Verwaltungsrecht

Verwaltungskostengesetz: Auslagenerstattung für Kopien aus Verkehrsunfallakte

Aktenzeichen  3 KO 120/21

Datum:
20.10.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Thüringer Oberverwaltungsgericht 3. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:OVGTH:2021:1020.3KO120.21.00
Normen:
§ 107 Abs 5 OWiG
§ 147 Abs 4 StPO
§ 406e StPO
§ 475 StPO
§ 1 Abs 3 S 1 VwKostG TH 2005
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Die Erstattung von Auslagen infolge der Einsichtnahme in eine Verkehrsunfallakte, die Grundlage eines Ordnungswidrigkeitenverfahren sein kann, richtet sich vorrangig nach § 107 Abs. 5 OWiG.(Rn.18)
(Rn.28)
(Rn.29)

Verfahrensgang

vorgehend VG Weimar, 21. September 2017, 1 K 1104/15 We, Urteilnachgehend BVerwG, 21. Juni 2022, 6 B 3/22, Beschluss

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Mit seiner Berufung wendet sich der Beklagte gegen die Stattgabe einer Klage, mit der sich die Klägerin gegen eine Kostenforderung für erstellte Kopien aus einer polizeilichen Verkehrsunfallakte wendet.
Als für die Volkswohl Bund Sachversicherung AG tätige Rechtsanwältin beantragte die in B …  ansässige Klägerin bei der Polizeiinspektion S am 23. Juli 2015 Einsicht in eine Verkehrsunfallakte mit Blick auf eine mögliche Eintrittspflicht zur Schadenregulierung. Die Akte enthielt im Wesentlichen die nach einem ohne Fremdeinwirkung auf der Landesstraße 133 geschehenen Verkehrsunfall eines bei der Mandantin der Klägerin versicherten Kradfahrers aufgenommenen Daten, wie Vermessungsdaten der Unfallstelle, Unfallskizze und Fotodokumentation. Der Kradfahrer war nach Aussagen von Unfallzeugen mit angemessener Geschwindigkeit gefahren, in einer Rechtskurve von der Fahrbahn abgekommen und in einem Getreidefeld schwer verletzt liegen geblieben. Hinweise auf Drogen- oder Alkoholkonsum waren nicht erkennbar. Ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde ebenso wenig eingeleitet wie ein Ordnungswidrigkeiten-/Bußgeldverfahren. Im polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem ist vermerkt: „Keine Folgemaßnahmen“. Der Beklagte übersandte Kopien aus dem Polizeirechnersystem und machte hierfür mit Kostenbescheid vom 13. Oktober 2015 – abgesandt am 14. Oktober 2015 – Gebühren in Höhe von 12,00 EUR und Auslagen in Höhe von 3,50 EUR für sieben Kopien, insgesamt also 15,50 EUR geltend.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 16. November 2015 Klage beim Verwaltungsgericht Weimar erhoben. Zur Begründung hat die Klägerin im Wesentlichen ausgeführt, der Kostenbescheid sei bereits deswegen rechtswidrig, weil sie zunächst lediglich um Akteneinsicht gebeten, dann aber eine vollständige Kopie der Akte erhalten habe. Die Kostenfestsetzung sei überhöht; gerechtfertigt seien lediglich Kosten im Umfang der üblichen Aktenübersendungspauschale analog 9003 KV GKG in Höhe von 12,00 EUR.
Die Klägerin hat beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 13. Oktober 2015 insoweit aufzuheben, als damit Kosten von mehr als 12,00 EUR erhoben wurden.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung hat er vorgetragen, dass zum Zeitpunkt des Auskunftsersuchens der Klägerin weder ein Ermittlungsverfahren noch ein Bußgeldverfahren anhängig gewesen sei, in dessen Rahmen Akteneinsicht zu gewähren gewesen wäre. Die Auskunftserteilung durch Überlassen der Kopien aus der Akte sei eine öffentliche Leistung und der Klägerin individuell zurechenbar. Es sei auch unerheblich, dass die Klägerin zunächst Akteneinsicht beantragt habe, die Behörde sich jedoch für die Übersendung von Kopien entschieden habe. Die Klägerin habe die Übersendung dieser Kopien widerspruchslos akzeptiert. Nach Nr. 1.4.1.3 der Anlage zu § 1 Thüringer Allgemeine Verwaltungskostenordnung (ThürAllgVwKostO) würden zur Berechnung des Verwaltungsaufwands je 15 Minuten 12,00 EUR Gebühren pro übrigen Beschäftigten zugrunde gelegt. Gemäß Nr. 2.1.2 der Anlage würden als Auslagen für die Anfertigung von Kopien für die ersten 50 Seiten 0,50 EUR pro Seite berechnet. Die Kosten für die Auskunftserteilung überstiegen auch nicht die Kosten im Falle einer Aktenübersendung. Wären vorliegend die Originalakten versandt worden, wären Gebühren in Höhe von mindestens 7,40 EUR (Gewährung von Einsicht in Akten gemäß Nr. 1.2.2.2 der Anlage zu § 1 ThürAllgVwKostO) zuzüglich 3,80 EUR (Zuschlag bei weggelegten Akten Nr. 1.2.2.3 der Anlage zu § 1 ThürAllgVwKostO) und zudem 12,60 EUR (Zuschlag für die Übersendung von Akten gemäß Nr. 1.2.2 der Anlage zu § 1 ThürAllgVwKostO) und daher Gesamtgebühren in Höhe von 23,80 EUR festzusetzen gewesen.
Das Verwaltungsgericht Weimar hat mit dem ohne mündliche Verhandlung ergangenen Urteil vom 21. September 2017 der Klage stattgegeben und den Bescheid des Beklagten insoweit aufgehoben, als er einen Betrag von 12,00 EUR übersteigt. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht Weimar im Wesentlichen ausgeführt, dass die Anwendung der von dem Beklagten angegebenen Rechtsgrundlage des Thüringer Verwaltungskostengesetzes (ThürVwKostG) i. V. m. der hierzu erlassenen Thüringer Allgemeinen Verwaltungskostenordnung durch § 107 Abs. 5 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) ausgeschlossen werde. Aus dieser allein anwendbaren bundesrechtlichen Vorschrift ergebe sich, dass die Behörde nicht mehr als 12 Euro als Auslagen erheben könne. Bei der von der Polizeiinspektion Sömmerda erstellten Verkehrsunfallakte handele es sich um eine Akte, die jedenfalls auch zur Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt worden sei. Dazu dienten unzweifelhaft die dort abgelegten Unterlagen wie Anzeige, Unfallskizze und Bilddokumentation. Der Charakter der angelegten Akte ändere sich auch dann nicht, wenn ein Ordnungswidrigkeiten-/Strafverfahren letztlich nicht eingeleitet worden sei. Die Vorschrift des § 107 Abs. 5 OWiG gelte für jede Art der Übersendung der Verwaltungsakte. Die dort geregelte Aktenversendungspauschale treffe Regelungen auch für die Akteneinsicht eines Dritten und selbst für den Fall, dass die Aktenversendung nach Rechtskraft eines möglichen Bußgeldbescheides erfolge. Die Vorschrift sei zudem unabhängig davon anzuwenden, in wessen Interesse und zu welchem Zweck die Aktenübersendung erbeten werde. Eine Einschränkung etwa dahin, dass nur der Verteidiger des von einem Bußgeldverfahren Beschuldigten von dieser Regelung betroffen werde, könne der Vorschrift nicht entnommen werden.
Der Beklagte hat mit am 28. November 2017 bei dem Verwaltungsgericht Weimar eingegangenen Schreiben beantragt, die Berufung gegen das ihm am 30. Oktober 2017 zugestellte Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar zuzulassen, und den Antrag mit einem am 3. Januar 2018 beim Thüringer Oberverwaltungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet. Mit dem Beklagten am 1. März 2021 zugestellten Beschluss vom 12. Februar 2021 hat das Oberverwaltungsgericht dem Antrag stattgegeben. Der Beklagte begründet die Berufung mit einem bei dem Oberverwaltungsgericht am 30. März 2021 eingegangenen Schriftsatz.
Der Beklagte rügt darin, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtsfehlerhaft sei. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gehe in unzulässiger Weise über das Klagebegehren hinaus und verstoße mit seinem Inhalt gegen die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts. Der Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 13. Oktober 2015, soweit er einen Betrag von 12,00 EUR übersteigt, stelle ein „aliud“ gegenüber dem Klageantrag dar, mit dem die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer konkreten Auslagenpauschale beantragt worden sei. Eine Überprüfung des Gebührenbescheides anhand von § 107 Abs. 5 OWiG und eine Reduzierung auf die Gebühr von 12,00 EUR habe mangels Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht erfolgen dürfen. Im Übrigen sei der Anwendungsbereich des Ordnungswidrigkeitengesetzes nicht eröffnet und damit die Anwendbarkeit des § 107 Abs. 5 OWiG nicht gegeben. Daher könne die Regelung des § 107 Abs. 5 OWiG dem ThürVwKostG nicht als Spezialregelung vorgehen. Im vorliegenden Fall hätten von Anfang an keinerlei Anhaltspunkte bestanden, die den Verdacht einer Ordnungswidrigkeit begründeten. Wäre die Regelung des § 107 Abs. 5 OWiG dahin zu verstehen, dass ihre Anwendung einen tatsächlichen Zusammenhang zu einem Bußgeldverfahren zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten nicht voraussetze, so wäre sie nicht mehr von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gedeckt. Die Anwendbarkeit der Regelung des § 107 Abs. 5 OWiG setze jedenfalls ein Ordnungswidrigkeitenverfahren voraus. Aus der systematischen Stellung des § 107 OWiG im Gesetz wie auch aus dem Regelungszusammenhang der einzelnen Absätze der Vorschrift folge, dass § 107 Abs. 5 OWiG nur dann als Grundlage der Erhebung der Aktenversendungspauschale herangezogen werden könne, wenn ein Bußgeldverfahren tatsächlich durchgeführt werde oder zumindest durchgeführt worden sei. Jedenfalls sei die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt, da bei Anwendung der aus Sicht der Klägerin einschlägigen Vorschriften des ThürVwKostG i. V. m. der ThürAllgVwKostO sie die Auslagen in Höhe von 3,50 EUR gemäß Nr. 2.1.2 der Anlage zur ThürAllgVwKostO schulde, mindestens jedoch den mit dem Kostenbescheid vom 13. Oktober 2015 geltend gemachten Betrag.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Weimar vom 21. September 2017 – Az. 1 K 1104/15 We – aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin äußert sich im Berufungsverfahren nicht weiter zur Sache.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Im Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht gemäß §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die – rechtzeitig eingelegte und begründete – Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage, mit der die Klägerin sich lediglich gegen die Erhebung von Auslagen für Kopien in Höhe von 3,50 Euro wendet – nur dies ist auch Gegenstand des Berufungsverfahrens – zu Recht entsprochen. Der Kostenbescheid des Beklagten vom 13. Oktober 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Als Rechtsgrundlage für den Kostenbescheid kommt das vom Beklagten herangezogene Thüringer Verwaltungskostengesetzes i. V. m. der hierzu erlassenen Thüringer Allgemeinen Verwaltungskostenordnung nicht in Betracht. Gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 ThürVwKostG bleibt die Erhebung von Verwaltungskosten nach anderen Rechtsvorschriften unberührt. Als eine solche – vorrangige – andere Vorschrift ist hier § 107 Abs. 5 OWiG anwendbar. Nach dieser Vorschrift werden von demjenigen, der die Versendung von Akten beantragt, je durchgeführte Sendung einschließlich der Rücksendung durch Behörden pauschal 12,00 EUR als Auslagen erhoben.
1. Im vorliegenden Fall erstellte die Polizeiinspektion S die Akte jedenfalls auch zur Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten.
