Verwaltungsrecht

Widerruf eines Abschiebungsverbot für einen Afghanen nach Volljährigkeit

Aktenzeichen  B 8 K 19.31478

Datum:
23.7.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 42691
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 73c Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Im Allgemeinen ist das Risiko der Verfolgung eines afghanischen Mannes vom Volk der Hazara auch nach einem langjährigen Aufenthalt in Europa oder Drittländern nicht beachtlich wahrscheinlich. (Rn. 44 – 51) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach den aktuellen Erkenntnissen ist für Afghanistan insbesondere wegen der Rückkehrhilfen trotz der Covid-19-Pandemie nicht von einer allgemeinen Gefahrenlage auszugehen, bei der eine Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

B 8 K 19.31478 2021-07-21 Bes VGBAYREUTH VG Bayreuth

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Die zulässige Klage, über die auch ohne einen Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO), hat keinen Erfolg.
1.1 Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Widerruf des festgestellten Abschiebungsverbotes beruht rechtsfehlerfrei auf § 73c Abs. 2 AsylG.
Diese Norm regelt den Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 AufenthG spezialgesetzlich und abschließend. Eine Anwendung der allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschrift des § 49 Abs. 1 VwVfG scheidet daneben aus (BVerwG, U.v. 29.09.2011 – 10 C 24/10 – juris, NVwZ 2012, 451).
Nach § 73c Abs. 2 AsylG ist die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 des Aufenthaltsgesetzes zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Der Ausländer ist gemäß § 73c Abs. 3 und § 73 Abs. 3a AsylG nach Aufforderung durch das Bundesamt persönlich zur Mitwirkung bei der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des Widerrufs oder der Rücknahme der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet, soweit dies für die Prüfung erforderlich und dem Ausländer zumutbar ist. Bei der Entscheidung nach Aktenlage sind nach Hinweis auf Umfang und Inhalt seiner Mitwirkungspflichten (hier im Anschreiben des Bundesamtes vom 31.05.2019 an den Kläger) für die Entscheidung über einen Widerruf oder eine Rücknahme nach dieser Vorschrift oder nach § 48 des VwVfG sämtliche maßgeblichen Tatsachen und Umstände zu berücksichtigen. Ferner ist zu berücksichtigen, inwieweit der Ausländer seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist.
Ausgehend von der Tatsache, dass nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG gemäß dem vorliegend einschlägigen Fachrecht nicht zwei verschiedene Schutzformen, sondern einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Schutz mit mehreren Anspruchsgrundlagen bildet (BVerwG, Urt. v. 29.06.2015, 1 C 2/15, NVwZ-RR 2015, 790, juris Rn. 14), erfordert die behördliche Aufhebung der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots, dass in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt die Feststellung zum Abschiebungsverbot nicht zutrifft, weil die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots weder nach § 60 Abs. 5 noch nach § 60 Abs. 7 AufenthG (mehr) gegeben sind.
Das Gericht hat dabei den streitgegenständlichen Bescheid umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, wobei auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie vom Bundesamt nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen sind. Denn die Aufhebung eines solchen, nicht im Ermessen des Bundesamtes stehenden Entscheidungen setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO deren objektive Rechtswidrigkeit voraus; daran fehlt es auch dann, wenn er aus einem im Bescheid oder im Verfahren nicht angesprochenen Grund (nach BVerwG, U.v. 29.06.2015 – 1 C 2/15 – juris Rn. 15, in NVwZ-RR 2015, 790, auch nachfolgend bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eingetretene Tatsachen) rechtmäßig ist. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so hat eine Klage erst dann Erfolg, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also, wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden.
1.2 Ausgehend von diesen Erwägungen ist der Widerrufsbescheid nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen für einen Widerruf von nationalen Abschiebungsverboten liegen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vor.
Die dem Bescheid maßgeblich zugrundeliegende Minderjährigkeit des Klägers war bereits zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses im Widerrufsverfahren zweifellos entfallen. Die damit verbundene Folge der Minderjährigkeit, die fehlende Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit als Minderjähriger zur Deckung seines Lebensunterhaltes ist – unabhängig vom Fehlen familiärer Bindungen in Afghanistan – in Folge dessen ebenfalls entfallen.
1.3 Der Kläger hat als alleinstehender, gesunder, nunmehr volljähriger junger Mann auch aus anderen Gründen in Anbetracht aller Erkenntnisse zum Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 (hierzu 1.3.1) und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (hierzu 1.3.2).
1.3.1 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.01.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 – juris Rn. 25).
Gemessen an diesem Maßstab von Art. 3 EMRK stellt sich eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan weder im Hinblick auf die dort bestehende Sicherheitslage (hierzu A.) noch in Anbetracht der dort herrschenden humanitären Verhältnisse (hierzu B.) als Konventionsverstoß dar.
A.
Nach den Grundsätzen der Rechtsprechung insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – EGMR – ist eine solche Gefahr weder im Hinblick auf die allgemein in Afghanistan bzw. Kabul bestehende Sicherheitslage noch unter Berücksichtigung etwaiger individueller gefahrerhöhender Umstände in der Person der Kläger anzunehmen. Nach der Rechtsprechung des EGMR kann eine allgemeine Situation der Gewalt ein Abschiebungsverbot nach Art. 3 EMRK nur in äußerst extremen Fällen („in the most extreme cases“) begründen, nämlich, wenn sie derart intensiv ist, dass die bloße Anwesenheit einer Person im Zielstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zur Folge hat (vgl. U.v. 23.08.2016, Nr. 43611/11 – F.G./Schweden, Rn. 116; U.v. 15.10.2015, Nr. 40081/14 u.a. – L.M. u.a./Russland, Rn. 119 m.w.N.; U.v. 28.06.2011, a.a.O., Rn. 216, 218, 241; U.v. 17.07.2008, Nr. 25904/07 – N.A./Vereinigtes Königreich, Rn. 115). Ob diese Intensitätsschwelle erreicht ist, bestimmt sich insbesondere nach der Art der von den Konfliktparteien eingesetzten Kampfmethoden sowie deren Eignung, die Zivilbevölkerung – gezielt oder mittelbar – zu gefährden, ferner nach der Intensität und Ausdehnung des Konflikts und nach der Anzahl der aufgrund der Kampfhandlungen vertriebenen, verletzten und getöteten Zivilpersonen (vgl. EGMR, U.v. 28.06.2011, a.a.O., Rn. 241, 248). Diese Betrachtung schließt eine annäherungsweise quantitative Ermittlung der Häufung von Akten willkürlicher Gewalt und der Zahl der dabei Verletzten und Getöteten in Relation zur Gesamteinwohnerzahl des betreffenden Gebietes ein, um das individuelle Verletzungsrisiko von Zivilpersonen auf einer validen Tatsachengrundlage beurteilen zu können (vgl. OVG Münster, U.v. 18.06.2019 – 13 A 3930/18.A – juris Rn. 93 ff.).
Die Sicherheitslage ist volatil und regional stark unterschiedlich (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistans vom 16.07.2020 i.d.F. v. 14.01.2021, Stand: Juni 2020, S. 4); Jedoch ist ein im Sinne der dargestellten Rechtsprechung ausreichend hohes Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, in Afghanistan nicht gegeben (vgl. auch BayVGH, U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342 – juris; B.v. 26.01.2021 – 13a ZB 20.31823 -; B.v. 14.01.2021 – 13 ZB 20.30953 -; U.v. 01.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris; B.v. 23.10.2019 – 19.32670 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 05.08.2019 – 13a ZB 19.32217 – juris Rn. 8, B.v. 25.02.2019 – 13a ZB 18.32203 – juris; B.v. 30.01.2019 – 13a ZB 17.31111 – juris; B.v. 11.01.2019 – 13a ZB 18.32929 – juris; B.v. 10.01.2018 – 13a ZB 17.31664 – juris; VGH BW, U.v. 12.12.2018 – 11 S 1923/17 – juris; NdsOVG, U.v. 29.01.2019 – 7 LB 93/18 – juris).
Diese Annahme ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
a. Als maßgebliche Rechengrundlagen für die Bewertung des Risikos als Zivilperson Opfer des Konflikts zu werden, sind aus Sicht des Gerichts die Opferzahlen von UNAMA und die Bevölkerungszahlen, die die Republik Österreich für die einzelnen Provinzen (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020) angibt, zugrunde zu legen. Das Gericht ist der Auffassung, dass es auch in Ansehung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH, U.v. 10.06.2021 – C-901/19, Rn. 40 ff.). zweckmäßig ist, weiterhin die Kriterien des Bundesverwaltungsgerichts zur Gefahrendichte heranzuziehen, da diesbezüglich zwar keine vollends befriedigende, doch in gewisser Hinsicht nachvollziehbare Datengrundlage zur Verfügung steht. Weiterhin ergibt sich mit der Methode des Bundesverwaltungsgerichts eine gewisse Messbarkeit und Objektivierung der Beurteilung. Dennoch erfordert die Methode weitere, andere Gesichtspunkte, um individuellen Besonderheiten Rechnung zu tragen Hinsichtlich der Opferzahlen (Verletzte und Tote) kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes nur auf zivile Opfer an. Diese werden alleine von UNAMA zuverlässig erhoben (zur methodischen Belastbarkeit der Zahlen der United States Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) vgl. OVG Münster, U.v. 18.06.2019, 13 A3930/18.A, juris Rn. 140 ff.). Andere Quellen stützen sich selbst wieder auf die Erkenntnisse von UNAMA (bspw. EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation Update June 2019, S. 22), oder legen ungeprüft Opfer aller Auseinandersetzungen zugrunde, ohne einen Unterschied zu machen, ob es sich um zivile oder militärische Opfer handelt. Letzteres trifft insbesondere auf die Zahlen der Organisation ACLED (The Armed Conflict Location & Event Data Project) zu. Hier werden Zahlen aus unterschiedlichsten Quellen insbesondere auch Medienberichten zusammengetragen, ohne dabei zu unterscheiden, ob es sich bei den Opfern um zivile oder militärische Opfer handelt. Weiterhin gibt ACLED, anders als UNAMA, den Beteiligten des Konflikts keine Möglichkeit, die Zahlen zu überprüfen. Soweit auch Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHCR) Daten erhebt, liegen diese im vergleichbaren Spektrum wie die der UNAMA.
