Verwaltungsrecht

Verpflichtung zur vorläufigen Obdachlosenunterbringung

Aktenzeichen  4 CE 17.1663

Datum:
27.10.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BayVBl – 2018, 559
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayLStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Eine “unfreiwillige”, ein sicherheitsrechtliches Einschreiten erfordernde Obdachlosigkeit besteht nicht, wenn sich der Betroffene durch Inanspruchnahme anderweitiger Hilfsangebote oder durch Einsatz eigener Sach- oder Finanzmittel in zumutbarar Weise aus eigener Kraft geeigneten Wohnraum verschaffen kann (Fortführung von BayVGH BeckRS 2017, 102450 Rn. 9) (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verletzung dieser Selbsthilfeobliegenheit liegt nicht schon beim Fehlen einer nachdrücklichen Wohnungssuche oder bei deren Beschränkung auf die bisherige Wohngemeinde, sondern erst dann vor, wenn von einer tatsächlich bestehenden Option der Unterbringung bzw. der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wurde. (Rn. 8 und 10) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Bewilligung auch von zur Finanzierung einer angemessenen Wohnung ausreichenden Grundsicherungsleistungen beseitigt nicht schon automatisch die sicherheitsrechtliche Unterbringungspflicht, solange  die Möglichkeit eines Mietvertragsabschlusses auf dem örtlichen Wohnungsmarkt nicht tatsächlich feststeht. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 22 E 17.3612 2017-08-09 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen eine im Eilverfahren ergangene Anordnung, mit der sie verpflichtet wurde, dem Antragsteller sowie dessen Ehefrau und Kindern vorläufig eine Obdachlosenunterkunft zuzuweisen.
Der Antragsteller musste die zusammen mit seinen Angehörigen bisher bewohnte Mietwohnung, die im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin gelegen war, aufgrund eines rechtskräftigen Räumungsurteils verlassen. Nachdem die Antragsgegnerin ihm im Vorfeld des Räumungstermins mitgeteilt hatte, dass er und seine Familie aus rechtlichen Gründen nicht als Obdachlose untergebracht werden könnten, stellte er am 28. Juli 2017 einen Antrag auf gerichtlichen Eilrechtsschutz.
Mit Beschluss vom 9. August 2017 verpflichtete das Verwaltungsgericht München die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung, dem Antragsteller sowie dessen Ehefrau und Kindern ab 11. August 2017 zur Behebung der drohenden Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig zur Verfügung zu stellen.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
1. Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin, die der Senat anhand der fristgerecht dargelegten Gründe überprüft (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 6 VwGO), hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Recht stattgegeben. Die mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände führen zu keiner anderen Beurteilung.
Die Antragsgegnerin war zur vorläufigen Unterbringung des Antragstellers verpflichtet, da es sich um eine „unfreiwillige Obdachlosigkeit“ handelte, die ein sicherheitsrechtliches Einschreiten erforderlich machte. Der gegenteiligen Annahme der Antragsgegnerin, wonach schon wegen des fehlenden Nachweises hinreichender und rechtzeitiger Bemühungen des Antragstellers um Ersatzwohnraum eine Gefahrenlage nach Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG ausgeschlossen sei, kann nicht gefolgt werden.
Zwar sind Personen, denen Obdachlosigkeit droht, zur Selbsthilfe verpflichtet, so dass die Sicherheitsbehörde auf eigene Maßnahmen verzichten kann, wenn sich der Betroffene durch die Inanspruchnahme anderweitiger Hilfsangebote oder durch den Einsatz eigener Sach- oder Finanzmittel in zumutbarer Weise aus eigener Kraft geeigneten Wohnraum verschaffen kann (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 4 CE 16.2575 – juris Rn. 9; B.v. 13.2.2014 – 4 CS 14.126 – juris Rn. 6). Allein der Umstand, dass die Suche nach einer neuen Unterkunft nicht von Anfang an mit dem notwendigen Nachdruck betrieben worden ist und die eingetretene Wohnungsnot daher möglicherweise auf eigenem Verschulden beruht, stellt aber noch keine Verletzung dieser Selbsthilfeobliegenheit dar. Erst wenn von einer tatsächlich bestehenden Option der Unterbringung bzw. der Beschaffung einer Unterkunft ohne sachlich nachvollziehbaren Grund kein Gebrauch gemacht wurde, kann die dadurch eingetretene oder fortdauernde Obdachlosigkeit als „freiwillig“ angesehen werden.
Ein solcher Ausnahmefall liegt beim Antragsteller ersichtlich nicht vor. Dass ihm in dem Zeitraum nach Bekanntwerden der Wohnungskündigung oder nach Festlegung des Räumungstermins ein konkretes Angebot zum privaten Anmieten einer für seine Familie geeigneten Wohnung vorgelegen hätte, ist nicht ersichtlich und wird auch von der Antragsgegnerin nicht vorgetragen. Wegen der im Großraum München und daher auch an seinem bisherigen Wohnort bestehenden Wohnungsknappheit war und ist es ihm auch nach Erhalt von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II nicht ohne weiteres möglich, sich aus eigener Initiative kurzfristig eine angemessene neue Wohnung zu verschaffen. Dass der Antragsteller sich in seiner speziellen persönlichen Situation – als erwerbsloser Ausländer ohne hinreichende deutsche Sprachkenntnisse – bei der Wohnungssuche im Wesentlichen der Vermittlungsdienste eines Wohlfahrtsverbands bedient und darüber hinaus wohl keine eigenen Anstrengungen unternommen hat, schließt seinen Hilfsanspruch gegenüber der Antragsgegnerin als örtlich zuständiger Sicherheitsbehörde nicht aus.
Dem Anspruch auf obdachlosenrechtliche Unterbringung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass der Antragsteller seine Bemühungen um eine neue Wohnung nicht auf das Gemeindegebiet habe beschränken dürfen. Angesichts des ihm nach Art. 11 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG zustehenden Grundrechts auf Freizügigkeit kann ihn die Antragsgegnerin als diejenige Gemeinde, in der er bisher gewohnt hat und offenbar weiterhin wohnen will, nicht auf einen möglichen Umzug in einen anderen Ort mit einem möglicherweise größeren oder preisgünstigeren Wohnungsangebot verweisen und sich damit ihrer Aufgabe der Gefahrenabwehr entledigen (vgl. BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615 – NVwZ-RR 2017, 575 Rn. 6).
Die Verpflichtung der Antragsgegnerin, dem Antragsteller zur Abwehr einer drohenden Obdachlosigkeit eine geeignete Notunterkunft zur Verfügung zu stellen, entfällt auch nicht allein deswegen, weil ihm und seiner Familie mittlerweile – wie die Antragsgegnerin vorträgt – Grundsicherungsleistungen bewilligt worden sind. Selbst wenn deren Höhe ausreichen sollte, um die laufenden Kosten für eine angemessene Wohnung im Gemeindegebiet der Antragsgegnerin zu zahlen, entfiele damit unter den gegebenen Umständen nicht schon automatisch die sicherheitsrechtliche Unterbringungspflicht. Solange nicht feststeht, dass sich dem Antragsteller auf dem örtlichen Wohnungsmarkt tatsächlich die Möglichkeit zum Abschluss eines Mietvertrags bietet, bleibt die Antragsgegnerin zum vorläufigen Einschreiten verpflichtet.
Die Beschwerde ist daher sowohl bezüglich des Hauptantrags als auch bezüglich des – auf den Zeitraum ab 1. September 2017 beschränkten – Hilfsantrags zurückzuweisen.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zum Streitwert aus § 47 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs 2013.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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