik noch die Notwendigkeit einer therapeutischen Maßnahme gesehen habe und ein Gesprächsangebot der externen Suchtmittelberatung verweigert habe, spricht dafür, dass dem Kläger die Bedeutung und der Einfluss von Alkohol für sein zurückliegendes Verhalten nicht ausreichend bewusst sind, er daher auch in Zukunft nicht auf weiteren ggf. übermäßigen Konsum verzichten wird und hierin ein erheblicher Risikofaktor für die Begehung erneuter Körperverletzungsdelikte zu sehen ist.
Positiv zu werten ist im Rahmen der Prognose die Teilnahme des Klägers an einer Anti-Gewalt-Trainingsmaßnahme in der Justizvollzugsanstalt, die für einen Willen des Klägers zur Veränderung spricht. Nachgewiesen wurde insoweit jedoch lediglich die Teilnahme an dem genannten Training. Ob es dem Kläger tatsächlich gelungen ist, sein eigenes Verhalten zu ändern, ergibt sich aus der bloßen Teilnahme noch nicht. Zudem ist nicht ersichtlich, dass im Rahmen der Trainingsmaßnahme gezielt auf die beim Kläger bestehende Gefahr von Gewalt in Folge des Genusses von Alkohol eingegangen worden wäre.
Darüber hinaus hatte der Kläger keine Gelegenheit, die vorgetragenen Verhaltensänderungen außerhalb der Justizvollzugsanstalt unter Beweis zu stellen. Die Kammer ist damit weder zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger nach seiner Entlassung keinen bzw. keine größeren Mengen Alkohol mehr zu sich nehmen wird, noch dazu, dass der Kläger im Falle des Alkoholkonsums der daraus folgenden Enthemmung hinsichtlich der Begehung von Körperverletzungsdelikten erfolgreich entgegentreten können wird. Auch unter Berücksichtigung der reduzierten Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit von weiteren Taten aufgrund des äußerst hohen Stellenwerts des Schutzgutes der körperlichen Unversehrtheit ist damit weiterhin von einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger auszugehen.
2. Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
Das öffentliche Interesse wiegt vorliegend schwer. Der Kläger hat mit hoher Rückfallgeschwindigkeit erhebliche Straftaten begangen; es besteht eine konkrete Wiederholungsgefahr.
Demgegenüber ist insbesondere keine besonders schützenswerte soziale, familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet festzustellen. Der Kläger befindet sich nach einem etwa halbjährigen Voraufenthalt zwischen 2014 und 2015 erst seit dem Jahr 2017 im Bundesgebiet. Davor lebte er in Litauen, wo er auch geboren ist. Er hat hier weder eine eigene Kernfamilie noch Verwandte. Auch wenn er nach eigenen Angaben noch Kontakt zu seiner früheren Verlobten und deren Familie hat, liegen hierin aufgrund der nicht erfolgten Heirat keine familiären Beziehungen. Zudem dürften diese Beziehungen nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund der erfolgten Trennung und mehrjährigen Inhaftierung des Klägers an Intensität verloren haben. Die wirtschaftliche Integration des Klägers vor seiner Inhaftierung ist aufgrund der fehlenden Aufträge für seine selbständige Tätigkeit als nicht besonders gut zu bewerten. Auch wenn der Kläger angegeben hat, nach seiner Entlassung jederzeit wieder eine Stelle zu bekommen und hierfür auch das vorgelegte Schreiben der Firma … spricht, ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner mehrjährigen Berufserfahrung auch nach seiner Rückkehr nach Litauen eine ausreichende Beschäftigung finden wird.
Auch im Übrigen sind keine Umstände erkennbar, weshalb dem Kläger eine Reintegration in Litauen, wo er aufgewachsen ist und lange gelebt hat, nicht gelingen sollte. Der Kläger dürfte als erwachsener, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der Litauisch spricht und noch über familiäre Kontakte in Litauen verfügt, in der Lage sein, in Litauen ein ausreichendes Auskommen zu finden.
III. Auch die von der Beklagten in Nummer 2 des angegriffenen Bescheids auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer von vier Jahren ist insbesondere vor dem Hintergrund fehlender familiärer Bindungen des Klägers im Bundesgebiet rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU wäre grundsätzlich eine Frist von über fünf Jahren möglich gewesen, sodass die Beklagte den zulässigen Rahmen bei weitem nicht ausgeschöpft hat. Die von Seiten des Klägerbevollmächtigten angestrebte Reduzierung auf ein Jahr erweist sich aufgrund der bestehenden Wiederholungsgefahr als deutlich zu gering.
IV. Schließlich stellt sich auch Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids als rechtmäßig dar. Die festgesetzte Ausreisefrist von einem Monat ab Bestandskraft des Bescheids stützt sich auf § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU angedroht.
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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