Hinsichtlich der Bevölkerungszahlen bezieht die Republik Österreich (a.a.O.) sich auf Schätzungen der Central Statistics Organization der Islamischen Republik Afghanistan. Dort wird die Gesamtbevölkerung mit etwa 30 Mio. Einwohner angegeben. Diese Zahlen erscheinen als Zahlen einer offiziellen Stelle ausreichend seriös, auch wenn es sich um Schätzungen handelt. Zahlenmaterial, das nicht auf Schätzungen beruht, ist nicht verfügbar.
Dem Gericht ist bewusst, dass die Zahlen selbst, genauso wie die darauf errechneten Wahrscheinlichkeiten nur Näherungen sein können, da beispielsweise sowohl bei der Erfassung der Daten, als auch in Bezug auf die einzelnen Erhebungszeitpunkte sowie die Zuordnung der Opfer zu den einzelnen Anschlägen notwendigerweise Unschärfen bestehen. Diese sind bei dem – allerdings unumgänglichen – statistischen Abgleich unvermeidbar. Insoweit ist jedoch geklärt, dass eine annährungsweise Ermittlung der entsprechenden, zueinander ins Verhältnis zu setzenden Zahlen ausreichend ist (BayVGH, B.v. 13.01.2017 – 13a ZB 16.30182 – juris Rn. 6). Dass die Opferzahlen, wie teils eingewandt wird (vgl. Stahlmann, Asylmagazin 2017, 82 mit Fn. 2), – bei anderer Zählweise – höher liegen können, ändert diese nicht. Die von UNAMA mitgeteilten Daten sind methodisch nachvollziehbar ermittelt und auch deswegen belastbar, weil sie von einer von der internationalen Staatengemeinschaft getragenen Organisation stammen. Dass die Methodik der UNAMA überholt wäre, die Informationen an offen erkennbaren inhaltlichen Defiziten, insbesondere an entscheidungserheblichen unzutreffenden Tatsachenannahmen, unlösbaren Widersprüchen, sich aus den Stellungnahmen ergebenden Zweifeln an der Sachkunde oder der Unparteilichkeit oder eines speziellen, hier nicht vorhandenen Fachwissens litten (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2015 – 7 C 15/13 – NVwZ 2016, 308/312 Rn. 47 m.w.N.), ist weder ersichtlich noch substantiiert gerügt. Im Gegenteil liegen für Afghanistan mangels Einwohnermeldewesens auch für die Bevölkerungszahlen nur Schätzungen vor (dies räumt auch Stahlmann, Asylmagazin 2017, 73/74 ein), so dass jede Datenerhebung schon deswegen an tatsächliche Grenzen stößt. Dass und weshalb andere Auskunftsquellen methodisch belastbarere Primärdaten hätten, ist nicht ersichtlich (BayVGH, U.v. 01.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris; B.v. 20.02.2019 – 13a ZB 17.31832 – juris Rn. 12; B.v. 18.10.2017 – 13a ZB 17.31068), so dass die Daten von UNAMA zugrunde gelegt werden.
Aus den dargestellten Gründen ist daher auf die Zahlen von UNAMA hinsichtlich der Opfer und die Zahlen des Österreichischen Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl hinsichtlich der Einwohnerzahlen abzustellen. Die Zahl der Opfer beinhaltet Tote und Verletzte gleichermaßen, da für die Gewährung von subsidiärem Schutz nach § 4 AsylG auch eine Bedrohung der Unversehrtheit ausreicht.
b. Unter Zugrundelegung dieser Zahlen (vgl. Afghanistan, Annual report on protection of civilians in armed conflict vom Februar 2021) ergibt sich für das Jahr 2020 eine Opferwahrscheinlichkeit für Zivilisten in Afghanistan in Höhe von 0,025%. Diese liegt unter der vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Schwelle von 1:800 bzw. 0,125%, die in Ansehung der o.g. Rechtsprechung des EuGHs als solche keine Mindestvoraussetzung für das Bejahen einer ernsthaften Bedrohung ist; ihr kommt allerdings eine nach Ansicht des Gerichts in Anbetracht der ansonsten nur schwer skalierbaren Kriterien im Regelfall eine Indizwirkung zu.
c. Für die einzelnen Provinzen ergeben sich folgende Opferwahrscheinlichkeiten für das Jahr 2020:
Zentrales Gebiet: Provinz Kabul – 0,009%, Provinz Kapisa – 0,030%, Provinz Panjshir – 0,00%, Provinz Parwan – 0,010%, Provinz Wardak – 0,023%, Provinz Logar – 0,039%; zentrales Hochland: Provinz Bamjan – 0,019%, Provinz Daikundi – 0,014%; südliches Gebiet: Provinz Kandahar – 0,039%, Provinz Helmand – 0,028%, Provinz Nimroz – 0,028% Provinz Uruzgan – 0,042%, Provinz Zabul – 0,079%, süd-östliches Gebiet: Provinz Ghazni – 0,031%, Provinz Paktya – 0,034%, Provinz Khost – 0,044%, Provinz Paktika – 0,015%; östliches Gebiet: Provinz Laghman – 0,054%, Provinz Nangarhar – 0,034%, Provinz Kunar – 0,034% Provinz Nuristan – 0,002%; nord-östliches Gebiet: Provinz Baghlan – 0,025%, Provinz Kunduz – 0,039%, Provinz Takhar – 0,022%, Provinz Badakhshan – 0,01762%; nördliches Gebiet: Provinz Faryab – 0,05191%, Provinz Jawzjan – 0,0199%, Provinz Balkh – 0,0472%, Provinz Samangan – 0,0309%, Provinz Sar-e Pul – 0,0259%; westliches Gebiet: Provinz Herat – 0,0158%, Provinz Badghis – 0,0402%, Provinz Farah – 0,0202%, Provinz Ghor – 0,0353%.
Diese liegen allesamt deutlich unter dem vom Bundesverwaltungsgericht genannten Wert von 1:800 bzw. 0,125%; auch die Provinz Kabul (die Provinz, in der der Kläger bei einer Rückkehr zunächst ankommen wird) liegt weit unter dem kritischen Wert. In der Provinz Kabul kam es im Jahr 2020 zu 817 zivilen Opfern, darunter 255 Tote und 562 Verletzte (vgl. hierzu und zum Folgenden UNAMA, Annual Report 2020, S. 110). Obwohl es sich dabei um die höchsten zivilen Opferzahlen unter den 34 Provinzen des Landes handelt, stellt dies gegenüber 2019 einen Rückgang um 48% dar. Die häufigste Schädigungsursache machten dabei gezielte Tötungen aus, gefolgt von Sprengsätzen und Selbstmordanschlägen.
EASO geht demgegenüber nur für die Provinz Nangarhar, pauschal, sowie für die Provinzen Faryab, Kunduz, Laghman, Kunar, Ghazni, Paktia, Zabul, Helmand und Farah bei Hinzutreten weiterer kleinerer individueller, gefahrerhöhender Umstände von einem ausreichend relevanten Risiko, Opfer von willkürlicher Gewalt zu werden, aus (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, June 2019, Seite 28); nachdem dort die Methode, die zu diesem Ergebnis führt, allerdings nicht offengelegt ist, vermag diese Quelle die oben nach der Rechtsprechung des BVerwG vorgenommene Bewertung nicht überzeugend zu widerlegen.
Im Übrigen ist dies für das vorliegende Verfahren ohne entscheidende Relevanz, da der Kläger in die Stadt Kabul zurückkehren kann. Auch soweit er Stammesangehörige bzw. Angehörige der Großfamilie in der Provinz Ghazni hat, kann er dorthin zurückkehren, da individuelle gefahrerhöhende Umstände nicht ersichtlich sind; solche wurden auch nicht vorgetragen..
d. Die Zahlen können auch für das Jahr 2021 prognostisch zu Grunde gelegt werden. In der Gesamtschau ergibt sich für die Entwicklung der zivilen Opferzahlen und deren Ursachen über die Jahre hinweg folgendes Bild: Die Opferzahlen bewegen sich auf einem relativ konstant hohen Level. Die höchsten Zahlen wurden 2015 (11.035) und 2016 (11.452) verzeichnet. In den vergangenen Jahren waren die Zahlen jeweils niedriger (2017: 10.459; 2018: 10.993; 2019: 10.392; 2020: 8.820). Die Opferzahlen sind 2018 im Vergleich zu 2017 um 5% gestiegen, um dann 2019 wiederum um etwa 5% gegenüber dem Wert von 2018 zu fallen, was den niedrigsten Wert seit 2013 darstellt (Accord, Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 26.08.2020, Nr. 1 (S. 6). Der Trend sinkender Zahlen hat sich auch 2020 fortgesetzt. Hinweise auf einen signifikanten Anstieg der Opferzahlen, der dazu führen würde, dass ein subsidiärer Schutz zuzuerkennen wäre, lässt sich den Berichten der UNAMA und Accord nicht entnehmen. Im ersten Quartal 2021 wird zwar ein Anstieg der Opferzahlen von 29 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal ersichtlich, wobei es sich allerdings beim Vorjahreszeitraum um den niedrigsten Wert seit 2012 handelt. Das Niveau im ersten Quartal 2021 entspricht demjenigen des Jahres 2014 (Accord, Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan vom 06.05.2021). Selbst wenn sich – wie angedeutet – die Opferzahlen 2021 wieder etwas erhöhen, ist nach derzeitigem Erkenntnisstand davon auszugehen, dass sie dennoch weit unterhalb der nach den obigen Kriterien für relevant gehaltenen Gefährdungslage für eine Zivilperson liegen.
e. Auch bei einer wertenden Gesamtbetrachtung ist die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung allein aufgrund einer Exposition der in Afghanistan bzw. Kabul als auch in Ghazni herrschenden allgemeinen Sicherheitslage aufgrund der erheblichen Differenz, bis die vom Bundesverwaltungsgericht als maßgeblich bewerteten Gefahrendichte (s.o.) erreicht ist, nicht festzustellen:
Im Rahmen einer notwendigen Gesamtbetrachtung werden als sicherheitsrelevant neben den Gewalttaten, die der politische Konflikt bedingt (s.o.), auch die ansteigende Gewaltkriminalität in Großstädten wie Kabul bewertet (vgl. hierzu und zum Folgenden EASO, Security Situation, September 2020, S. 42, 59). Diese äußert sich insbesondere in Tötungs- und Raubdelikten, Einbrüchen, Entführungen und Auseinandersetzungen mit Schusswaffen zwischen kriminellen Banden, auch im Zusammenhang mit Drogengeschäften. Die Reaktion der Polizei wird als kapazitäts-, aber auch korruptionsbedingt unzureichend beschrieben.
Im Hinblick auf das durch den EUGH (s.o.) im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung noch herangezogene Kriterium konfliktbedingter Vertreibungen aus einer bestimmten Region (vgl. Urt. v. 28.06.2011, Nr. 8319/07, 11449/07 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681, Rn. 241, 248) ist letztendlich festzustellen, dass aus Kabul keine solchen Vertreibungen oder Fluchtbewegungen berichtet werden; die Stadt ist vielmehr den Erkenntnissen zufolge weiterhin Anziehungspunkt für Auslandsrückkehrer und Binnenflüchtlinge.
Dem Gericht ist dabei bewusst, dass die derzeitige Beurteilung der Sicherheitslage nur eine Momentaufnahme darstellt. Die weitere Entwicklung in Afghanistan infolge der Friedensverhandlungen in Doha und dem begonnenen Abzug der alliierten Truppen, der bis zum 11.09.2021 abgeschlossen sein soll, bleibt abzuwarten. Eine sichere Prognose der zu erwartenden Szenarien, deren Bandbreite von einem Friedensschluss in Doha bis zu einem erneuten langjährigen Bürgerkrieg reicht, wäre derzeit reine Spekulation (vgl. BayVGH, U.v. 07.06.2021- 13a B 21.30342).
f. Mangels individueller gefahrerhöhender Umstände in der Person des Klägers ist eine tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Hinblick auf dessen persönliche Sicherheit nicht ersichtlich.
Das Erfordernis einer Gefahr allgemeinerer Art schließt es nicht aus, dass in der Person des Schutzsuchenden gefahrerhöhende Umstände vorliegen, die aus der allgemein bestehenden Gefährdung hervortreten und vermuten lassen, dass der Schutzsuchende eher zum Opfer willkürlicher Gewalt wird als die übrige Bevölkerung (EuGH, U.v. 30.01.2014 – C-285/12 [Diakite] -, juris, Rn. 31; EuGH, U.v. 17.02.2009 – C-465/07 [Elgafaji] -, juris, Rn. 39, 43). Solche gefahrerhöhenden Umstände können sich nach Auffassung des Gerichts beispielsweise aus der Zugehörigkeit zu den afghanischen Sicherheitsdiensten (Regierungsbediensteter, Polizei oder Militärangehöriger) ergeben oder bei Personen vorliegen, die solche Einrichtungen regelmäßig durch Warenlieferungen und Leistungen unterstützen. Als gefahrerhöhendes Moment kann auch die Tätigkeit als Arzt oder Journalist anzusehen sein, da dieser Personenkreis sich von Berufs wegen besonders häufig im Bereich von Gefahrenquellen aufhalten muss. Gefahrerhöhendes Merkmal kann schließlich auch die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten religiösen oder ethnischen Minderheit sein (vgl. zu den beiden letzten Aspekten BVerwG, U.v. 17.11.2011 – BVerwG 10 C 13.10 -, juris, Rn. 18).
Gefahrerhöhende Umstände der vorbeschriebenen Art sind beim Kläger nicht in entscheidender Form ersichtlich. Da er weder beim Bundesamt noch im gerichtlichen Verfahren hierzu Angaben irgendeiner Art machte und auch in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, sind dem Gericht jenseits der Erkenntnisse aus den Akten keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, die ein gefahrerhöhendes Element begründen könnten. Im Iran hat er nach seinen Angaben eine langjährige Schulbildung erfahren, die ihm bei einer Erwerbstätigkeit hilfreich sein kann.
Auch nach obergerichtlicher Rechtsprechung (vgl. etwa BayVGH B.v. 08.10.2020 – 13a ZB 18.33212 m.w.N. – juris; U.v. 17.01.2020 – 13a ZB 20.30107 – juris; U.v. 08.11.2018 – 13a B 17.31960 – juris; B.v. 12.04.2018 – 13a ZB 18.30135 – juris; B.v. 04.01.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; VGH BW, U.v. 11.04.2018 – A 11 S 924/17 – juris; U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris; U.v. 05.12.2017 – A 11 S 1144/17 – juris), der sich das Gericht anschließt, scheitert eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich nicht an einem langjährigen Aufenthalt in Europa oder Drittländern. Im Allgemeinen ist das Risiko der Verfolgung von Männern, die als „verwestlicht“ empfunden werden, nicht beachtlich wahrscheinlich und hängt von den spezifischen individuellen Umständen ab (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan, Juni 2019, S. 65). Zwar werden Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Gleichzeitig hängt ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familien oftmals der Makel des Scheiterns an (vgl. EASO, COI QUERY Nr. 1.1 v. 02.09.2020). Dem Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Danach gebe es lediglich unbestätigte Meldungen über versuchte Entführungen aufgrund der Vermutung, der Rückkehrer sei im Ausland zu Vermögen gekommen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistans vom 16.07.2020 i.d F. v. 14.01.2021, Stand: Juni 2020, S. 24 f..). Abhängig von seinen in Europa erworbenen Erfahrungen kann sich der Kläger möglicherweise sogar in einer vergleichsweise guten Position befinden. Maßgeblich ist vielmehr, dass der Betroffene den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat, mit der Kultur und typischen Verhaltensweise vertraut ist und eine der beiden Landessprachen spricht. Dies ist vorliegend der Fall.
Dies gilt unbeschadet einzelner Fälle, die den Angaben von Friederike Stahlmann (Gutachten Afghanistan an das Verwaltungsgericht Wiesbaden v. 28.03.2018, S. 312 ff.) zugrunde liegen (a.a.O. S. 314/315).
Aus den verfügbaren Informationen geht zudem hervor, dass Personen, die im Iran oder in Pakistan geboren wurden und/oder lange Zeit dort gelebt haben, im Allgemeinen keine Verfolgungsgefahr droht. Dies gilt unbeschadet einzelner Fälle, in denen aufgrund zusätzlicher Umstände ein Zusammenhang hergestellt werden könnte (vgl. EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2019, S. 75).
Auch die religiöse Prägung oder ethnische Prägung des Klägers geben keinen Anhalt für eine Gefahrerhöhung.
Soweit der Kläger dem Volk der Hazara angehört, ist nicht feststellbar, dass er allein aufgrund seiner Volkszugehörigkeit einer konventionsverletzenden Situation ausgesetzt werden würde. Insbesondere kann nicht von einer Verfolgung der gesamten Volksgruppe ausgegangen werden (st. Rspr.: vgl. BayVGH, B.v. 24.02.2020 – 13a ZB 18.32368 – juris Rn. 11; OVG Niedersachsen, U.v. 29.01.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 75; VGH Baden-Württemberg, U.v. 17.01.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 77 ff.).
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus (BFA, Länderinformation, Afghanistan, aus dem COI-CMS v. 14.06.2021, S. 306). Sie leben hauptsächlich in den westlichen (bis hinein nach Nordafghanistan) und zentralen Provinzen des Landes (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amts, in der Fassung vom 14.01.2021, Stand Juni 2020, S. 8). Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert (Auswärtiges Amt, Lagebericht in der Fassung vom 14.01.2021, Stand Juni 2020, S. 8, S. 8). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (BFA, Länderinformation, Afghanistan, aus dem COI-CMS v. 14.06.2021, S. 306).
Eine Gruppenverfolgung aller Hazara, die einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bedeuten könnte, kann im Übrigen auch nicht etwa deshalb angenommen werden, weil diese Opfer von Anschlägen und kriminellen Übergriffen werden.
