Verwaltungsrecht

Wiedereinreise nach Rücknahme des Asylantrags in Italien ohne rechtskräftige Verfahrenseinstellung

Aktenzeichen  Au 3 S 18.30682

Datum:
23.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 10076
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 36 Abs. 4, § 71, § 71a

 

Leitsatz

Ein Zweitantrag nach § 71a AsylG setzt den erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat voraus. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für … vom 26. März 2018 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt mit seinem Antrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung.
1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben pakistanischer Staatsangehöriger, geboren am … 1985. Er reiste am 24. Oktober 2016 in Deutschland ein und stellte dort am 1. November 2016 einen Asylantrag. Bei einer ersten Anhörung bei der Zentralen Ausländerbehörde … am 7. November 2016 gab der Antragsteller an, ungefähr am 2. August 2016 von Pakistan zu Fuß in den Iran gegangen zu sein und von dort zu Fuß in die Türkei. Von der Türkei sei er mit einem kleinen Schiff nach Italien weitergefahren, von der italischen Küstenwache aufgenommen worden und an Land gebracht worden. In Italien sei er 1 ½ Monate in einem Lager geblieben. Dort habe er auch Dokumente unterschrieben und unterschrieben, dass er nach Deutschland wolle. Bei seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG am 23. Dezember 2016 in … gab der Antragsteller weiter an, dass ihm in Italien Fingerabdrücke abgenommen worden seien.
Nachdem für den Antragsteller bereits am 26. Oktober 2016 ein EURODAC-Treffer (…) in der Bundesrepublik Deutschland registriert worden war, stellte das Bundesamt am 23. Dezember 2016 ein Übernahmegesuch an Italien, auf das Italien nicht reagierte.
Mit Bescheid vom 21. Februar 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). In Nr. 4 des Bescheides wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf den Bescheid und seine Begründung wird Bezug genommen.
2. Hiergegen wandte er sich mit einer Klage (Au 4 K 17.50035) und einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (Au 4 S 17.50036).
Im Verfahren Au 4 S 17.50036 lehnte das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss der 4. Kammer vom 13. März 2017 den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ab, da Italien für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig sei. Am 4. Oktober 2017 erklärte der Bevollmächtigte des Antragstellers die Rücknahme seiner Klage. Mit Einstellungsbeschluss vom gleichen Tag wurde das Verfahren Au 4 K 17.50035 abgeschlossen.
3. Bereits am 12. September 2017 war die Überstellung des Antragstellers mit Flug nach …Italien erfolgt. Am 19. September 2017 erklärte der Antragsteller gegenüber der Questura di Cosenza die Rücknahme seines Antrags auf internationalen Schutz.
Nach telefonischer Auskunft der Questura di … vom 3. Mai 2018 wurde die Rücknahme an die zuständige Commissione Territoriale Riconoscimento Status di Rifugiato von … übermittelt. Die Commissione Territoriale Riconoscimento Status di Rifugiato habe jedoch bis 3. Mai 2018 noch keinen Einstellungsbeschluss („decreto“) erlassen.
4. Am 10. November 2017 stellte der Antragsteller einen Folgeantrag. Zur Begründung trug er vor: Die Menschenrechte seien bei der Durchführung des Asylverfahrens in Italien nicht gewährleistet gewesen. Er sei menschenunwürdig behandelt worden, da er nicht untergebracht worden sei. Ihm sei die vorbereitete und in englischer Sprache verfasste Rücknahmeerklärung vorgelegt worden. Er sei des Englischen nicht ausreichend mächtig. Ein Dolmetscher für Urdu oder Panjabi sei ihm trotz Nachfrage verweigert worden. Er habe den vorgelegten Text unterschrieben, weil er keine andere Wahl gehabt habe, ohne zu wissen, dass er damit auf Durchführung eines Verfahrens verzichte.
Eine EURODAC-Abfrage brachte zwei Treffer aus dem Jahr 2016 (… und …).
Am 23. Dezember 2016 wurde er mündlich angehört.
5. Ausweislich eines Vermerks des Bundesamts vom 15. März 2018 sei wegen eines Ablaufs der Fristen der Dublin-III-Verordnung die Zuständigkeit für das Asylverfahren des Antragstellers auf Deutschland übergegangen. Es sei daher eine Entscheidung im nationalen Verfahren zu treffen.
