Verwaltungsrecht

versammlungsrechtliche Beschränkung, “Visierpflicht“ / Gesichtsschild, Ermessen

Aktenzeichen  10 CS 21.1135

Datum:
19.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 9634
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVersG Art. 15 Abs. 1
BayIfSMV § 7 Abs. 1 12.

 

Leitsatz

Verfahrensgang

AN 4 S 21.00694 u.a. 2021-04-19 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. In Abänderung von Nr. 1 des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19. April 2021 wird der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch hinsichtlich der Ziffer 2.1.3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 15. April 2021 abgelehnt.
II. In Abänderung von Nr. 4 des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19. April 2021 trägt die Antragstellerin die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen zu drei Vierteln, die Antragsgegnerin zu einem Viertel.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Antragsgegnerin gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer noch zu erhebenden Klage der Antragstellerin gegen eine versammlungsrechtliche Beschränkung in Form einer Visierpflicht in ihrem Bescheid vom 15. April 2021.
Am 12. April 2021 zeigte die Antragstellerin namens „Querdenken 911“ für den 19. April 2021 eine sich fortbewegende Versammlung mit dem Thema „N* … bewegt sich – Montagsspaziergänge für Grundrechte und Gesundheit“ an, die ab 18.45 Uhr durch die Innenstadt der Antragsgegnerin führen soll.
Mit Bescheid vom 15. April 2021 bestätigte die Antragsgegnerin die angezeigte Versammlung und verfügte unter anderem unter Ziffer 2.1.2 die Beschränkung, dass alle anwesenden Personen (Veranstalter/in, Teilnehmer/innen, Ordner/innen) während der Versammlung durchgehend eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen haben; hiervon ausgenommen sind die Versammlungsleitung während Durchsagen und Redner während Redebeiträgen. Von dieser Pflicht befreit sind Kinder bis zum sechsten Geburtstag sowie Personen, die glaubhaft machen können, dass ihnen das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist.
Nr. 2.1.3 lautet sodann: „Entfällt die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung auf der Grundlage von Nr. 2.1.2 dieses Bescheides, wird für die jeweils Betroffenen das Tragen eines Visiers (sog. Face-Shield) oder einer Klarsichtmaske angeordnet. Face-Shields/Visiere müssen aus undurchlässigem Kunststoff bestehen, das Gesicht vollständig abdecken und mindestens bis unterhalb des Kinns reichen; Klarsichtmasken müssen ebenfalls aus undurchlässigem Kunststoff bestehen, Nase und Mund vollständig bedecken und bis unterhalb des Kinns reichen. Diese Verpflichtung entfällt wiederum nur dann, wenn die gemäß Ziffer 2.1.2 erforderliche und vorgelegte ärztliche Bescheinigung konkrete Angaben darüber enthält, weshalb das Tragen eines Visiers aus gesundheitlichen Gründen für den jeweils Betroffenen nicht zumutbar ist.“
Auf den Eilantrag der Antragstellerin vom 16. April 2021 ordnete das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach mit Beschluss vom 19. April 2021 – unter anderem – die aufschiebende Wirkung einer noch zu erhebenden Klage gegen Ziffer 2.1.3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 15. April 2021 an.
Zur Begründung wird insoweit ausgeführt, zwar bestehe für diese Anordnung eine Rechtsgrundlage in § 7 Abs. 1 Satz 2 der 12. BayIfSchMV i.V.m. Art. 15 BayVersG, doch sei sie voraussichtlich ermessensfehlerhaft; die von der Antragsgegnerin im Bescheid ausgeführte Argumentation trage diese Anordnung nicht. Die Antragsgegnerin hätte aufzeigen müssen, dass die Anordnung der Visierpflicht zur Sicherung des Gesundheitsschutzes gegenüber einer Maßnahme mit größerer Eingriffsintensität wie beispielsweise dem „Ausschluss von Personen mit Befreiung“ ein milderes Mittel sei. Ferner habe die Antragsgegnerin die Äußerung des Robert-Koch-Instituts (RKI) hinsichtlich einer Geeignetheit von Gesichtsvisieren überinterpretiert.
Die Antragsgegnerin beantragt mit ihrer Beschwerde sinngemäß,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19. April 2021 im Hinblick auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der Ziffer 2.1.3 des Bescheids vom 14. April 2021 abzuändern und den Antrag auch insoweit abzulehnen.
