Verwaltungsrecht

Voraussetzung für Ausweisung aus generalpräventiven Gründen

Aktenzeichen  10 ZB 20.1852

Datum:
12.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32694
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1
VwGO § 108, § 136

 

Leitsatz

1. Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG BeckRS 2019, 16744). (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Im Einzelfall können auch minder schwere Straftaten ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen; erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Eine angemessene generalpräventive Wirkung der Ausweisung ist nicht zu erwarten bzw. ein Bedürfnis für generalpräventives Einschreiten besteht nicht, wenn der Sachverhalt Besonderheiten, insbesondere derart singuläre Züge aufweist, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht eintritt. (Rn. 7) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 6 VwGO hat nicht zur Voraussetzung, dass eine Entscheidung gar keine Gründe enthält; es reicht bereits aus, wenn die vorhandene Begründung nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend waren, weil die angeführten Gründe nicht nachvollziehbar, inhaltslos oder sonst unzureichend oder unbrauchbar sind. Lediglich unklare, unvollständige, oberflächliche oder unrichtige Entscheidungsgründe begründen dagegen keinen Fall des § 138 Nr. 6 VwGO. (Rn. 10) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

M 10 K 18.5628 2020-02-13 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich die Beklagte gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 13. Februar 2020, mit dem Nr. 1 (Ausweisung) und Nr. 3 (Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von vier bzw. sechs Jahren) ihres Bescheids vom 16. Oktober 2018 aufgehoben werden.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch liegt ein Verfahrensmangel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO vor.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Aufhebung der Ausweisungsverfügung samt der Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot damit begründet, dass die Ausweisung nicht auf § 53 Abs. 1 AufenthG gestützt werden könne, weil die vorausgesetzte Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger mangels Wiederholungsgefahr nicht gegeben sei, und im Folgenden unter Bezugnahme auf das Urteil des Strafgerichts vom 2. Mai 2018 und den Beschluss des Amtsgerichts München vom 31. August 2018 zur Strafaussetzung zur Bewährung ausführlich begründet, weshalb es die Gefahrenprognose der Beklagten nicht teile. Eine Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses mit dem Bleibeinteresse des Klägers nahm es nicht mehr vor.
Zur Begründung ihres Zulassungsantrags bringt die Beklagte vor, es bestünden ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils, weil die Urteilsgründe die generalpräventive Begründung der Ausweisung nicht erörterten und das Urteil somit einen für das Ergebnis wesentlichen Mangel enthalte. Vorliegend erweise sich die Ausweisung angesichts der Schwere des Delikts jedenfalls auch aufgrund ihrer generalpräventiven Zielsetzung als rechtmäßig, so dass das Verwaltungsgericht auch generalpräventive Aspekte bei seiner Entscheidung hätte einstellen müssen. Der streitgegenständliche Bescheid stütze sich ausdrücklich auf die Notwendigkeit, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten abzuhalten. Die Formulierung im Bescheid ziele auf eine selbständig tragende generalpräventive Begründung ab. Die Urteilgründe enthielten jedoch keine Ausführungen zur Generalprävention. Unabhängig davon hätte das Verwaltungsgericht vor Stattgabe der Klage prüfen müssen, ob sich die Ausweisung alternativ auch auf eine generalpräventive Begründung stützen könne.
Damit sind jedoch keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils dargelegt.
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 19) auf generalpräventive Gründe gestützt werden, denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – juris Rn.17). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es – anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. – nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Senats können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 – 10 ZB 16.1511 – juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 – 10 C 20.1895 – juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 – 10 ZB 19.2419 – juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 20.666 – juris Rn. 8) oder eine Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 7) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 – I C 33.72 – juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2020, § 53 AufenthG Rn. 32). Eine angemessene generalpräventive Wirkung der Ausweisung ist nicht zu erwarten bzw. ein Bedürfnis für ein generalpräventives Einschreiten besteht nicht, wenn der Sachverhalt Besonderheiten, insbesondere derart singuläre Züge aufweist, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung nicht eintritt.