6. Mit Bescheid vom 26. März 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr.2), drohte die Abschiebung nach Pakistan an (Nr. 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 36 Monate (Nr. 4). Der Wiederaufgreifensgrund der Sachlagenänderung sei nicht gegeben. Es nicht überzeugend, dass dem Antragsteller nicht klar gewesen sei, was in Italien vor sich gegangen sei. Selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags hätte der Antragsteller in Italien gegen die unterschriebene Rücknahme bzw. die ablehnende Entscheidung den Rechtsweg beschreiten können. Neue gegen eine Rückkehr nach Pakistan sprechende Gründe seien nicht dargetan. Selbst bei Durchführung eines weiteren Asylverfahrens könne es zu keiner positiven Entscheidung kommen. Der Antragsteller könne sich nicht auf eine Gruppenverfolgung berufen. Dem Antragsteller habe jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden.
7. Am 9 April 2018 ließ der Antragsteller Klage erheben und (sinngemäß) beantragen,
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für … vom 26. März 2018, GZ: … zur Anerkennung der Zuständigkeit Deutschlands und zur Durchführung eines nationalen Asylverfahrens verpflichtet.
Zugleich beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung gem. § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen Folgendes vorgetragen: Auf Grund der in Italien erlittenen Behandlung habe der Antragsteller einen Folgeantrag gestellt. Dieser ziele auf die Durchführung eines nationalen Verfahrens. Das Schutzbegehren sei materiell nicht geprüft worden. Es sei anzunehmen, dass ein Rückübernahmeantrag nicht gestellt worden sei. Die geltend gemachte Änderung der Sach- und Rechtslage ziele auf Umstände ab, die Deutschland zum Selbsteintritt verpflichteten.
8. Das Bundesamt hat die elektronische Verfahrensakte vorgelegt. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
9. Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.
1) Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und insbesondere statthaft, weil das Bundesamt in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids eine erstmals Abschiebungsandrohung für Pakistan erlassen hat. Es liegt daher kein Fall vor, in dem gegen eine sog. „Quermitteilung“ nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG vorgegangen werden soll und daher ein Antrag nach § 123 VwGO statthaft wäre.
2) Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1, § 71 Abs. 4 AsylG) bestehen.
Im Falle einer Ablehnung des Asylantrags als unzulässiger Folgeantrag darf gemäß § 80 Abs. 5 VwGO i.V.m. § 71 Abs. 4 AsylG und § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166/189 ff. zur Ablehnung als offensichtlich unbegründet).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Antragstellers vom 10. November 2017 zu Unrecht als unzulässig i.S.d. § 71 Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG abgelehnt.
a) Die Ablehnung des ersten in Deutschland gestellten Antrags des Antragstellers vom 1. November 2016 durch Bescheid vom 21. Februar 2017 wurde mit der Rücknahme der Klage im Verfahren Au 4 K 17.50035 unanfechtbar.
b) Das Bundesamt ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorlagen. Zwar stellen die vom Antragsteller vorgetragenen Geschehnisse in Italien keine Wiederaufgreifensgründe im Sinne der Vorschrift dar. Eine im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zugunsten des Antragstellers wirkende Änderung der Sach- und Rechtslage ergibt sich jedoch daraus, dass zwischenzeitlich Deutschland für den Antrag des Antragstellers zuständig wurde, weil mit dem 11. Januar 2018 und damit vor der Entscheidung über den Folgeantrag des Antragstellers die Frist zur Stellung eines (erneuten) Übernahmeersuchens (vgl. hierzu EuGH, U.v. 25. Januar 2018 – C-360/16 – Rn. 41 ff., juris) an Italien abgelaufen ist, ohne dass ein solches Übernahmeersuchen gestellt worden wäre. Der Fristablauf war im Übrigen auch vom Bundesamt selbst erkannt worden (vgl. Bl. 36 d. Bundesamtsakte).
Die im Dublin-Verfahren ergangene Ablehnung des früheren Asylantrags des Antragstellers durch Bescheid des Bundesamtes vom 21. Februar 2017 stützt sich ausschließlich auf die Unzuständigkeit der Bundesrepublik für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers (in diesem Sinne BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 18; VG Bayreuth, B.v. 10.5.2017 – B 5 E 17.31577 – juris Rn. 17). Wird nun die Bundesrepublik zuständig, weil innerhalb der maßgeblichen Frist kein (erneutes) Übernahmeersuchen gestellt wurde, liegt darin eine relevante Änderung der Rechtslage zugunsten des Antragstellers.
c) Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässiger Folgeantrag i.S.d. § 71 Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG kann nicht in eine Ablehnung als unzulässiger Zweitantrag i.S.d. § 71a Abs. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG umgedeutet werden, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Die Regelung für einen Zweitantrag folgt nicht allein nationalem Recht, sondern sie steht im unionsrechtlichen Kontext. Dabei ist ein effektiver Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten. Damit diesen europarechtlichen Vorgaben, die zumindest eine einmalige sachliche Prüfung vorsehen, entsprochen wird, muss deshalb zunächst im Vorfeld abgeklärt werden, ob eine „Zweitantragssituation“ vorliegt und ein Rückgriff auf § 71 a AsylG überhaupt in Betracht kommt, oder ob das Bundesamt eine sachliche Prüfung vornehmen muss (BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13 a B 15.50069 – NVwZ 2016, 625).
Zwar ist vorliegend die erste Voraussetzung des § 71a Abs. 1 AsylG, wonach die Bundesrepublik für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein muss, erfüllt, weil die Bundesrepublik zuständig geworden ist, da innerhalb der maßgeblichen Frist kein (erneutes) Übernahmeersuchen gestellt wurde. Die Einschränkung, dass ein Asylverfahren nur durchführen ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, greift jedoch nur dann, wenn die weitere Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 71a AsylG vorliegt, dass das Asylverfahren des Antragstellers in einem sicheren Drittstaat erfolglos abgeschlossen wurde.
Dies ist vorliegend gerade nicht der Fall. Ein erfolgloser Abschluss im Sinne des § 71a AsylG umfasst jede Art des formellen Abschlusses eines Asylverfahrens ohne Zuerkennung eines Schutzstatus (Schönenbroicher/Dickten, BeckOK AuslR/ AsylG, Stand: 1.2.2018, § 71a Rn. 2). Die Entscheidung muss rechtskräftig sein (VG Hannover, B.v. 16.3.2017 – 10 A 7713/16 – Rn. 16, juris). Maßgeblicher Zeitpunkt für den erfolglosen Abschluss ist die Antragstellung in Deutschland (VGH Mannheim, B.v. 19.1.2015 – 11 S 2508/14 – Rn. 7, juris; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, § 71a AsylVfG, 2. Aufl. 2016, Rn. 5). Im vorliegenden Fall fehlt es jedoch gerade am formellen Abschluss des Asylverfahrens des Antragstellers. Dieser hat nach den von ihm vorgelegten Unterlagen gegenüber in Italien die Rücknahme seines Asylantrags gegenüber der Questura di … erklärt. Zwar kann sich ein erfolgloser Abschluss des Asylverfahrens in dem anderen Mitgliedsstaat auch durch eine Verfahrenseinstellung aufgrund einer Rücknahmeerklärung ergeben (Schönenbroicher/Dickten, BeckOK AuslR/ AsylG, Stand: 1.2.2018, § 71a Rn. 2).
Vorliegend fehlt es jedoch gerade am formellen und rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens. Eine telefonische Rückfrage des erkennenden Gerichts bei der Questura di … am 3. Mai 2018 hat ergeben, dass der Antragsteller unter dem in dem von ihm vorgelegten Dokument angegebenen Aktenzeichen bekannt ist und eine Rücknahmeerklärung („rinuncia“) abgegeben hat. Weiter hat die die telefonische Rückfrage jedoch ergeben, dass für die Verfahrenseinstellung nicht die Questura di … als Ausländerbehörde sondern die für das Asylverfahren zuständige Behörde Commissione Territoriale Riconoscimento Status di Rifugiato mit Sitz in … zuständig ist und diese bislang kein „decreto“ erlassen, also keine Verfahrenseinstellung verfügt hat.
Im Übrigen hätte der Antragsteller daher die von ihm geltend gemachten Mangel seiner Rücknahmeerklärung, nämlich Unkenntnis des Inhalts mangels Bereitstellung eines Dolmetschers, auch noch gegenüber der italienischen Flüchtlingsbehörde geltend machen können, wenn seitens des Bundesamtes die maßgeblichen Fristen für das Übernahmeersuchen beachtet worden wären (s.o.) und nicht wegen der Fristversäumnis die Bundesrepublik zuständig geworden wäre.
d) Vor diesem Hintergrund misst das Gericht dem Suspensivinteresse des Antragstellers ein größeres Gewicht zu als dem Interesse der Antragsgegnerin am sofortigen Vollzug der Abschiebungsandrohung. Dem Aussetzungsantrag ist daher stattzugeben.
3) Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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