Die Ermessensausübung sei sachgerecht. Dem Tragen eines Visiers komme eine, wenngleich gegenüber der Maskenpflicht herabgesetzte, Eignung zu. Die Eingriffsintensität der Verpflichtung sei dabei erkennbar begrenzt. Sie bedeute für den Adressaten in erster Linie eine Lästigkeit, von der im Übrigen ausnahmsweise wiederum befreit werden könne. Die Kritik des Verwaltungsgerichts berücksichtige nicht den Kontext der entsprechenden Begründung des Bescheids. Auch könne dem Verwaltungsgericht nicht gefolgt werden, wenn die Geeignetheit der Visierpflicht gänzlich in Frage gestellt oder von einer Überinterpretation der fachlichen Einschätzungen des RKI ausgegangen werde. Dies stehe auch im Widerspruch zu der inhaltlich zutreffenden Einschätzung des Senats in der Entscheidung vom 26. März 2021 (10 CS 21.903).
Die Antragstellerin trägt in ihrer Erwiderung vor, das Vorbringen der Antragsgegnerin sei abzulehnen.
Die Landesanwaltschaft Bayern beteiligt sich als Vertreter des öffentlichen Interesses am Verfahren; sie stellt keinen eigenen Antrag, hält aber die Beschwerde der Antragsgegnerin für begründet.
Auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Unterlagen und Schriftsätze wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin ist begründet. Die in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfen hat, rechtfertigen die beantragte Abänderung des angefochtenen Beschlusses.
Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn die Klage (vgl. Art. 25 BayVersG) keine aufschiebende Wirkung hat. Der Verwaltungsgerichtshof hat bei seiner Entscheidung eine originäre Interessenabwägung auf der Grundlage der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage darüber zu treffen, ob die Interessen, die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streiten, oder diejenigen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, überwiegen. Dabei sind die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren wesentlich zu berücksichtigen, soweit sie bereits überschaubar sind. Nach allgemeiner Meinung besteht an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer voraussichtlich aussichtslosen Klage kein überwiegendes Interesse. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen.
§ 7 Abs. 1 Zwölfte Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (12. BayIfSMV v. 5.3.2021, BayMBl. Nr. 171) bestimmt für Versammlungen im Sinne des Bayerischen Versammlungsgesetzes unter anderem einen Mindestabstand von 1,5 m zwischen allen Teilnehmern und verlangt, dass jeder Körperkontakt mit anderen Versammlungsteilnehmern oder Dritten vermieden wird (Satz 1). Die nach Art. 24 Abs. 2 BayVersG zuständigen Behörden haben, soweit dies im Einzelfall erforderlich ist, durch entsprechende Beschränkungen nach Art. 15 BayVersG sicherzustellen, dass die Bestimmungen nach Satz 1 eingehalten werden und die von der Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auch im Übrigen auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt bleiben; davon ist in der Regel auszugehen, wenn die Versammlung nicht mehr als 200 Teilnehmer hat und ortsfest stattfindet (Satz 2). Für die Teilnehmer gilt Maskenpflicht; hiervon ausgenommen sind die Versammlungsleitung während Durchsagen und Redner während Redebeiträgen sowie Teilnehmer, die während der Versammlung ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr führen (Satz 3). Sofern diese Anforderungen nicht sichergestellt werden können, ist die Versammlung zu verbieten (§ 7 Abs. 1 Satz 4 der 12. BayIfSMV). Damit konkretisiert § 7 Abs. 1 der 12. BayIfSMV die versammlungsrechtliche Befugnisnorm des Art. 15 Abs. 1 BayVersG sowohl auf der Tatbestandswie auch auf der Rechtsfolgenseite im Hinblick auf von Versammlungen unter freiem Himmel ausgehende Gefahren für die Gesundheit und das Leben Einzelner (Art. 2 Abs. 2 GG) sowie den Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung (vgl. BVerfG, B.v. 10.4.2020 – 1 BvQ 31/20 – juris Rn. 15; vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 16.3.2021 – 10 CS 21.772).
Ausgehend hiervon erweist sich − auch unter Berücksichtigung der herausragenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit – die streitgegenständliche Beschränkung Nr. 2.1.3 bezüglich einer Visierpflicht bei summarischer Prüfung als voraussichtlich rechtmäßig, sodass bereits deswegen von einem Überwiegen des öffentlichen Vollzugsinteresses auszugehen ist.
Insbesondere erweist sie sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht deshalb als ermessensfehlerhaft (§ 114 Satz 1 VwGO), weil die Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid (auf S. 8 oben) dazu Folgendes ausgeführt hat: „Es handelt sich deshalb um ein milderes Mittel zur Eindämmung des Infektionsschutzes für solche Teilnehmer/innen, die vom Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung im Übrigen befreit sind.“
