Verwaltungsrecht

Vorübergehende Aussetzung der Abschiebung zur Zeugenaussage in einem Strafverfahren

Aktenzeichen  M 6 S7 16.50188

Datum:
9.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60a Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

Eine Aussetzung der Abschiebung eines Ausländers nach § 60a Abs. 2 S. 2 AufenthG erfordert weder eine wesentliche Erschwerung der Aufklärung, noch dass das Strafverfahren bereits förmlich eingeleitet wurde. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom … Februar 2016 (M 6 S 15.50955) wird geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziff. 2 des Bescheids der Antragsgegnerin vom … November 2015 angeordnete Abschiebung nach Bulgarien wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Abänderungsverfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der …-jährige, nigerianische Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen seine drohende Überstellung nach Bulgarien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Nach Erkenntnissen des Bundesamts – Abgleich der Fingerabdrücke und eigene Angaben des Antragstellers – lagen Anhaltspunkte vor für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO).
Am … Oktober 2015 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-VO an Bulgarien. Mit Schreiben vom … Oktober 2015 erklärten die dortigen Behörden ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gem. Art. 18 Abs. 1c) Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom … November 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1) und ordnete seine Abschiebung nach Bulgarien an (Nr. 2). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf … Monate ab dem Tag des Abschiebung befristet (Nr. 3).
Gegen diesen Bescheid erhob die Bevollmächtigte des Antragstellers mit Schriftsatz vom … Dezember 2015, bei Gericht am … Dezember 2015 eingegangen, Klage mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids vom … November 2015 (M 6 K 15.50954) und beantragte gleichzeitig gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (M 6 S 15.50955). Dieser Antrag wurde mit Beschluss vom … Februar 2016 abgelehnt. Die Klage ist bei Gericht noch anhängig.
Mit Schriftsatz vom … Februar 2016, am selben Tag bei Gericht eingegangen, beantragte die Bevollmächtigte des Antragstellers:
in Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom … Februar 2016 die aufschiebende Wirkung der Klage Az: M 6 K 15.50954 gegen den Bescheid des Bundesamts anzuordnen bzw. wiederherzustellen.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller, wie bereits im vorherigen Verfahren vorgetragen, in einer Strafverhandlung als Opfer aussagen müsse. Nunmehr sei eine Ladung ergangen. Am … Mai 2016 solle der Kläger in einem Verfahren wegen versuchten Totschlags (er sei das Opfer) aussagen. Eine Kopie der Ladung sei beigelegt. Außerdem werde ein Arztbrief des medizinischen Versorgungszentrums der A.Kliniken vorgelegt und um Beachtung gebeten.
Die Antragsgegnerin äußerte sich nicht.
Zum weiteren Vorbringen der Parteien und zu den übrigen Einzelheiten wird auf die beigezogene Behördenakte sowie auf die Gerichtsakte aus diesem Verfahren und den Verfahren M 6 K 15.50954 und M 6 S 15.50955 Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines Beschlusses nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Es ist kein Rechtsmittelverfahren zur Überprüfung der Richtigkeit der ursprünglich ergangenen Entscheidung. Es setzt voraus, dass nach einem rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren Umstände, also Veränderungen der Sach- und Rechtslage vorgetragen werden, die ein Abweichen von der ursprünglichen Entscheidung rechtfertigen können (Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 80, Rn. 103).
Eine solche Änderung ist vorliegend gegeben. Die Sachlage hat sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 AsylG) maßgeblich zugunsten des Antragstellers geändert.
Durch die Vorlage der Ladung des Landgerichts A. vom … Februar 2016, in der der Antragsteller für den … Mai 2016 als Zeuge in einem Strafverfahren wegen Versuch des Totschlags geladen wurde, findet § 60a Abs. 2 S. 2 AufenthG Anwendung. Die Abschiebung eines Ausländers ist danach auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens (§ 12 StGB) von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre. Nicht vorausgesetzt wird, dass die Erschwerung wesentlich wäre (Funke-Kaiser in Gemeinschaftskommentar zum Aufenthaltsgesetz, AufenthG, Stand 1.12.2015, § 60a Rn. 272) oder das Strafverfahren bereits förmlich eingeleitet ist (Hailbronner, AuslR, Stand 1.1.2016, § 60a Rn. 69). Für die Vorschrift ist auch nicht erforderlich, dass der Antragsteller das Opfer der Straftat ist. Dies wird durch die Bevollmächtigte des Antragstellers zwar vorgetragen, ist jedoch der Ladung des Landgerichts A. nicht zu entnehmen.
Angesichts der nunmehr gegebenen Sachlage überwiegt das öffentliche Strafverfolgungsinteresse, mit dem das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage gleich läuft, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des streitgegenständlichen Bescheides. Die in Nr. 1 des Gerichtsbeschlusses vom … Februar 2016 getroffene ablehnende Entscheidung war daher abzuändern.
Eine Abänderung der Kostenentscheidung in Nr. 2 des Beschlusses ist nicht geboten, da die Anordnung der aufschiebenden Wirkung aufgrund veränderter Umstände nur mit Wirkung „ex nunc“ erfolgt.
Die Kosten des Abänderungsverfahrens hat gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Antragsgegnerin zu tragen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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