Zwar gab es keine Anzeichen für eine überhöhte Geschwindigkeit oder für einen Alkohol- oder Drogenkonsum des verletzten Kradfahrers, und es wurde in dem vergleichsweise einfach gelagerten Fall weder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren noch ein Ordnungswidrigkeiten-/Bußgeldverfahren eingeleitet. Entsprechend ist im polizeilichen Vorgangsbearbeitungssystem vermerkt: „Keine Folgemaßnahmen“. Aber es besteht kein Grund zur Annahme und wird auch nicht vom Beklagten substantiiert vorgetragen, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens selbst in einfach gelagerten Fällen abschließend am Unfall getroffen wird und die erstellten Unterlagen wie Anzeige, Unfallskizze und Bilddokumentation dann von vornherein und definitiv nur anderen Zwecken dienen sollen. Ein Anfangsverdacht zumindest eines Verstoßes gegen § 49 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 1 Abs. 2 StVO wird erst nach einer Auswertung der Unfalldokumentation auszuschließen sein und es besteht auch kein Anlass für eine Entscheidung vor Ort.
Dies ergibt sich nicht nur aus einer lebensnahen Betrachtung, sondern folgt auch aus der Richtlinie des Thüringer Ministeriums für Inneres und Kommunales über die Aufgaben der Thüringer Polizei bei Straßenverkehrsunfällen vom 1. Januar 2017 (ThürStAnz. Nr. 50 vom 12. Dezember 2016, S. 1503). Nach Ziffer 1.2 der Richtlinie sind die bei der polizeilichen Verkehrsunfallaufnahme gewonnenen Erkenntnisse und Daten u. a. Grundlage die „Erforschung und Aufklärung von Verkehrsstraftaten und -ordnungswidrigkeiten sowie die Gewinnung von Erkenntnissen/Anhaltspunkten für sonstige Straftaten“ (1. Spiegelstrich). Die Richtlinie regelt „Maßnahmen am Unfallort“ in Ziffer 3 und die „Bearbeitung von Verkehrsunfällen“ in Ziffer 5. Die in Anhang 10 zur Richtlinie enthaltene „Checkliste“ dient ausweislich der Ziffer 5.1.3 als Arbeitsgrundlage an der Unfallstelle und ist ein – ausschließlich intern zu nutzendes – „Hilfsmittel (Gedächtnisstütze)“ zur Erfassung der Daten, die für die Erstellung der Unfallanzeige benötigt werden. Nicht erwähnt wird dort, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens in einfach gelagerten Fällen bereits abschließend vor Ort erfolgen kann, sodass der Zweck der Unfalldokumentation nur noch ein anderer sein könnte. Die Checkliste selbst fragt eine solche abschließende Entscheidung auch nicht ab. Der Richtlinie liegt eine Einteilung der Verkehrsunfälle in die beiden Gruppen der Verkehrsunfälle, bei denen Personenschaden entstanden ist, und der Verkehrsunfälle, bei denen nur Sachschaden entstanden ist, zugrunde (Ziffer 2.2). Für die Bearbeitung von Verkehrsunfällen wird nur bei Verkehrsunfällen mit Sachschäden (Ziffer 5.2) differenziert zwischen Verkehrsunfällen, denen keine, eine unbedeutende oder eine geringfügige (mit Verwarnungsgeld ahndbare) Ordnungswidrigkeit zugrunde liegt (Ziffer 5.2.1), Verkehrsunfällen mit einer bedeutenden zugrunde liegenden Ordnungswidrigkeit (Ziffer 5.2.2) und Verkehrsunfällen, deren Verursachung eine Straftat zugrunde liegt bzw. die im Zusammenhang mit einem Straftatbestand stehen (Ziffer 5.2.3). Bei Verkehrsunfällen mit Personenschaden (Ziffer 5.3) unterscheidet die Richtlinie demgegenüber danach, ob der Unfallverursacher alleine verletzt oder getötet (Ziffer 5.3.1) oder aber ein anderer, nicht Unfallverursacher, verletzt oder getötet (Ziffer 5.3.2) worden ist.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass Ziffer 1.2 der Richtlinie über die Erforschung und Aufklärung von Verkehrsstraftaten und -ordnungswidrigkeiten sowie die Gewinnung von Erkenntnissen/Anhaltspunkten für sonstige Straftaten hinaus mit insgesamt 14 Spiegelstrichen eine Vielfalt von mit der Erstellung einer Verkehrsunfallakte verfolgten Zwecke benennt. Allein aus dieser Vielfalt der mit der Erstellung einer Verkehrsunfallakte verfolgten Zwecke folgt – wie dargelegt und entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht, dass die Erstellung der Akte eben gerade nicht zwingend und regelmäßig den Schluss zulasse, dass die Akte immer auch zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit angelegt werde.