Soweit das Verwaltungsgericht daraus nämlich folgert, ein milderes Mittel läge nur dann vor, wenn die Alternative eine Maßnahme mit größerer Eingriffsintensität – beispielsweise der Ausschluss von Personen mit Befreiung (vom Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung) – wäre, was im Bescheid aber nicht erwogen bzw. erörtert werde, beruht dies erkennbar darauf, dass es dabei den Kontext dieser Begründung des Bescheids nicht ausreichend berücksichtigt hat. Denn die Antragsgegnerin hat zur Begründung der Anordnung des Tragens eines Visiers bzw. einer Klarsichtmaske als infektionsschutzrechtliche Maßnahme „zum effektiven Gesundheitsschutz der Bevölkerung und Eindämmung des Infektionsgeschehens“ zuvor (auf S. 7 unten) Folgendes ausgeführt: „Der Infektionsschutz kann, wenn auch in gegenüber einer Mund-Nasen-Bedeckung nur herabgesetzten Form, durch das Tragen eines Visiers mithin gefördert werden. Ein milderes Mittel als das Tragen eines Visiers, wäre ganz vom Tragen einer Schutzvorrichtung abzusehen, wodurch dem Infektionsschutz aber nicht gleichermaßen wirksam Rechnung getragen werden kann. Auch die Einhaltung sonstiger Hygiene- und Verhaltensregeln, zum Beispiel die Einhaltung der Mindestabstände, ist für sich allein für den Infektionsschutz nicht gleichermaßen förderlich (vgl. Beschluss VG Regensburg vom 26.3.2021, RN 4 S 21.669).“
Vor diesem Hintergrund liegt für den Senat auf der Hand, dass die Antragsgegnerin, wie sie in ihrer Beschwerdebegründung nachvollziehbar und schlüssig darlegt (und ihre Ermessenserwägungen auf diese Weise jedenfalls auch klarstellend im Sinne von § 114 Satz 2 VwGO ergänzt), die Anordnung der Visierpflicht gegenüber den vom Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung befreiten Versammlungsteilnehmern als das denkbar mildeste geeignete Mittel erachtet, um entsprechenden Infektionsgefahren während der Versammlung zu begegnen, weil sie insoweit das Absehen von jeglichen Schutzmaßnahmen als infektionsschutzrechtlich nicht (mehr) hinnehmbar ansieht. Nur in diesem Sinne ist folglich auch der vom Verwaltungsgericht zur Begründung des (angeblichen) Ermessensfehlers herangezogene folgende Satz in der Begründung des Bescheids (s.o.) zu verstehen. Demgemäß greift der Ansatz des Verwaltungsgerichts, das entscheidend auf einen Ausschluss von Personen mit Befreiung als Maßnahme größerer Eingriffsintensität abstellt, wie die Antragsgegnerin zu Recht rügt, „zu kurz“.
Ebenso greift das Vorbringen der Antragsgegnerin durch, soweit das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die Einschätzung des RKI die Wirksamkeit von Gesichtsvisieren bzw. Klarsichtmasken in Frage stellt und der Antragsgegnerin dabei eine „Überinterpretation“ zuschreibt. In der fachlichen Einschätzung des RKI heißt es zwar in Tat, die Verwendung von Visieren könne nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht als Alternative zur Mund-Nasen-Bedeckung angesehen werden, weil die Rückhaltewirkung von Visieren auf ausgestoßene respiratorische Flüssigkeitspartikel deutlich schlechter sei. Visiere könnten in der Regel maximal die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen auffangen. Als Teil der persönlichen Schutzaufrüstung bleibe die Verwendung von Visieren aber unbenommen („Infektionsschutzmaßnahmen (Stand: 9.3.2021), Ist der Einsatz von Visieren anstatt einer Mund-Nasen-Bedeckung im öffentlichen Raum sinnvoll?“, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/ FAQ_Liste_Infektionsschutz.html).
Der Senat hat bereits mit der Entscheidung vom 26. März 2021 (10 CS 21.903 – juris Rn. 26) festgestellt, dass damit nicht die völlige Ungeeignetheit von Gesichtsvisieren (bzw. Klarsichtmasken) angesprochen ist, sondern eine grundsätzliche, wenngleich gegenüber Mund-Nasen-Bedeckungen herabgesetzte, Eignung, der Gefahr einer Tröpfcheninfektion zu begegnen, um die es bei Versammlungen unter freiem Himmel unter anderem geht. Eine Über- oder gar Fehlinterpretation der fachlichen Stellungnahme des RKI ist darin nicht zu sehen.
Im Übrigen weisen auch die von der Antragstellerin (auf S. 4 ihrer Stellungnahme) zitierten Äußerungen des BfArM auf die Schutzfunktion von Visieren bezüglich „Tröpfchen und Spritzern“ hin.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG. Da die Entscheidung die Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt, sieht der Senat keinen Anlass, den Streitwert gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu mindern.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben