Verwaltungsrecht

Wiederholungsgefahr, Verlustfeststellung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Tatmehrheit, Aufenthaltsverbot, Freiheitsstrafe, Daueraufenthaltsrecht, Anwaltsbeiordnung, Behördenakten, Befristungsverbot, Befristungsentscheidung, Untersuchungshaft, Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, Haftentlassung, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse, Freizügigkeitsrecht, Ermessensentscheidung, Ausreisefrist

Aktenzeichen  Au 1 K 20.1745

Datum:
3.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 41296
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 S. 1
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2
FreizügG/EU § 7 Abs. 1, Abs. 2 S. 5,
FreizügG/EU § 11 Abs. 1 S. 11
AufenthG § 11 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung wird abgelehnt.

Gründe

I.
Der am … geborene Kläger ist ungarischer Staatsangehöriger. Er wendet sich gegen den Verlust seines Freizügigkeitsrechts.
Er reiste erstmals am 22. Dezember 1988 in das Bundesgebiet ein und wurde zu einem nicht mehr nachvollziehbaren Zeitpunkt durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als Asylberechtigter anerkannt. Zu einem ebenfalls nicht mehr nachvollziehbaren Zeitpunkt zwischen 2000 und 2004 reiste der Kläger zurück nach Ungarn.
Der Kläger wurde während dieses ersten Aufenthalts im Bundesgebiet wie folgt straffällig:
1. Mit Urteil vom 6. November 1990 verurteilte das Amtsgericht * den Kläger zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen vorsätzlichen fortgesetzten Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
2. Am 27. November 1991 verurteilte das Amtsgericht * den Kläger zu einer Freiheits strafe von zwei Monaten wegen fortgesetzten vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
3. Mit Urteil vom 23. Februar 1995 befand das Amtsgericht * den Kläger des versuch ten Diebstahls in Tatmehrheit mit Diebstahl in 16 Fällen für schuldig. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt.
4. Am 10. Oktober 1995 verurteilte das Amtsgericht * den Kläger wegen Unterschla gung in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten.
5. Mit Urteil vom 9. Juni 1997 verurteilte das Amtsgericht * den Kläger zu einer Frei heitsstrafe von sechs Monaten wegen Hehlerei. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
6. Mit Beschluss vom 31. August 1997 wurde durch das Amtsgericht * aufgrund der Verurteilungen vom 23. Februar 1995, 10. Oktober 1995 und 9. Juni 1997 nachträglich eine Gesamtstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten Freiheitsstrafe verhängt.
7. Am 16. Dezember 1997 befand das Amtsgericht * den Kläger des Computerbetrugs in zwei Fällen für schuldig und sprach hierfür eine achtmonatige Freiheitsstrafe aus.
8. Mit Urteil vom 10. Oktober 2000 verurteilte das Amtsgericht * den Kläger wegen Hehlerei in Tatmehrheit mit Diebstahl in einem besonders schweren Fall in Tatmehrheit mit Computerbetrug in sechs Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr.
Am 13. April 2013 zog der Kläger von Ungarn kommend wieder in das Bundesgebiet zu. Er wurde umgehend erneut straffällig und mit Urteil des Amtsgerichts * vom 19. November 2013 wegen Diebstahls in sieben Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem Diebstahl in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Ein Strafrest wurde mit Beschluss vom 5. Februar 2015 zur Bewährung ausgesetzt und der Kläger aus der Haft entlassen.
Am 31. März 2018 wurde der Kläger in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil des Amtsgerichts * vom 14. Dezember 2018 wurde der Kläger erneut wegen Diebstahls in fünf tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem Diebstahl in vier tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren verurteilt. Der Kläger hatte zwischen Dezember 2017 und März 2018 insgesamt neun Bürogebäude mithilfe eines Schlossöffnungsgerätes aufgebrochen und die Räumlichkeiten nach Bargeld abgesucht.
Diese Verurteilung nahm die Beklagte zum Anlass, beim Kläger mit Bescheid vom 9. September 2020 den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit festzustellen (Ziffer 1) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von fünf Jahren ab dem Zeitpunkt des Verlassens des Bundesgebietes anzuordnen (Ziffer 2). In Ziffer 3 wurde dem Kläger die Abschiebung nach Ungarn aus der Haft heraus angedroht und in Ziffer 4 für den Fall der Haftentlassung eine Ausreisefrist von einem Monat gesetzt und nochmals die Abschiebung nach Ungarn angedroht.
Die Verlustfeststellung beruhe auf § 6 Abs. 1 FreizügG/EU und sei im Rahmen einer Ermessensentscheidung zu verfügen gewesen. Prognostisch sei festzustellen, dass vom Kläger auch künftig eine konkrete Wiederholungsgefahr ausgehe, da sich bei ihm kriminelle Verhaltensmuster eingeschlichen hätten. Er sei insgesamt elf Mal über den Zeitraum von November 1990 bis 2018 verurteilt worden, habe bereits mehrere Haftstrafen verbüßt und sei als Bewährungsversager einzustufen. Die seit Jahrzehnten vorhandenen Handlungs- und Verhaltensmuster böten nicht den geringsten Raum für eine Gelingensprognose. Zwar habe er sich in der Justizvollzugsanstalt bislang beanstandungsfrei verhalten und besuche seit 23. Juli 2020 eine spezifische Deliktsgruppe, es entspreche jedoch der ständigen Rechtsprechung, dass ein Wohlverhalten in der Haft bzw. während des Maßregelvollzugs nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel schließen lasse. Die finanziellen Schwierigkeiten des Klägers hätten sich seit der Inhaftierung sicherlich nicht verringert, die Historie der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zeige, dass der Kläger nicht beabsichtigt habe, seinen Lebensunterhalt auf Dauer durch Erwerbstätigkeit zu sichern. Die in Deutschland lebende Familie sei zwar grundsätzlich positiv zu sehen, habe den Kläger jedoch auch in der Vergangenheit nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können. Die vom Kläger begangenen Straftaten würden das Merkmal einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit Ordnung erfüllen, was sich bereits daran zeige, dass ein derartiges Verhalten durch den Gesetzgeber in § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bzw. 1a AufenthG als schwerwiegendes Ausweisungsinteresse angesehen werde.
Der Kläger habe sich zwischen 2000 und 2013 nicht in Deutschland aufgehalten und sei anschließend zwischen 2013 und 2015 inhaftiert gewesen, sodass ein möglicherweise erworbenes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 7 FreizügG/EU zwischenzeitlich erloschen sei. Da sich der Kläger zwischen dem 19. Februar 2015 und dem 31. März 2018 insgesamt nur drei Jahre, einen Monat und neun Tage außerhalb der Haft im Bundesgebiet aufgehalten habe, habe er ein Daueraufenthaltsrecht auch nicht neu erworben. Daher könne der Kläger auch nicht den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 4 bzw. 5 FreizügG/EU für sich geltend machen. Eventuell andere vorhandene Aufenthaltstitel seien nach § 51 Absatz 1 Satz 1 Nr. 6 bzw. 7 AufenthG mit der Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Ungarn erloschen.
Bei der vorzunehmenden Abwägung der gegenläufigen Interessen überwiege das öffentliche Interesse an der Ausreise das Bleibeinteresse des Klägers. Für diesen sei zu berücksichtigen, dass er sich im Laufe seiner 52 Lebensjahre etwas mehr als 13 Jahre nachweislich in Deutschland aufgehalten habe, wenngleich er zahlreiche Haftstrafen verbüßt habe. Zudem sei er erst im Alter von 22 Jahren erstmals in die Bundesrepublik eingereist und habe seine Sozialisierung somit in Ungarn erfahren. Dort sei er zur Schule gegangen und habe auch die ungarische Sprache erlernt. Für ihn spreche weiter, dass sich sowohl seine Lebensgefährtin mit den beiden Kindern als auch seine Mutter im Bundesgebiet aufhalte. Hier sei einschränkend zu werten, dass die erstgeborene Tochter im März 2021 volljährig werde und somit den Vater lediglich ein Dreivierteljahr nach dem Erreichen der Volljährigkeit in Freiheit sehen könne. Zudem habe diese den Kläger einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Kindheit aufgrund seiner Inhaftierungen nicht gesehen. Zur 2016 geborenen zweiten Tochter habe bislang aufgrund der aktuellen Inhaftierung nur ungefähr ein Jahr und drei Monate ein persönlicher Kontakt bestanden. Insgesamt befänden sich die Lebensgefährtin und die beiden Töchter erst seit kurzem im Bundesgebiet, sodass eine Rückkehr nach Ungarn zum künftig dort lebenden Kläger möglich sei. Die Erwerbshistorie sei lückenhaft und überschaubar, eine soziale bzw. wirtschaftliche Integration habe nicht stattgefunden. Der Kläger sei ein Bewährungsversager, welcher sich bislang nicht von der Begehung weiterer Straftaten habe abhalten lassen. Es bestehe keine Vertrauensgrundlage dafür, dass er sich künftig straffrei führen werde. Auch nach Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 6 GG sei die Verlustfeststellung verhältnismäßig. Seine Lebensgefährtin und die beiden Kinder könnten mit ihm nach Ungarn zurückkehren, hinsichtlich der hier lebenden Eltern seien keine besonderen Abhängigkeiten ersichtlich. Den bloßen Kontakt könne er auch über Telefonate oder entsprechende elektronische Medien aufrechterhalten.