Der Einwand der Beklagten, der Bescheid stütze sich selbständig tragend auch generalpräventive Aspekte, ist in dieser Form nicht zutreffend. Sie begründet in dem streitgegenständlichen Bescheid über Seiten (S. 4 bis 15), dass das persönliche Verhalten des Klägers eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle. Erst bei der Abwägung zwischen Ausweisungsinteresse und Bleibeinteresse führt die Beklagte erstmals generalpräventive Aspekte an. Konkrete Ausführungen dazu, weshalb im Fall des Klägers auch aus Gründen der Generalprävention eine Ausweisung gerechtfertigt sein sollte, finden sich in dem Bescheid nicht. Die Beklagte hat weder im Klageverfahren noch im Zulassungsverfahren hinreichend substantiiert dargelegt (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), dass die Voraussetzungen einer generalpräventiven Ausweisung im Fall des Klägers vorliegen. Insbesondere fehlt es an jeglichen Ausführungen dazu, weshalb trotz der vom Strafgericht angenommenen Sondersituation, in der sich der Kläger bei Begehung der Straftat befand, die beabsichtigte Abschreckungswirkung eintreten sollte. Das Strafgericht hat im Strafverfahren ein Sachverständigengutachten zur Feststellung der Schuldfähigkeit des Klägers eingeholt. Der Sachverständige kam zu Ergebnis, dass die Steuerungsfähigkeit des Klägers bei der Tat erheblich gemindert gewesen sei, er sich in einem Zustand hochgradig effektiver Erregung befunden habe und die Tat somit als Affekttat zu bewerten sei. Dieser Auffassung hat sich das Strafgericht im Urteil vom 2. Mai 2018 angeschlossen und ausgeführt, dass sich der Kläger in einem psychischen Ausnahmezustand befunden habe und die Tat in einem Zustand schwerer seelischer Erschütterung begangen habe (S. 41 des Strafurteils). Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung ersichtlich die Wertung des Strafgerichts zugrunde gelegt (UA S. 11), so dass eine Ausweisung des Klägers aus generalpräventiven Gründen wegen der Besonderheit des Sachverhalts ausschied und sich somit ein Eingehen auf generalpräventive Ausweisungsgründe erübrigte.
Auch das Vorbringen der Beklagten, die Begründung des Urteils genüge nicht den Anforderungen des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO und es liege ein Verfahrensfehler nach § 138 Nr. 6 VwGO vor, führt nicht zur Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 bzw. Nr. 5 VwGO. Ein Verstoß gegen die Begründungspflicht des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO begründet einen wesentlichen Verfahrensmangel (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) und absoluten Revisionsgrund (§ 138 Nr. 6 VwGO; Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 108 Rn. 76). Zwar können Unzulänglichkeiten bei der Urteilsbegründung auch ein Indiz für Mängel bei der inneren Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO) sein, die zur Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils führen können. Derartige Mängel zeigt der Zulassungsantrags aber nicht auf (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), die Beklagte rügt allein, dass die Urteilsgründe unvollständig seien.
Der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 138 Nr. 6 VwGO liegt jedoch nicht vor. Der absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 6 VwGO hat zwar nicht zur Voraussetzung, dass eine Entscheidung gar keine Gründe enthält, es reicht bereits aus, wenn die vorhandene Begründung nicht erkennen lässt, welche Überlegungen für die Entscheidung maßgebend waren, weil die angeführten Gründe nicht nachvollziehbar, inhaltlos oder sonst unzureichend oder unbrauchbar sind. Lediglich unklare, unvollständige, oberflächliche oder unrichtige Entscheidungsgründe begründen dagegen keinen Fall des § 138 Nr. 6 VwGO (Suerbaum in BeckOK, VwGO, Stand 1.7.2020, § 138 Rn. 82 m.w.N.). Die Lückenhaftigkeit der Entscheidungsgründe kann allerdings dann anders zu beurteilen sein, wenn das Urteil auf einzelne Ansprüche oder selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel überhaupt nicht eingeht. Solche selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur die eigenständigen Klagegründe bzw. solche Angriffs- und Verteidigungsmittel, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestalteten Rechtsnorm bilden (Eichberger/Buchheister in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 138 Rn. 145). Es kann offen bleiben, ob im vorliegenden Fall generalpräventive Gründe neben den spezialpräventiven Gründen einen derartigen selbständigen Tatbestand darstellen. Denn jedenfalls lässt sich aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe erschließen (vgl. hierzu Eichberger/Buchheister, a.a.O.), dass nach Auffassung des Verwaltungsgerichts eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen beim Kläger nicht in Betracht kommt. Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung das Vorbringen der Beklagten, beim Ausweisungsinteresse seien auch generalpräventive Aspekte zu berücksichtigen, und die Erwiderung des Klägers, die Ausweisung könne auch nicht auf generalpräventive Gründe gestützt werden, weil es sich um eine Affekttat in einer Ausnahmesituation gehandelt habe, zugrunde gelegt. Dies ergibt sich daraus, dass das Verwaltungsgericht das jeweilige Vorbringen im Tatbestand zitiert hat bzw. auf die Ausführungen Bezug genommen hat. In den Entscheidungsgründen erwähnt das Verwaltungsgericht generalpräventive Aspekte zwar nicht mehr. Es hat sich in seinen Ausführungen zur Wiederholungsgefahr aber auf die Feststellung des Strafgerichts im Strafurteil bezogen und damit deutlich gemacht, dass es dessen Einschätzung des Vorliegens einer einmaligen Ausnahmesituation beim Kläger teilt. Damit kommt aber eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen nicht mehr in Betracht, weil der Sachverhalt derart singuläre Züge (Augenblicksversagen) aufweist, dass die beabsichtigte Abschreckungswirkung schon deshalb nicht eintreten kann.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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