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle gab, bei denen Hazara und/oder Schiiten als Opfer betroffen waren (vgl. BFA, Länderinformation, Afghanistan, aus dem COI-CMS v. 14.06.2021, S. 307). So sind immer wieder Anschläge auf schiitische Einrichtungen zu verzeichnen, was wiederum zur Folge hat, dass oftmals auch die überwiegend dieser Konfession zugehörigen Hazara davon betroffen sind (vgl. BFA, Länderinformation, Afghanistan, aus dem COI-CMS v. 14.06.2021, S. 307). Auch vor diesem Hintergrund kann jedoch keine über eine nur latente oder potentiell bestehende Gefährdungslage hinausgehende Bedrohung angenommen werden, die die Feststellung zuließe, dass grundsätzlich die gesamte Volksgruppe der Hazara mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Anschlägen getroffen würde. Auch 2020 wurden bereits mehrere Anschläge gegen Hazara bzw. Schiiten verübt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht i.d.F. v. 14.01.2021, S. 8). Dennoch lassen sie in ihrer Zahl nicht den Schluss zu, dass über eine potentielle Gefahr hinaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer Gefahr für jeden einzelnen Gruppenangehörigen bestünde. Zusätzlich wurden mit den steigenden Angriffen auch die Sicherheitsmaßnahmen der afghanischen Regierung verbessert (BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, aus dem COI-CMS v. 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 21.07.2020, S. 288). Teilweise lässt sich zudem auch nicht feststellen, ob Hazara von kriminellem Unrecht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der Ethnie oder aufgrund anderer Umstände betroffen sind (vgl. dazu Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl a.a.O. S. 288 (Angriffe durch 2019 durch ISKP: zwar waren unter den Getöteten auch Hazara, die meisten Opfer waren Nicht-Hazara-Schiiten und Sunniten); EASO Country Guidance: Afghanistan vom Juni 2019, S. 23 und 69). Dies gilt beispielsweise für die Vorfälle auf Straßen. Hier ist unklar, ob die Hazara als Hazara betroffen werden oder weil sie überdurchschnittlich viel reisen.
B.
Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung droht dem Kläger zum anderen nicht im Hinblick auf die in Afghanistan bzw. Kabul herrschenden humanitären Verhältnisse. Auch insofern steht ihm hinsichtlich Afghanistans kein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung im Zielstaat kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt, einem besonderen Merkmal des Ausländers, oder einer Verbindung aus beiden ergeben (BVerwG U.v. 31.01.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146,12, Rn. 25). Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 04.07.2019 – 1 C 45.18- juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; U.v. 13.06.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 – NVwZ 2013, 1489 – juris Rn. 25; EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 278 ff.; BayVGH, U.v. 08.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 19; OVG NW, U.v. 18.06.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 104 ff. m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.01.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 45 ff. m.w.N.; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 176 f.). Der Europäische Gerichtshof – EuGH – stellt in ähnlichem Zusammenhang zu Art. 4 GrCH darauf ab, ob sich betroffene Ausländer unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihm nicht erlaubt, die elementarsten Bedürfnisse, wie insbesondere Nahrung, Körperhygiene und Obdach zu befriedigen (EuGH U.v. 19.03.2019 – Ibrahim, C 297/17 – juris; U.v. 19.03.2019 – Jawo, C 163/17 – juris Rn. 92 ff.). In zeitlicher Hinsicht geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 Paposhvili – NVwZ 2017, 1187 Rn. 175 ff.) davon aus, dass ein schwerwiegender, irreversibler Zustand schnell eintreten müsse. Grundsätzlich muss der Asylbewerber ernsthafte Gründe für die Annahme darlegen, dass er im Fall der Durchführung einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (s. EGMR, U. v. 28.6.2011 − 8319/07 Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich Rn. 214 m.w.N.; EGMR U.v. 26.07.2005 – 38885/02 Nr. 167 – N./Finnland; vgl. auch EGMR U.v. 29.04.1997 – 24573/94 – Slg. 1997-III, S. 758 Nr. III40 = NVwZ 1998, 163 – H. L. R./Frankreich; vgl. NVwZ 2012, 681 Rn. 213, 2014,). Hierbei ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles anzustellen. Diese hängen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) von den Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls ab, wie etwa der Art und dem Kontext der Fehlbehandlung, der Dauer, den körperlichen und geistigen Auswirkungen sowie ggf. von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen; insofern sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen.
Nach den aktuellen Erkenntnissen ist trotz der Pandemie nicht von einer allgemeinen Gefahrenlage auszugehen, bei der eine Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit gegen Art. 3 EMRK verstoßen würde. Gemessen an der o.g. zu überwindenden Schwelle extremer materieller Not oder des Zustandes der Verelendung, lassen die Erkenntnisse derzeit nicht den allgemeinen Schluss zu, in Afghanistan stünde für jeden Bewohner oder Rückkehrer – auch in Beachtung der infolge der Auswirkungen der Corona-Pandemie zugespitzten wirtschaftlichen und humanitären Situation vor Ort – unabhängig von eigenem Zutun unausweichlich ein solcher Zustand bevor. Eine Rückkehr nach Afghanistan führt allgemein für volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige noch nicht zu einer im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG beachtlichen Verletzung von Art. 3 EMRK. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass neben alleinstehenden leistungsfähigen afghanischen Männern auch Paare in erwerbsfähigem Alter als Rückkehrer grundsätzlich ihren zumutbaren Lebensunterhalt in Afghanistan sichern können, selbst wenn sie auf kein Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen können (vgl. zuletzt BayVGH U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342 – juris; OVG Hamburg U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris; sowie BayVGH B.v. 26.01.2021 – 13a ZB 20.31823 -; B.v. 08.10.2020 – 13a ZB 18.33212 -; B.v. 02.10.2020 – 13a ZB 18.30862 -; U.v. 01.10.2020 -13a B 20.31004 – juris). Insbesondere im Zusammenwirken mit den umfangreichen Rückkehrhilfen und der Möglichkeit, zwischenzeitlich selbst soziale Netzwerke aufzubauen, erscheint ein Überleben in Afghanistan von Rückkehrern auch ohne familiäres Netzwerk ohne Verelendung möglich. Die Lage ist derzeit weiterhin schwierig, hinreichend konkrete Schlüsse, dass Rückkehrer im Allgemeinen verelenden, lassen sich hieraus jedoch nicht ziehen.
Das Gericht macht sich die tatsächlichen Feststellungen und Bewertungen in den oben genannten obergerichtlichen Entscheidungen zu eigen und schließt sich diesen vollumfänglich an. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen und ergänzen.
Nach den aktuellen Erkenntnissen stellt sich die Lage in Afghanistan allgemein als auch mit den zusätzlichen Auswirkungen der Pandemie (hierzu a. bis d.) derzeit wie unten ausgeführt dar. Insbesondere unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers lässt sich nicht erkennen, dass er im Falle einer Rückkehr verelenden würde (hierzu e.).
a. Bereits vor der Corona-Pandemie wurde aus den Erkenntnissen ersichtlich, dass Rückkehrer zusätzlich zu den allgemeinen Problemen der gesamten afghanischen Bevölkerung weiteren Schwierigkeiten ausgesetzt sind.
Übereinstimmende Berichte unterschiedlicher Quellen zu verschiedenen Formen sozialer Stigmatisierung und Diskriminierung von Rückkehrern aus Europa und anderen westlichen Industrienationen durch die afghanische Gesellschaft erschweren im Einzelfall eine Reintegration in die afghanische Gesellschaft: Rückkehrer würden danach als solche wahrgenommen und mit verschiedenen Vorurteilen konfrontiert. Diese reichten von unpatriotischem Verhalten durch die Ausreise, unterstelltem unislamischen Verhalten im Westen bis zu angenommenen kriminellen Tätigkeiten im Ausland, die zur Abschiebung geführt haben könnten. Diese Einstellung habe bisweilen zur Folge, dass zurückkehrende Personen Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt sowie beim Finden einer Unterkunft haben. Daneben stelle ein vermuteter Reichtum manchmal einen Auslöser dar, um ins Visier von Kriminellen zu gelangen. Außerdem wird berichtet, dass Rückkehrer teilweise mit Rückzahlungsforderungen von Schleppern und anderen Personen, denen Geld geschuldet wird, zu kämpfen haben (vgl. hierzu Republik Österreich, Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS, letzte Änderung 01.04.2021, Seite 361, Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019; Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 08-09/2019, 276-286; AHRDO, Deportation to Afghanistan: A Challenge to State Legitimacy and Stability, November 2019; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 02.09.2019, S. 31; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 30.09.2020 Seite 12 und 19ff.; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, Country of Origin Information Report, Seite 18).
Diesen Berichten ist allerdings nicht zu entnehmen, dass Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) von einer Verletzung von Art. 3 EMRK betroffen sind. Insbesondere tragen diese Berichte nicht die Schlussfolgerung, dass den Rückkehrern regelhaft der Zugang zu sozialen Netzwerken, zu Arbeit und Unterkunft sowie insgesamt zu einer Existenzsicherung verwehrt bleibt. Dies ergibt sich auch daraus, dass die Zahl der in Quellen als Belege angeführten Fälle bezogen auf die Gesamtzahl der hier zu betrachtenden Personengruppe zu gering erscheint, um belastbare Aussagen zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer solchen diskriminierenden Behandlung zu treffen (vgl. OVG Hamburg U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris). Allen genannten Quellen, die Probleme der Rückkehrer beschreiben, liegt nur ein eingeschränktes Datenmaterial zugrunde. Dies gilt ebenso für die letzte Dokumentation von Frau Stahlmann, „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen“ vom Juni 2021 über Erfahrungen von 113 Personen von insgesamt 908 nur aus Deutschland abgeschobenen Personen im Zeitraum von Dezember 2016 und März 2020, auch wenn Bemühungen um eine Generalisierung erkennbar sind. Die Anzahl der auch aus anderen europäischen Ländern nach Afghanistan überstellten Personen dürfte um ein Vielfaches höher sein, so dass auch diesem Grund die von ihr erfassten Angaben einer Verallgemeinerung schwer zugänglich sind.
Auch in ihrer Studie aus 2019 (Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, 276-286) konnte sie im Ergebnis nur bei 5% der Rückkehrer aus Deutschland die von ihr beschriebenen Probleme feststellen: In der Studie wurden von 547 Männern, die zwischen Dezember 2016 und April 2019 aus Deutschland abgeschoben wurden, zum Stand Juli 2019 lediglich zu 55 Personen Informationen dokumentiert. Hiervon wurden wiederum nur 31 Männer in die Statistik zu Gewalterfahrungen aufgenommen, die bereits länger als zwei Monate in Afghanistan verbracht hatten. Von diesen hatten 28 Gewalterfahrungen gemacht. Das bedeutet, dass in dieser Studie nur zu knapp über 5% aller aus Deutschland abgeschobenen Personen Gewalterfahrungen dokumentiert sind. Dies kann keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen begründen, tatsächlich mit den genannten Problemen konfrontiert zu werden.
Zusätzlich wären die Zahlen zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus Europa und anderen Ländern, wie beispielsweise der Türkei, ins Verhältnis zu setzen und nicht lediglich zu den aus Deutschland abgeschobenen Afghanen (NdsOVG B.v. 12.12.2019 – 9 LA 452/19, Rn. 15 – juris; vgl. zu dieser Relation auch: HessVGH, U.v. 27.09.2019 – 7 A 1637/14.A – juris Rn. 132 und – 7 A 1923/14.A – juris Rn. 136).
Alle genannten aktuellen Quellen beschreiben zudem, dass es schwierig sei, das Schicksal von Rückkehren überhaupt länger zu beobachten, da der Kontakt abbreche oder gar nicht erst hergestellt werden könne. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass diejenigen, die Kontakt zu den Studienerstellern haben, ein Interesse daran haben können, übersteigerte (Gewalt-)Erfahrungen darzustellen. Aus diesen verschiedenen Gründen sind die Auskünfte nur begrenzt belastbar. Stahlmann räumte selbst Raum für solch kritische Betrachtungen ein (Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, Seite 285; vgl. auch ausführlich NdsOVG B.v. 12.12.2019 – 9 LA 452/19, Rn. 15 – juris).
Insbesondere erscheint das mehrfach verwendete Argument, aufgrund des Abreißens von Kontakten auf eine Verelendung der abgeschobenen Person zu schließen, nicht schlüssig. Die Erkenntnisse lassen auch nicht die Annahme zu, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit abgeschobene Personen eine drohende Verelendung nur dadurch vermeiden könnten, dass sie Straftaten begingen oder sich bewaffneten Konfliktparteien anschlössen. Soweit auf erneute Ausreisen hingewiesen wird, gehen deren Beweggründe vielfach über die Abwendung einer bevorstehenden Verelendung hinaus. So steht dieser Annahme, eine erneute Ausreise diene regelhaft der Abwendung einer in absehbarer Zeit oder gar kurzfristig bevorstehenden Verelendung im Sinne der Anforderungen von Art. 3 EMRK, auch der typischerweise sehr hohe finanzielle Aufwand einer Emigration aus Afghanistan, zumal bis nach Europa, entgegen (vgl. OVG Hamburg U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris).
Es gibt zudem kaum dokumentierte Fälle ernsthafter Diskriminierung oder nachgewiesene Fälle, in denen Rückkehrer aufgrund des Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden (Republik Österreich a.a.O. S. 361). Demgegenüber gibt es auch Informationen, dass sich die Rückkehrer und insbesondere Hazara gegenseitig unterstützen (Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 26), und dass die Familien die Rückkehrer wieder aufnehmen, auch wenn sie diesen gegenüber eine gewisse Skepsis zeigen (vgl. dazu Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, S. 1; Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, 276-286, zu Familien insbesondere S. 282).
Im Übrigen ist in den Stadtvierteln, die von neu eingewanderten Menschen mit gleichem regionalem oder ethnischem Hintergrund dicht besiedelt sind, eine Art „Dorfgesellschaft“ entstanden, deren Bewohner sich kennen und direktere Verbindungen zu ihrer Herkunftsregion haben als zum Zentrum Kabuls. Einige Beispiele für die ethnische Verteilung der Kabuler Bevölkerung sind die folgenden: Hazara haben sich hauptsächlich im westlichen Viertel Chandawal in der Innenstadt von Kabul und in Dasht-e-Barchi sowie in Karte Se am Stadtrand niedergelassen; Tadschiken bevölkern Payan Chawk, Bala Chawk und Ali Mordan in der Altstadt und nördliche Teile der Peripherie wie Khairkhana; Paschtunen sind vor allem im östlichen Teil der Innenstadt Kabuls, Bala Hisar und weiter östlich und südlich der Peripherie wie in Karte Naw und Binihisar, aber auch in den westlichen Stadtteilen Kota-e-Sangi und Bazaar-e-Company (auch Company) ansässig; Hindus und Sikhs leben im Herzen der Stadt in der Hindu-Gozar- Straße (vgl. dazu BFA, Länderinformation Afghanistan aus dem COI-CMS vom 14.06.2021). Diese Situation wirkt allgemeinen Diskriminierungen entgegen und befördert die Möglichkeiten, eine Erwerbsmöglichkeit zu finden.
Auch geben die Studien an, dass Rückkehrer überwiegend über Netzwerke an Arbeit gekommen sind (Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu Erfahrungen abgeschobener Afghanen, Asylmagazin 8-9/2019, 276-286; Finnish Immigration Service, Afghanistan: Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Situation of Returnees in Kabul, 15.10.2019, Seite 16; UNHCR living conditions and settlement decisions of recent afghan returnees, Juni 2019 Seite 21), was darauf schließen lässt, dass sie von der Gesellschaft nicht vollständig ausgegrenzt werden und grundsätzlich in der Lage sind, sich nach der Rückkehr wieder eine Existenz aufzubauen.
Zudem handelt es sich bei Rückkehrern aus dem europäischen und benachbarten Ausland um eine inzwischen angewachsene und signifikante Bevölkerungsgruppe (Republik Österreich, Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS, letzte Änderung 01.04.2021, Seite 361), zu der es keine expliziten Informationen dahingehend gibt, dass diese grundsätzlich nicht zurechtkommen. Auch machen in weiten Teilen Kabuls die Einheimischen neben großen Zahlen in jüngerer Zeit Zugezogener (insbesondere Auslandsrückkehrern und Binnenvertriebenen) nur noch eine Minderheit der Stadtbevölkerung aus, so dass sich auch diesbezüglich der mögliche Zugang zu Netzwerken als auch ein Aufbau von Netzwerken von Zugezogenen sich in einem anderem Licht darstellt.
Ein Netzwerk erleichtert das Leben und Überleben in Afghanistan wesentlich. Unstreitig wird auch eine Reintegration bei Vorhandensein von sozialen Netzwerken erleichtert. Hieran anzuknüpfen kann im Einzelfall durchaus schwierig sein. Manche Rückkehrer greifen auf sonstige Kontakte/soziale Netzwerke zurück, wenn ihnen ein familiäres Netz nicht zur Verfügung steht. Sollten diese Kontakte/Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage Afghanistans, den ohnehin großen Familienverbänden und individuellen Faktoren ist diese Unterstützung jedoch meistens nur temporär und nicht immer gesichert. Das Netzwerk beschränkt sich gerade nicht nur auf die Familie; als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politischen Netzwerke u.v.m.. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse; auch unterscheidet sich Rolle der Netzwerke in ländlichen und städtischen Gebieten.
Aufgrund der Auskunftslage kann aber nicht festgestellt werden, dass ohne die Existenz eines solchen Netzwerks bei Rückkehr im Regelfall in einem engeren zeitlichen Zusammenhang mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verelendung droht. Der Aufbau eines Netzwerks „aus eigener Kraft“ erscheint zudem nicht ausgeschlossen, auch wenn dies schwerer zu bewerkstelligen ist. Nach einer Rückkehr nach Afghanistan ist auch ohne Zugriff auf ein hilfreiches Netzwerk- zumindest nach einer zu überbrückenden Zeit für einen Aufbau – die Schaffung eines eigenen sozialen Netzwerkes möglich, was eine Verelendung verhindert.
Ein wesentlicher Faktor für eine Verelendung ist naturgemäß u.a. die Anzahl von Haushaltsmitgliedern, die von einem Einkommen abhängen.
Daneben besteht regelmäßig weiterhin die Möglichkeit, (zumindest) finanzielle Unterstützung durch die eigenen Familienverbände (auch aus dem Ausland) zu erhalten und darüber auch das Überleben zu sichern (Stahlmann, Überleben in Afghanistan? Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 3/2017, S. 73 ff), auch wenn solche Überweisungen durch den Umstand, dass beispielsweise im Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben (darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viele Afghanen sind) und viele Afghanen aus dem benachbarten Ausland nach Afghanistan zurückgekehrt sind, zurückgegangen sind.
b. Die Covid-19 Pandemie führt nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen zu einer Zuspitzung der bereits vorher angespannten wirtschaftlichen Lage. Für 2020 wird von einem Rückgang des realen Bruttoinlandsproduktes um 5,5 bis 7,4% ausgegangen, der maßgeblich auf die Auswirkungen des Lockdowns auf die Bereiche Dienstleistung und produzierendes Gewerbe zurückzuführen ist (vgl. World Bank Group, Development Update July 2020, S. III, 15; World Bank Group, Global Economic Prospects, Januar 2021, S. 100; Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand 14.01.2021, S. 22, a.a.O.). Der Anstieg der Lebensmittelpreise habe sich im Mai 2020 wieder gemäßigt, insbesondere auch im Hinblick auf die gute landwirtschaftliche Ernte. Die sonstigen Preise seien weitgehend stabil geblieben. Insgesamt sei die Armutsrate in 2019/20 in Afghanistan trotz der negativen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie im Ergebnis auf 47,1% gesunken (im Vergleich zu 2016/17: 54,5%). Auch wenn sie in urbanen Gebieten pandemiebedingt zwischenzeitlich deutlich angestiegen sei (von 39% auf 53% insgesamt; Kabul 17%, sonstige Städte 11%), gehe sie in ländlichen Gebieten aufgrund einer erhöhten landwirtschaftlichen Produktion und einem gestiegenen Export von Obst und Gemüse trotz der Pandemie weiter zurück. (BayVGH, U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342; BFA, Länderdokumentation aus dem COI-CMS, v. 14.06.2021, Seite 15, IOM Information on the socio-economic situation in the light of COVID -19 in Afghanistan requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum 23.09.2020, S. 6).