Weiterhin lässt sich aus Ziffer 5.3.1 der Richtlinie nicht – wie es der Beklagte im Wege des Umkehrschlusses versucht – ableiten, dass die zu erstellende Verkehrsunfallakte gerade nicht dem Ordnungswidrigkeitenverfahren zu dienen bestimmt ist, wenn der Unfallverursacher verletzt ist und Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts nicht erfüllt sind. In Ziffer 5.3.1 heißt es zu Verkehrsunfällen mit Personenschaden, bei denen der Unfallverursacher alleine verletzt oder getötet wurde:
„Wurde der Unfallverursacher verletzt und wurden Tatbestände des Ordnungswidrigkeiten- bzw. Strafrechts erfüllt, ist ein Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. Ermittlungen im Strafverfahren einzuleiten.“
Zulässig wäre nur daher der Umkehrschluss, dass ein Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. Ermittlungen im Strafverfahren nicht einzuleiten ist, wenn Tatbestände des Ordnungswidrigkeiten- bzw. Strafrechts nicht erfüllt sind.
Damit wird die Verkehrsunfallakte generell bei Unfällen mit Personenschaden und wurde sie auch im konkreten Fall jedenfalls auch zur späteren Prüfung des Vorliegens von Ordnungswidrigkeiten erstellt, mag der Sachverhalt im konkreten Fall auch einfach gelagert gewesen sein.
2. Die objektive Prüfung der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens und das Anlegen einer Verkehrsunfallakte zu diesem Zweck erfüllt auch in einfach gelagerten Fällen keineswegs den Straftatbestand der Verfolgung Unschuldiger (§ 344 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB). Nicht tatbestandsmäßig sind Ermittlungen, die nur zum Zweck der Prüfung erfolgen, ob der Verfolgte die Tat begangen hat, oder aber, ob umgekehrt Hindernisse vorliegen, die der Verfolgung der Tat entgegenstehen (Voßen, in MüKoStGB, 3. Aufl. 2019, § 344 StGB, Rn. 23 m. w. N.).
3. Der Charakter der angelegten Akte ändert sich auch dann nicht, wenn ein Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren letztlich nicht eingeleitet wird. Die Zweckbestimmung der Akte – auch – für das Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahren ist auch dann keinesfalls allein hypothetisch, wie der Beklagte annimmt.
Aus der systematischen Stellung des § 107 OWiG im Abschnitt über die Kosten im Zweiten Teil des Ordnungswidrigkeitengesetzes folgt nicht, dass § 107 Abs. 5 OWiG als Grundlage der Erhebung der Aktenversendungspauschale nur herangezogen werden könnte, wenn ein Bußgeldverfahren tatsächlich durchgeführt wird oder zumindest durchgeführt worden ist. Einen so verstandenen untrennbaren Zusammenhang mit einem Bußgeldverfahren setzt die Vorschrift des § 107 Abs. 5 OWiG nicht voraus. Vielmehr ist § 107 Abs. 5 OWiG weit auszulegen und dürfen die Anforderungen an Zusammenhang zu einem Bußgeldverfahren nicht überspannt werden. Es genügt in diesem Zusammenhang, dass die Akte objektiv jedenfalls auch Grundlage für die Prüfung der Einleitung eines Bußgeldverfahrens ist. Die Aktenversendungspauschale für das Bußgeldverfahren gilt nach § 107 Abs. 5 OWiG auch für die Akteneinsicht eines Dritten und selbst dann, wenn die Aktenversendung nach Rechtskraft des Bußgeldbescheids erfolgt (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. Mai 2007 – 7 A 1011/07 – juris Rn. 19 f.) Für ein entsprechend weites Verständnis des § 107 Abs. 5 OWiG spricht nach der zutreffenden Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz schon der Wortlaut der Bestimmung, der alle Fälle der Aktenversendung erfasst (ebd., Rn. 20; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13. April 2005 – 9 A 4592/03 – juris, NJW 2005, 2795, Rn. 20).
