Verwaltungsrecht

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist durch falsche Empfängerangabe

Aktenzeichen  9 CS 20.2004

Datum:
9.11.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 32782
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 60 Abs. 1, Abs. 2, § 80 Abs. 5, § 146 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 60 Abs. 1 S. 1 VwGO steht das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, gem § 173 VwGO iVm § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. Bei der Anfertigung fristgebundener Schriftsätze, mit denen ein Rechtsmittel eingelegt oder begründet wird, handelt es sich um Geschäfte, die ein Rechtsanwalt nicht seinem Büropersonal überlassen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf Richtigkeit und Vollständigkeit, auch hinsichtlich des Rechtsmittelgerichts, zu überprüfen. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
2, Bei falscher Empfängerangabe ist das Gericht zwar zur pflichtgemäßen Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang, nicht aber zu Eilmaßnahmen verpflichtet. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

AN 17 S 20.1411 2020-08-21 Bes VGANSBACH VG Ansbach

Tenor

I. Die Beschwerde wird verworfen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen eine zwangsgeldbewehrte und für sofort vollziehbar erklärte Nutzungsuntersagung eines Einzelhandelsgeschäfts für Heimdekor als Einzelhandelsgeschäft für Schuhe sowie eine Anordnung, einen Bauantrag für die neue Nutzung zu stellen.
Gegen den betreffenden Bescheid vom 2. Juli 2020, mit dem ihr als Eigentümerin des Gebäudes A … Str. …, … G … (Grundstück FlNr. … Gemarkung S …) untersagt wurde, dieses Gebäude als Einzelhandelsgeschäft für Schuhe zu nutzen (Nr. 1 des Bescheids), gleichzeitig der D … GmbH als Mieterin unter Nr. 2 untersagt wurde, die dort angemieteten Räumlichkeiten zum Zwecke des Einzelhandels mit Schuhen und Begleitsortiment zu nutzen, und unter Nr. 3 die Verpflichtung ausgesprochen wurde, bis spätestens 1. September 2020 einen Bauantrag zu stellen, erhob die Antragstellerin, ebenso wie die D … GmbH, Klage zum Verwaltungsgericht, über die noch nicht entschieden ist, und beantragte ferner die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage sowie die Aussetzung der Vollziehung.
Das Verwaltungsgericht hat diesen Antrag mit Beschluss vom 21. August 2020 abgelehnt, wogegen sich die Beschwerde der Antragstellerin, die am 28. August 2020 beim Veraltungsgericht eingelegt wurde, richtet. Der Schriftsatz vom 23. September 2020, mit dem die Beschwerde begründet sowie beantragt wurde,
den Beschluss des Verwaltungsgerichts in seiner Nr. 1 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 2. Juli 2020 insgesamt anzuordnen,
ging beim Verwaltungsgerichtshof am 30. September 2020 ein.
Auf den gerichtlichen Hinweis zum verspäteten Eingang der Beschwerdebegründung beim Verwaltungsgerichtshof mit Schreiben vom 2. Oktober 2020 beantragte die Antragstellerin am 6. Oktober 2020,
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin habe beim Diktat der Beschwerdebegründung als Adressaten den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof München angegeben. Bei der Verarbeitung des Diktats durch die Büroangestellte habe diese versehentlich als Empfänger das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach in den Schriftsatz eingefügt. In Folge dessen habe sie den Begründungsschriftsatz auch an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach versandt. Auf die anliegende eidesstattliche Versicherung der ansonsten sehr zuverlässigen betreffenden Rechtsfachwirtin, werde verwiesen. Auf gerichtliche Nachfragen wurde ergänzend mitgeteilt, dass die Rechtsfachwirtin sich nach Erhalt des gerichtlichen Hinweisschreibens vom 2. Oktober 2020 wieder daran erinnert habe, dass in dem Diktat der Beschwerdebegründung nicht ebenfalls wie in zwei weiteren gleichzeitig zu fertigenden Schriftsätzen in gleicher Sache zum Verwaltungsgericht, nämlich die Klagebegründungen in den Hauptsacheverfahren bezüglich des streitgegenständlichen Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach als Empfänger benannt gewesen sei. Aufgrund der beiden anderen Schriftsätze an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach habe sie irrtümlich auch die Beschwerdebegründung an dieses Gericht adressiert. Im vorliegenden Fall – wie sonst auch – habe die Rechtsfachwirtin das Diktat geschrieben und die Beschwerdebegründung in ausgedruckter Form der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin mit der Akte vorgelegt. Nach Freigabe durch diese habe sie es für den beA-Versand mittels Rechtsanwaltssoftware „A …“ vorbereitet (zur Signatur in den elektronischen Postausgangskorb gelegt). Die Prozessbevollmächtigte habe den Schriftsatz sodann elektronisch signiert. Die Versendung sei aus der Software durch die Rechtsfachwirtin erfolgt.
Der Antragsgegner hat sich zum Verfahren nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde der Antragstellerin ist unzulässig und daher in entsprechender Anwendung von § 125 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu verwerfen.
1. Die Beschwerde ist nicht fristgerecht begründet worden.
Die Beschwerde gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichts im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO). Die Begründung ist, sofern sie – wie hier – nicht bereits innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe der Entscheidung mit der Beschwerde vorgelegt worden ist (vgl. § 147 VwGO), beim Verwaltungsgerichtshof einzureichen (§ 146 Abs. 4 Satz 2 VwGO). Die Antragstellerin hat diese Beschwerdebegründungsfrist versäumt. Die Frist endete, nachdem der – mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrungversehene – Beschluss des Verwaltungsgerichts der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 24. August 2020 zugestellt worden war, mit Ablauf des 24. September 2020, einem Donnerstag (§ 57 Abs. 2 VwGO, § 222 Abs. 1 ZPO, § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB). Die auf den 23. September 2020 datierte Beschwerdebegründung ging beim Verwaltungsgerichtshof jedoch erst am 30. September 2020 ein. Sie war an das Verwaltungsgericht Ansbach adressiert und ging dort am 24. September 2020 ein, womit die Begründungsfrist aber nicht gewahrt werden konnte (vgl. OVG NW, B.v. 17.12.2019 – 4 B 812/18 – juris Rn. 2 m.w.N.).
2. Der Antragstellerin kann die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO nicht gewährt werden. Denn die Antragstellerin war nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Beschwerdebegründungsfrist gehindert.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 60 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Verschulden im Sinne von § 60 Abs. 1 VwGO ist anzunehmen, wenn der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden geboten und die ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war (stRspr; vgl. BVerwG, B.v. 26.6.2017 – 1 B 113.17 – juris Rn. 5 m.w.N.). Das Verschulden eines Bevollmächtigten, insbesondere eines Rechtsanwalts, steht dabei gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich, gilt also als Verschulden des Vertretenen. In dem Wiedereinsetzungsantrag ist deshalb darzulegen, dass kein schuldhaftes Handeln des Beteiligten oder seines Prozessbevollmächtigten vorliegt, das zu dem Fristversäumnis geführt hat; die diesbezüglichen Tatsachen sind nach § 60 Abs. 2 Satz 2 VwGO glaubhaft zu machen (vgl. BayVGH, B.v. 24.4.2018 – 9 ZB 18.50026 – juris Rn. 4).
Unter Berücksichtigung der im Zusammenhang mit dem Wiedereinsetzungsantrag mitgeteilten Tatsachen war danach die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin nicht ohne Verschulden im Sinn des § 60 Abs. 1 VwGO gehindert, die Beschwerdebegründungsfrist nach § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO einzuhalten. Selbst wenn man zugunsten der Antragstellerin davon ausgeht, dass sich der Ablauf im Zusammenhang mit der Versendung der Beschwerdebegründung an das Verwaltungsgericht Ansbach so zugetragen hat, wie von ihrer Prozessbevollmächtigten dargelegt und von deren Rechtsfachwirtin im Wege einer eidesstattlichen Versicherung hinsichtlich der Fertigung des Schriftsatzes und dessen Versendung bestätigt wird, reicht dies als Begründung nicht aus, um ein Verschulden der Prozessbevollmächtigten auszuschließen. Bei der Anfertigung fristgebundener Schriftsätze, mit denen ein Rechtsmittel eingelegt oder begründet wird, handelt es sich um Geschäfte, die ein Rechtsanwalt nicht seinem Büropersonal überlassen darf, ohne das Arbeitsergebnis auf Richtigkeit und Vollständigkeit, auch hinsichtlich des Rechtsmittelgerichts, zu überprüfen (vgl. BVerwG, B.v. 16.11.1982 – 9 B 14473.82 – juris Rn. 2; OVG NRW, B.v. 18.3.2020 – 19 A 112/20 – juris Rn. 3 f. m.w.N; BayVGH, B.v. 16.1.2014 – 14 B 13.2016 – juris Rn. 15). Diese Kontrolle ist hier nicht ordnungsgemäß erfolgt, nachdem der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin zwar erklärtermaßen der ausgedruckte Schriftsatz, den die Rechtsfachwirtin trotz richtigen Diktats versehentlich mit falscher Empfängerangabe versehen habe, zur Kontrolle und Abzeichnung vorgelegt wurde, die fehlerhafte Angabe des Verwaltungsgerichts Ansbach im Adressfeld aber anscheinend von ihr nicht bemerkt worden und der Schriftsatz in der Folge in dieser Form zur Versendung freigegeben worden ist.
Eine Wiedereinsetzung kann auch nicht deshalb gewährt werden, weil das Verwaltungsgericht den bei ihm eingegangenen Schriftsatz nicht innerhalb der Beschwerdebegründungsfrist an den Verwaltungsgerichtshof weitergeleitet hat. Das Verwaltungsgericht ist zwar zur pflichtgemäßen Weiterleitung im ordnungsgemäßen Geschäftsgang, nicht aber zu Eilmaßnahmen verpflichtet (vgl. BVerwG, B.v. 15.7.2003 – 4 B 83.02 – juris Rn. 9 m.w.N.; vgl. auch B.v. 8.10.2020 – 4 B 36.20 – juris Rn. 5). Da die Begründung erst am letzten Tag der Frist beim Verwaltungsgericht eingegangen ist, konnte die Antragstellerin unter Berücksichtigung der für die Bearbeitung beim Verwaltungsgericht erforderlichen Tätigkeiten nicht darauf vertrauen, dass der fristgebundene Schriftsatz den Verwaltungsgerichtshof bei Weiterleitung durch das Verwaltungsgericht im ordentlichen Geschäftsgang fristgerecht erreichen würde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m Nr. 1.5, 1.7.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
Dieser Beschluss ist gemäß § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.


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