Neben Industrie und Exportwirtschaft haben die verhängten Eindämmungsmaßnahmen vor allem den Dienstleistungssektor stark getroffen (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. II, 2). Die Landwirtschaft ist durch die Pandemiesituation weniger beeinträchtigt worden und konnte sich aufgrund günstiger Wetterbedingungen auch von den Auswirkungen der Dürre des Jahres 2018 erholen (vgl. World Bank Group, a.a.O., S. II, III, 3, 15). Die Weltbank hat ihre im Juli 2020 getroffene Prognose, die afghanische Volkswirtschaft werde im Jahr 2021 ein Wachstum von lediglich ca. 1% erfahren, im Januar 2021 angepasst und prognostiziert nunmehr ein Wachstum von 2,5% in 2021 und von 3,3% in 2022, wobei die Möglichkeit weiterer Pandemiewellen und einer stockenden Impfkampagne in gewissem Umfang berücksichtigt ist (vgl. hierzu und zum Folgenden World Bank Group, Development Update July 2020, S. III f., 15; World Bank Group, Global Economic Prospects, Januar 2021, S. 95 ff.).
Die Arbeit humanitärer Helfer ist inzwischen wieder weniger Hemmnissen ausgesetzt (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand 21.07.2020, Seite 2; s.a. UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report 12.11.2020). In diesem Zusammenhang sind auch der Afghanische Staat sowie die internationale Staatengemeinschaft aktiv geworden und haben vielfältige Hilfsprogramme für Haushalte in wirtschaftlicher Not aufgelegt (Republik Österreich a.a.O. Seite 3; UNOCHA COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 15.10.2020; OVG Hamburg, U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris mit weiteren Nachweisen).
c. Laut dem aktuellen IOM-Informationsblatt Afghanistan vom Dezember 2020 (Nr. 3., Wohnsituation) müsse man für einen „angemessenen“ Lebensstandard im Stadtzentrum von Kabul mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350,- USD (dies entspricht ca. 290,- EUR) pro Monat rechnen. In ländlichen Gebieten könne man mit mindestens 50% weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen. Zwar ist nicht gänzlich klar, ob die IOM mit einem „angemessenen“ Lebensstandard auf das nach Art. 3 EMRK erforderliche Existenzminimum abzielte (im Ergebnis verneinend OVG Hamburg, U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris Rn. 140 ff.). Dagegen spricht, dass die IOM im Länderinformationsblatt Afghanistan 2019 noch denselben Betrag von 350,- USD für einen „sehr guten“ Lebensstandard im Stadtzentrum von Kabul angesetzt hatte (Nr. IV., Wohnsituation). Zudem liegt laut der IOM selbst das afghanische Durchschnittseinkommen lediglich zwischen 95,- und 130,- USD pro Monat (IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2020, Nr. IV. „Arbeitsmarkt“; vgl. BayVGH, U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342 – RNr. 36).
Darüber hinaus erscheint es am Maßstab von Art. 3 EMRK einem jungen, erwachsenen, gesunden und alleinstehenden männlichen Rückkehrer auch zumutbar, sich Wohnraum mit weiteren Personen zu teilen, sodass er die Kosten eines Zimmers bzw. 1-Zimmer-Apartments – einschließlich Kaution und Heizkosten – nicht dauerhaft allein zu tragen hat. Dem entspricht, dass nach den Feststellungen im Urteil des OVG Hamburg v. 25.03.2021 (- 1 Bf 388/19.A – juris) in Afghanistan statistisch fast die Hälfte der städtischen Bevölkerung in überbelegtem Wohnraum mit durchschnittlich 3 Personen pro Zimmer lebt (zit. nach OVG Münster, Urt. v. 18.06.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 221 f.; vgl. auch FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 13). Das Teilen von Wohnraum ist insbesondere unter Rückkehrern üblich (vgl. FIS, a.a.O., S. 21) und auch Wohngemeinschaften junger Männer nehmen zu (vgl. Asylos, Situation of Young Male „Westernised“ Returnees to Kabul, August 2017, S. 64).“
Trotz aller Schwierigkeiten kann es nicht als beachtlich wahrscheinlich gelten, dass jeder junge, gesunde und alleinstehende männliche Rückkehrer nach Afghanistan bzw. Kabul auch nach Ablauf einer mehrmonatigen oder auch mehrjährigen Wiedereinfindungsphase dauerhaft auf die Einkommensverhältnisse eines ungelernten Arbeiters im Rahmen der öffentlichen Tagelöhnermärkte beschränkt wäre. Für Rückkehrer wirken sich insbesondere im Ausland erworbene Fähigkeiten positiv auf die Arbeitsplatzsuche aus (Republik Österreich, Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation aus dem COI-CMS, letzte Änderung 01.04.2021, Seite 362).
d. Zur Finanzierung des Lebensminimums können insbesondere Rückkehrer bei einer freiwilligen Rückkehr erhebliche Rückkehrhilfen https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/reag-garp/) in Anspruch nehmen, die nicht nur das Überleben in der Anfangszeit, sondern darüber hinaus auch die Schaffung einer eigenständigen Existenzgrundlage ermöglichen können. Auch unter den aktuellen Bedingungen der Covid-19-Pandemie können (freiwillige) Rückkehrer aus Deutschland nach Afghanistan während und in den ersten Monaten nach ihrer Rückkehr in beachtlichem Umfang Hilfsangebote in Gestalt insbesondere von Geld-, daneben auch Sach- und Beratungsleistungen erhalten. Dabei handelt es sich insbesondere um Förderung im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus und ERRIN (European Return and Reintegration Network ist ein gemeinsames Rückkehr- und Reintegrationsprogramm von zahlreichen europäischen Partnerstaaten unter der Leitung der Niederlande) sowie um Beratungs- und Betreuungsangebote durch Ipso Afghanistan. Informationen und Kontakt sind auf den Webseiten nachzulesen. Auch über die Bayerische Richtlinie zur Förderung der freiwilligen Rückkehr ins Herkunftsland „Bayerisches Rückkehrprogramm“ vom 30.08.2019, in der Fassung gültig ab 01.02.2021 (https://lfar.bayern.de/mam/ueber_das_lfar/aufgabenbereiche/freiwilligerueckkehr/bayerische_richtlinie_zur_f%C3%B6rderung_der_freiwilligen_r%C3%BCckkehr_-_bayerisches_r%C3%BCckkehrprogramm_-_vom_30.08.2019.pdf) können bei Mittellosigkeit Rückkehrhilfen verschiedenster Art (Zuschuss zur Existenzgründen, Wohnungskostenzuschuss, Überbrückungsgeld, medizinische Unterstützung und weitere individuelle Sonderbedarfe) in Höhe von höchstens 3.000 EUR/Person bzw. 1.500 EUR/Person und 18 Jahren beantragt werden.
Die gewährten Leistungen haben zum jetzt maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt einen Umfang erreicht, dass allein diese einen volljährigen, alleinstehenden und arbeitsfähigen Rückkehrer – unabhängig von der Möglichkeit, sich sofort nach Rückkehr durch Erwerbstätigkeit selbst einen Lebensunterhalt zu erwirtschaften – in die Lage versetzen, sein Existenzminimum in Afghanistan über einen hinreichenden, eine Verletzung von Art. 3 EMRK ausschließenden Zeitraum bestreiten zu können (vgl. BayVGH a.a.O.; so auch OVG Hamburg, U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris Rn. 135). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf grundsätzlich derjenige des Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland nicht, der eine geltend gemachte Gefährdung in seinem Heimatland oder in einem anderen Zielstaat der Abschiebung durch zumutbares eigenes Verhalten, wozu insbesondere die freiwillige Ausreise und Rückkehr in den Heimatstaat gehört, abwenden kann (BVerwG, U.v. 15.04.1997 – 9 C 38.96 – BVerwGE 104, 265 – juris Rn. 27; VGH Mannheim, U.v. 17.12.2020, A 11 S 2042/00, juris Rn. 110 m.w.N.). Hieraus folgt, dass sich ein Ausländer im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG bei der Rückkehrprognose auf die Inanspruchnahme finanzieller Hilfen im Falle der freiwilligen Rückkehr ins Heimatland verweisen lassen muss, auch wenn er zu einer solchen nicht bereit ist, sondern letztlich abgeschoben wird.
Aus diesem Grund ist es nicht entscheidungserheblich, dass diese Rückkehrhilfen sich (nur) an freiwillige bzw. die Rückkehr jedenfalls aktiv mitgestaltende Asylbewerber richten, eine „echte“ Freiwilligkeit jedoch in vielen Fällen nicht gegeben ist.