Im Blick auf unterschiedliche gebührenrechtliche Folgen erscheint für den Dritten, der Akteneinsicht beansprucht, die Verfahrenszäsur der Entscheidung über die tatsächliche Einleitung eines Bußgeldverfahrens genauso zufällig und willkürlich wie der der Beendigung des Verfahrens durch die Hauptbeteiligten (dazu OVG Rheinland-Pfalz, a. a. O. Rn. 22). Zudem beschränken sich die Verfahrensbestimmungen des Ordnungswidrigkeitenrechts nicht lediglich auf die Phase des Verfahrens zwischen den Hauptbeteiligten, das heißt das Bußgeldverfahren im engeren Sinne, sondern regeln darüber hinaus in einem umfassenderen Sinne auch Akteneinsichtsrechte.
Über die Generalverweisungsnorm des § 46 Abs. 1 OWiG ist vorgesehen, dass für das Bußgeldverfahren, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich die Strafprozessordnung, sinngemäß gelten. Die Strafprozessordnung ihrerseits sieht nicht nur Regelungen über die Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts des Verteidigers des von einem Verfahren Betroffenen vor (§ 147 Abs. 4 StPO), sondern regelt in umfassender Weise zum Beispiel auch in diesem Sachzusammenhang Befugnisse zum Beispiel des Verletzten (§ 406e StPO i. V. m. § 46 Abs. 3 Satz 4 OWiG) wie auch von sonstigen Privatpersonen, die ein berechtigtes Interesse für die Akteneinsicht darlegen (§ 475 Abs. 1 StPO; OVG Rheinland-Pfalz, a. a. O., Rn. 22). § 475 StPO enthält eine Regelung der Aktenübersendung als besondere Ausgestaltung des Akteneinsichtsrechts auch für einen Rechtsanwalt, der – wie hier – die Übersendung der Bußgeldakte lediglich zur Regulierung zivilrechtlicher Ansprüche beantragt hat. Danach können dem Rechtsanwalt einer Privatperson oder einer sonstigen Stelle, soweit ein berechtigtes Interesse dargelegt wird, auf Antrag nach § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 475 Abs. 3 Satz 2 StPO die Akten mit Ausnahme der Beweisstücke in seine Geschäftsräume oder seine Wohnung mitgegeben werden, soweit Akteneinsicht nach § 475 Abs. 2 StPO gewährt wird und nicht wichtige Gründe entgegenstehen. Davon wird auch die Versendung der Akten erfasst (OVG Nordrhein-Westfalen, a. a. O. Rn. 23).
4. Diese Auslegung des § 107 Abs. 5 OWiG, dass es bei der Kostenerhebung für die Aktenversendung nicht darauf ankommt, ob ein tatsächlicher Zusammenhang zu einem Bußgeldverfahren zur Verfolgung und Ahndung von Ordnungswidrigkeiten besteht, führt nicht dazu, dass die Vorschrift nicht mehr von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gedeckt wäre. Vielmehr besteht, soweit die betreffenden Akten jedenfalls auch der Prüfung der Einleitung eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens zu dienen bestimmt sind, ein auch kompetenzrechtlich ausreichender Zusammenhang zum Ordnungswidrigkeitenverfahren als Teil des Strafrechts i. S. v. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (s. auch OVG Nordrhein-Westfalen, a. a. O. Rn. 29; OVG Rheinland-Pfalz, a. a. O., Rn. 24).
5. Folglich kommt wegen § 1 Abs. 3 Satz 1 ThürVwKostG das Thüringer Verwaltungskostengesetzes i. V. m. der hierzu erlassenen Thüringer Allgemeinen Verwaltungskostenordnung als Rechtsgrundlage für den Kostenbescheid nicht in Betracht. Somit kann dahinstehen, ob, wie vom Beklagten unterstellt, die §§ 108, 62 OWiG hier ausschließt, dass die Verwaltungsgerichte § 107 Abs. 5 OWiG prüfen, demzufolge die Behörde nicht mehr als 12 Euro als Auslagen erheben kann. Dagegen spricht bereits, dass die Prüfung hier allein mit Blick auf § 1 Abs. 3 Satz 1 ThürVwKostG als Vorfrage für die Frage der Anwendbarkeit des Thüringer Verwaltungskostengesetzes stattfindet.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO in entsprechender Anwendung.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).


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