Das Förderprogramm REAG/GARP übernimmt bei der freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland oder Weiterwanderung in einen aufnahmebereiten Staat
– Kosten der Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Abreisort/Flughafen. In begründeten Fällen kann die Anreise mit nichtöffentlichen Verkehrsmitteln (Dienstwagen, Taxis, etc.) beantragt werden.
– Reisekosten ins Herkunftsland (mit Flugzeug, Bahn oder Bus) oder Benzinkosten in Höhe von 250,00 € pro PKW,
– Reisebeihilfe in Höhe von 200,00 € pro Erwachsenen/Jugendlichen, 100,00 € für Kinder unter 12 Jahren und
– Starthilfen in Höhe von 1.000 € pro Person ab 18 Jahren und 500 € pro Person unter 18 Jahren. Die maximale Förderhöhe im Rahmen der Starthilfe beträgt 3.500 € pro Familie bzw. Familienverband.
– StarthilfePlus 2021, sog. 2. Starthilfe: Pro Familie 2.000 €/Einzelpersonen 1.000 € und
– Corona Zusatzzahlungen für Familien i.H.v. 1.000 € für Familien/Einzelpersonen 500 €
– Bayer. Rückkehrprogramm (Richtlinie i.d.F. gültig ab 01.02.2021: Reintegrationshilfe: 500 EUR
– Bayer. Rückkehrprogramm (Richtlinie i.d.F. gültig ab 01.02.2021: Existenzgründungszuschuss, Qualifizierungs- bzw. Bildungszuschuss, Ausbildungsbeihilfe, Lohnkostenzuschuss, Wohnungskostenzuschuss, Überbrückungsgeld, medizinische Unterstützung, bis 3.000,- €)
Im Falle einer Antragstellung bis zum 30.09.2021 (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ergaenzende-reintegrationsunterstuetzung-im-zielland-bei-einer-freiwilligen-rueckkehr-mit-reag-garp/) kann somit ein alleinstehender, volljähriger Rückkehrer in diesem Rahmen Geldleistungen im Umfang von im Normalfall 3.000 EUR (REAG/GARP sowie StarthilfePlus, ohne Reisebeihilfen sowie bayerische Reintegrationshilfe) sowie evtl. (ab Mai 2021 wurden die Hilfe allerdings vorläufig ausgesetzt) zusätzliche Leistungen aus ERRIN erhalten (freiwillige Rückkehr, Einzelperson: bis zu 2.000 EUR; freiwillige Rückkehr im Familienverbund: bis zu 5.000 EUR; bei festgestellter Vulnerabilität: einmalig zusätzlich 1.000 EUR; rückgeführte Personen: bis zu 1.500 EUR; vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin/). Nach dem genannten Stichtag, mit dem – nach derzeitigem Stand – die Verfügbarkeit bestimmter pandemiebezogener Corona Zusatzzahlungen enden wird, wird voraussichtlich jedenfalls bis zum 31.03.2022 der reguläre Leistungsumfang der vorgenannten Programme von bis zu 2.000 EUR (ohne Reisebeihilfen) für eine Einzelperson sowie u.U. zusätzliche Leistungen aus dem ERRIN-Programm fortbestehen. Zur Übersicht aller derzeit vorhandenen Rückkehrhilfen vgl. BayVGH U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342 -).
Es ist nicht ersichtlich, dass die Inanspruchnahme von Rückkehrhilfen bei einer freiwilligen Rückkehr derzeit nicht möglich wäre. Neuere Auskünfte legen zudem dar, dass sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer weiter entsprechende Hilfen (IOM INFORMATION on the socio-economic situation in the light of COVID-19 in Afghanistan requested by the Austrian Federal Office for Immigration and Asylum 23.09.2020, S. 6).
Der Inanspruchnahme solcher finanziellen Rückkehrhilfen steht nicht entgegen, dass ein Rechtsanspruch auf Gewährung dieser Geldleistungen nicht gegeben ist, denn es liegen weder Berichte dazu vor, dass eine Bewilligung in der Vergangenheit trotz Erfüllung der Förderungsvoraussetzungen versagt worden wäre, noch Anhaltspunkte dafür, dass dies zukünftig zu erwarten stünde (vgl. BayVGH a.a.O; ähnlich VG Freiburg, U.v. 05.03.2021 – A 8 K 3716/17 – juris Rn. 56 m.w.N.). Im Übrigen ist jedenfalls für Kabul als Zielort der Rückkehr auch nicht ersichtlich, dass ein Empfang der sog. zweiten Starthilfe sowie der Coronavirus-Zusatzzahlungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an tatsächlichen Hindernissen im Land scheitert.
Darüber hinaus unterhält die Internationale Psychosoziale Organisation (Ipso) im Stadtkern von Kabul ein Zentrum für psychosoziale Beratung und mentale Gesundheit (hierzu und zum Folgenden https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/ipso-afghanistan sowie https://ipsocontext.org/de/projekte/afghanistan; vgl. zu Ipso auch FIS, Fact-Finding Mission to Kabul in April 2019, Oktober 2019, S. 15; Auswärtiges Amt, Lagebericht 2020, S.4). Rückkehrer auch aus Deutschland, welche die Wiedereinfindung in der afghanischen Gesellschaft oder der örtlichen Gemeinschaft als problematisch und psychisch belastend erleben, erhalten Unterstützung insbesondere in Form von psychosozialer und psychiatrischer Betreuung, psychologischer Beratung, Hilfsgruppen und psychosozialer Beratung online; alle Angebote sind kostenfrei. Ipso kooperiert zudem mit dem Projekt „Kolba-e-Ma“, das in Kabul soziale Treffpunkte für Rückkehrer organisiert. Aus der Erwägung, dass gerade junge Rückkehrer die afghanische Kultur oftmals im Wesentlichen durch ihre Eltern im Ausland vermittelt bekommen haben, zielt das Projekt darauf ab, das Wiederknüpfen sozialer Kontakte durch soziale Aktivitäten zu fördern und dadurch auch den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Einkommensquellen zu erleichtern.
e. Insbesondere in Berücksichtigung der individuellen Umstände in der Person des Klägers ist nicht festzustellen, dass er im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan bzw. Kabul aufgrund der dort herrschenden humanitären Lage in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung geriete.
Es besteht angesichts der o.g. finanziellen Rückkehrhilfen die Möglichkeit für den Kläger, die erste Zeit nach seiner Einreise in Afghanistan bis zur Erwirtschaftung eigenen Einkommens zu überbrücken, so dass er nicht in die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung geriete.
Der Kläger ist erwerbsfähig. Es sind keine der Erwerbtätigkeit entgegenstehende gesundheitlichen Einschränkungen erkennbar, die ihn an einer Erwerbstätigkeit hindern könnten, da er derzeit eine Ausbildung als KFZ-Mechaniker absolviert.
Selbst bei einem Ansatz von 350,- USD bzw. 290,- EUR pro Monat als „angemessener Lebensstandard“ (siehe oben) würde ein Rückkehrer (ohne ERRIN-Hilfen) nur mit den in Geld erhaltenen Rückkehrhilfen (3.000,- EUR) sein Leben etwa 8 bzw. 10 Monate lang in Afghanistan finanzieren können Nach den Berechnung des OVG Hamburg (OVG Hamburg, U.v. 25.03.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris Rn. 140 ff.) könnten unter Zugrundelegung von niedrigeren, nur „ausreichenden Lebenshaltungs- und Unterkunftskosten“ mehr als 2,5 Jahre für eine Einzelperson in Kabul bzw. „bei Zugrundelegung monatlicher Budgets, wie sie derzeit einem Großteil der [regelhaft mehrköpfigen] afghanischen Haushalte zur Verfügung stehen“, sogar 43 bis 72 Monate finanziert werden; nach den Berechnungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes im Urteil vom 07.06.2021 (a.a.O.) immerhin 14 Monate.
Der Kläger erfüllt auch die Voraussetzungen für eine Förderung im Rahmen der Rückkehrhilfen-Programme REAG/GARP und StarthilfePlus, auf deren Grundlage er eine mehrmonatige bzw. mehrjährige Wiedereinfindungsphase finanziell würde überbrücken können. Er ist leistungsberechtigt im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG (vgl. „Förderfähiger Personenkreis und Voraussetzungen“ des Informationsblatt REAG/GARP 2021, Stand Februar 2021), soweit er (oder die unterhaltspflichtigen Angehörigen oder andere Stellen) die Mittel nicht selbst aufbringen kann. Zwingende Umstände, die ihn an einer rechtzeitigen Antragstellung im Rahmen der genannten Förderprogramme hindern könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Unter Berücksichtigung der Auswirkungen der weltweit anhaltenden Corona-Pandemie wird die seit letztem Jahr gewährte zusätzliche finanzielle Unterstützung – in Form einer Corona-Zusatzzahlung – zunächst bis 30.09.2021 für alle StarthilfePlus – Rückkehrenden verlängert (vgl. https://www.bamf.de/DE/Themen/ Rueckkehr/StarthilfePlus/starthilfeplus-node.html).
Damit kann er im Falle einer Antragstellung bis zum 30.09.2021 in diesem Rahmen Geldleistungen im Umfang von in aller Regel 3.000 EUR (ohne Reisebeihilfen) erhalten, was zur Bestreitung einer Eingewöhnungsphase von etwa 8 bis 10 Monaten als ausreichend erachtet werden kann.
Dass er gehindert wäre, solche finanziellen Rückkehrhilfen rechtzeitig zu beantragen, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich sind.
Zu den in Geld erhaltenen Rückkehrhilfen können überdies erhebliche Sachleistungen zur Unterstützung der Reintegration im Heimatland hinzukommen; insbesondere kann im Bedarfsfall auch medizinische Unterstützung in erheblichem Umfang gewährt werden (siehe obige Aufstellung). Daneben können afghanische Rückkehrer über die in Kabul ansässige Organisation Ipso (https://ipsocontext.org/de) kostenfrei u.a. individuelle psychologische Beratung, medizinische Untersuchungen und psychiatrische Behandlung erlangen. Zudem stehen Rückkehrern Migrationsberatungs- und Reintegrationsangebote vor Ort zur Verfügung (www.startfinder.de), die sie über die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) bei der Jobsuche, beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen und der Existenzgründung sowie bei sozialen Fragen – u.a. zu Wohnung, Schule und Gesundheitsversorgung – unterstützen (vgl. Bundesregierung, BT-Drs. 19/24779 v. 27.11.2020, S. 11; vgl. BayVGH, U.v. 07.06.2021 – 13a B 21.30342 – juris).
Der Kläger spricht mit der Sprache farsi, die einer der Landessprachen Afghanistans dari sehr ähnlich ist, eine der Landessprachen Afghanistans. Da er alleinstehend ist, muss er weitere Unterhaltsverpflichtete nicht versorgen.
Einer Einreise nach Kabul steht nicht entgegen, dass seitens des UNHCR die Stadt Kabul als mögliche zumutbare Neuansiedlungsalternative als sehr kritisch bewertet wird (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, S. 129 als deutsche Zusammenfassung der UNHCR Eligibility Guidelines for assessing the international protection needs of asylum-seekers from Afghanistan vom 30.08.2018, S. 114), da im Übrigen weitere urbane und semiurbane Gegenden grundsätzlich als interne Alternative zur Verfügung stehen und in Afghanistan kein Einwohnermeldewesen besteht (Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019, Nr. 19.1., S. 328 ff.). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass der UNHCR in seinen Richtlinien die quantitative Gefahrendichte im Verhältnis zur Einwohnerzahl berücksichtigt (vgl. NdsOVG, B.v. 10.01.2019 – 9 LA 168/18 – juris).
Darüberhinausgehende perspektive Prognosen erschöpften sich in bloßen Spekulationen.
Weitere Gründe hat der Kläger nicht vorgetragen. Zur mündlichen Verhandlung war er nicht erschienen und nahm damit die Möglichkeit zum Vortrag besonderer individueller Verhältnisse nicht wahr.
1.3.2 Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei sind nach § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Beruft sich der Ausländer demzufolge auf allgemeine Gefahren, kann er Abschiebungsschutz regelmäßig nur durch einen generellen Abschiebestopp nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG erhalten.
Eine (individuelle) Gefahr im Sinne dieser Vorschrift kann auch bestehen, wenn der Ausländer an einer Erkrankung leidet, die sich aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat voraussichtlich verschlimmern wird. Erforderlich aber auch ausreichend ist insoweit, dass sich die vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise zu verschlimmern droht, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d.h. eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, U.v. 09.09.1997 – 9 C48.96 -, BVerwGE 105, 383 ff., und U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33 (36); B.v. 17.08.2011 – 10 B 13.11 -, juris). Dies kann beispielsweise dann der Fall sein, wenn in dem Abschiebezielstaat dringend erforderliche Behandlungsmöglichkeiten fehlen oder wenn solche Behandlungsmöglichkeiten zwar vorhanden, für den betreffenden Ausländer aber aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen nicht erreichbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002 – 1 C 1.02 -, DVBl. 2003, 463). Allerdings muss sich der Ausländer grundsätzlich auf den im Zielstaat vorhandenen Versorgungsstand im Gesundheitswesen verweisen lassen. Denn § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG garantiert auch für chronisch Erkrankte keinen Anspruch auf „optimale Behandlung“ einer Erkrankung oder auf Teilhabe an dem medizinischen Standard in Deutschland. Der Abschiebungsschutz soll den Ausländer vielmehr vor einer gravierenden Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter bewahren (vgl. OVG NW, B.v. 14.06.2005 – 11 A 4518/02.A -, juris, und B.v. 30.10.2006 – 13 A 2820/04.A -, juris). Um ein durch eine Erkrankung begründetes Abschiebungshindernis feststellen zu können, ist indes stets eine hinreichend konkrete Darlegung der gesundheitlichen Situation erforderlich, die in der Regel durch ein ärztliches Attest zu untermauern ist (vgl. dazu nur VG München U.v. 24.02.2012 – M 22 K 10.30780 -, juris; VG Gelsenkirchen, U.v. 11.02.2014 – 6a K 2325/12.A – und U.v. 17.07.2012 – 6a K 4667/10.A -, jeweils juris; siehe auch OVG NW, B.v. 02.01.2012 – 13 A 2586/11.A -, juris; Bergmann, in: Renner, Ausländerrecht, Kommentar, 10. Aufl. 2013, § 74 AsylVfG Rn. 25 ff.).
Ein Abschiebungsverbot nach dieser Vorschrift besteht weder in Bezug auf die individuelle gesundheitliche Verfassung des Klägers (hierzu a.) noch – in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift – angesichts des allgemeinen Risikos einer Erkrankung an COVID-19 nach einer Rückkehr nach Afghanistan (hierzu b.).
a. Eine erhebliche konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG für Leib oder Leben des Klägers aufgrund einer bestehenden Erkrankung ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
b. Dass der Kläger im Falle einer Rückkehr durch eine schwerwiegende Erkrankung am Corona-Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit einer derart extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, ist nach den Erkenntnissen zu den Verhältnissen in Afghanistan und zu der Erkrankung selbst nicht anzunehmen.
Im Übrigen sind Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Nur ausnahmsweise kann hier Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beansprucht werden, wenn der Ausländer bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Dies ist bei Bestehen einer extremen allgemeinen Gefahrenlage gegeben, in welcher jeder Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Gesundheitsbeeinträchtigungen ausgeliefert würde. Bezüglich der erforderlichen Wahrscheinlichkeit des Gefahreintritts ist für das Vorliegen einer extremen Gefahrenlage ein gegenüber dem im Asylrecht entwickelten Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit strengerer Maßstab anzulegen; die allgemeine Gefahr muss sich für den jeweiligen Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit verwirklichen. Nur dann rechtfertigt sich die Annahme eines aus den Grundrechten folgenden zwingenden Abschiebungshindernisses, das die gesetzliche Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG überwinden kann (BVerwG, Urt. v. 19.11.1996, 1 C 6.95, BVerwGE 102, 249, juris Rn. 35). Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich neben einer quantitativen Betrachtung des Infektionsgeschehens bei weiterer umfassender objektiver Betrachtung, für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Ein Abschiebungsverbot ist demnach (nur) dann gegeben, wenn der Betroffene ansonsten „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde“. (vgl. OVG NW, B.v. 17.12.2014 a.a.O. – juris Rn. 10 ff.; BVerwG, U.v. 29.06.2010 – 10 C 10.09 -, BVerwGE 137, 226, und v. 29.09.2011 – 10 C 24.10 -, Buchholz 402.25 § 73 AsylVfG Nr. 41, S. 86 f, jeweils zu § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 3 AufenthG (a. F.)). Die Realisierung der Gefahren muss alsbald nach der Rückkehr drohen.
Kabul ist nach wie vor der vom Corona-Virus am stärksten betroffene Teil des Landes, was die bestätigten Fälle betrifft, gefolgt von den Provinzen Herat, Balkh, Kandahar und Nangarhar. Derzeit scheint die dritte Welle sich abzuflachen (UNOCHA Strategic Situation Report: Covid-19 No. 101 v. 15.07.2021). Angesichts des rapiden Anstiegs der Fälle hat die afghanische Regierung die Schließung aller Schulen, Universitäten und Ausbildungskurse, die am 29. Mai begann, verlängert. Die Schulschließung gilt für 16 Provinzen, einschließlich Kabul. Die meisten Regierungsbüros haben wegen des Ausbruchs der Krankheit auf das nötigste Personal umgestellt. Die Regierung hat auch andere Präventivmaßnahmen in diesen 16 Provinzen angekündigt, darunter das Verbot von Massenversammlungen und Hochzeiten. Andere landesweite Abriegelungsmaßnahmen sind derzeit nicht in Kraft.
Damit ist die Gefahr einer Infektion zwar vorhanden, nicht jedoch eine konkrete Gefahr für Leib und Leben. In den meisten Fällen ist der Krankheitsverlauf der Covid-19 Patienten allgemein und auch in Afghanistan unproblematisch (Konrad-Adenauer-Stiftung Länderbericht, Die COVID-Krise in Afghanistan: Welche Auswirkungen auf die humanitäre und politische Lage? Juli 2020, S. 3; Robert-Koch Institut https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Die Wahrscheinlichkeit für schwere und auch tödliche Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. (Robert Koch Institut a.a.O.).
Dass der Kläger zum gefährdeten Personenkreis (hohes Alter, maßgebliche Vorerkrankungen) zählt, ist nicht vorgetragen und auch sonst nicht ersichtlich. Bisher ist weiterhin nicht bekannt, dass Personen, die sich ohne entsprechende Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe mit dem Virus infizieren, im Allgemeinen einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wären. Wenngleich schwere Verläufe auch bei Personen ohne bekannte Vorerkrankung und bei jüngeren Patienten auftreten können, werden sie bei diesen Patientengruppen doch nicht häufig beobachtet. Ist damit die im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bei verfassungskonformer Auslegung erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit bereits hinsichtlich der Möglichkeit, dass der Kläger einen schweren Krankheitsverlauf erleiden könnte, nicht gegeben, kommt es auf die Verfügbarkeit der im Falle eines solchen Krankheitsverlaufs erforderlichen medizinischen Behandlung im Rahmen des afghanischen Gesundheitssystems nicht an.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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