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot sei aufgrund der Günstigerregelung des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG anzuordnen gewesen. Unter Abwägung aller Umstände sei eine Befristung auf fünf Jahre verhältnismäßig. Für den Kläger hätten insoweit seine bisherigen Aufenthalte im Bundesgebiet sowie seine familiären Bindungen gesprochen. Gegen ihn sprächen die zahlreichen Straftaten, sein persönliches Verhalten und die von ihm konkret ausgehende Wiederholungsgefahr.
Gegen diesen Bescheid ließ der Kläger am 23. September 2020 Klage erheben. Der Kläger sei im Dezember 1988 nach Deutschland geflohen und als Asylberechtigter anerkannt worden. Dieser Status sei Anfang 1995 widerrufen worden. Der Kläger habe dennoch in Deutschland bleiben können, da er seine damalige Lebensgefährtin geheiratet habe. Von dieser sei er inzwischen geschieden. Der Bescheid der Beklagten sei rechtswidrig, da wesentliche Tatsachen nicht in die Risikoprognose eingestellt worden seien. Nach dem Vollzugsplan der JVA * vom 25. November 2019 seien sozialtherapeutische Maßnahmen derzeit nicht angezeigt. Dennoch nehme der Kläger am Rückfallvermeidungsteil der allgemeinen Deliktsgruppe seit Juli 2020 mit guter Perspektive bei. Die Vollzugsanstalt, welche täglich mit dem Kläger befasst sei, gehe nicht von einem besonders hohen Rückfallrisiko durch den Kläger aus, sondern sei überzeugt, dass die derzeitige Haftstrafe eine ausreichende Abschreckungswirkung entfalte. Zudem sei es gewagt, aus elf Verurteilungen über einen Zeitraum von 28 Jahren herauszulesen, dass die Grundinteressen der Gesellschaft derart berührt seien, dass ein weiterer Verbleib im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik nicht möglich sei. Kein angemessenes Gewicht sei dem Umstand beigemessen worden, dass der Kläger über nicht unbeträchtliche Zeiträume einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen sei und auch innerhalb der Inhaftierung bemüht sei, einer Tätigkeit nachzugehen. Letztlich leide der Kläger unter behandlungsbedürftigen Krankheiten wie COPD, Bluthochdruck sowie eine erblich bedingten Hyperlipoproteinämie. Dies sei in die Entscheidung überhaupt nicht mit eingeflossen. Der Kläger sei ein faktischer Inländer, der viele Jahre seines Lebens im Bundesgebiet verbracht habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 9. September 2020 aufzuheben.
Für dieses Verfahren begehrt der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zunächst auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid.
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der von der Beklagten vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe konnte nicht entsprochen werden.
1. Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt. Denn die Rechtsverfolgung darf nicht in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe vorverlagert werden und unbemittelten Personen soll ein weitgehend gleicher Zugang zum Gericht ermöglicht werden wie Personen, denen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG, B.v. 4.5.2015 – 1 BvR 2096/13; Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 166 Rn. 26).
2. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die in der Hauptsache erho bene Klage wird aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben. Die angegriffene Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts wird sich wohl als rechtmäßig erweisen und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheids ist die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann der Verlust des Rechts eines Unionsbürgers auf Einreise und Aufenthalt nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich alleine nicht, um die Verlustfeststellung zu begründen. Es dürfen nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU nur im Bundeszentralregister nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Es muss gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berührt. Bei der Entscheidung über die Verlustfeststellung sind nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU darüber hinaus insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
b) Eine vom Kläger ausgehende gegenwärtige tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, liegt vor. Bereits durch die zuletzt am 14. Dezember 2018 erfolgte Verurteilung des Amtsgerichts * zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren wegen Diebstahls in fünf tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem Diebstahl in vier tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung hat der Kläger ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, darstellt. Er ist planmäßig und vorsätzlich in verschiedene Gebäude eingebrochen und hat diese nach Bargeld durchsucht, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits unter offener Bewährung aus einer Verurteilung des Amtsgerichts * vom 19. November 2013 stand. Auch diesem Urteil lagen Vermögensstraftaten zu Grunde, welche der Täter am 17. April 2013 (Bl. 84 d. Behördenakte) und damit nur wenige Tage nach seiner Wiedereinreise am 13. April 2013 (Bl. 103 d. Behördenakte) in das Bundesgebiet verübt hat. Soweit der Klägerbevollmächtigte vorbringt, dass die Justizvollzugsanstalt sozialtherapeutische Maßnahmen für nicht angezeigt halte und von einer ausreichenden Abschreckungswirkung der Hafterfahrung ausgehe, ist dieses Vorbringen nicht geeignet, die Wiederholungsgefahr auszuschließen. Im Falle des Klägers treten nämlich zahlreiche weitere Verurteilungen aus seinem ersten Aufenthalt in Deutschland hinzu, welche aufgrund des in § 47 Abs. 3 Satz 1 BZRG geltenden Grundsatzes der Unteilbarkeit des Registers nach wie vor nicht aus dem Bundeszentralregister getilgt wurden. Auch hier musste der Kläger bereits mehrfach Haftstrafen verbüßen, welche ihn in der Folgezeit nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhielten. Dass der Kläger zwischenzeitlich das Rechtsgut Eigentum achtet ist nicht ansatzweise erkennbar, eine Wiederholungsgefahr aufgrund dieser wiederholt – auch unter offener Bewährung – begangenen Straftaten offensichtlich gegeben. Soweit auf die derzeit laufende Behandlungsmaßnahme „Rückfallvermeidungsteil der allgemeinen Deliktsgruppe“ verwiesen wird, ist auch diese nicht geeignet, die Wiederholungsgefahr zu reduzieren, da die Maßnahme noch nicht abgeschlossen ist. Zudem geht der psychologische Dienst nach der durch den Klägerbevollmächtigten vorgelegten vorläufigen Teilnahmebestätigung vom 20. August 2020 von einer Reduktion der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten nur unter der Prämisse des Willens zur Legalität aus, welcher aufgrund der umfangreichen Strafhistorie des Klägers zweifelhaft ist. Angesichts der beharrlichen Begehung von Straftaten gegen das Eigentum sowie der nur geringen Wirkung bisheriger Maßnahmen ist die zu erwartende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung als so erheblich einzuschätzen, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt ist.
c) Den nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts (§ 4a FreizügG/EU) eintre tenden erhöhten Schutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU kann der Kläger nicht für sich beanspruchen, da er sich nicht seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Sein erster Daueraufenthalt endete aufgrund der Angaben aus dem Führungszeugnis (Bl. 57 ff. d. Behördenakte), des Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung (Bl. 78 d. Behördenakte) und eines Melderegisterauszugs (Bl. 111 d. Behördenakte) wohl im Jahr 2000, spätestens jedoch im Jahr 2004. Die Beklagte verweist zurecht darauf, dass ein Daueraufenthaltsrecht spätestens zu diesem Zeitpunkt nach § 4a Abs. 7 FreizügG/EU erloschen ist. Die Wiedereinreise erfolgte am 13. April 2013, allerdings hat der Kläger nach eigenen Angaben zunächst eine (Rest-)Strafe verbüßen müssen, sodass keiner der in § 2 Abs. 2 FreizügG/EU aufgeführten Tatbestände erfüllt war. Nach seiner Haftentlassung am 18. Februar 2015 war der Kläger bis zu seiner erneuten Inhaftierung am 31. März 2018 möglicherweise nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Seit diesem Zeitpunkt liegt aufgrund der erneuten Haft keiner der dort genannten Tatbestände mehr vor, sodass insgesamt höchstens von einem freizügigkeitsberechtigten Aufenthalt von etwa drei Jahren auszugehen ist. Dieser ist zur Begründung eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU nicht ausreichend.
Auch eine besondere Privilegierung des Klägers nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kommt nicht in Betracht, da er sich nicht in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet aufgehalten hat, zumal die Verbüßung einer Freiheitsstrafe grundsätzlich geeignet ist, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen (EuGH U.v. 16.1.2014 – C-400/12). Aus denselben Gründen ist der Kläger offensichtlich auch kein faktischer Inländer. d) Die Beklagte hat ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt. Sie hat die in § 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU aufgeführten Belange in ihre Entscheidung einbezogen und vertretbar gewichtet (§ 114 VwGO). Insbesondere hat sie zugunsten des Klägers seine langen Aufenthaltszeiten sowie seine hier derzeit bestehenden familiären Bindungen berücksichtigt. Trotz dieser gewichtigen Belange kam sie ermessensfehlerfrei zu dem Ergebnis, dass dem Kläger ein Leben in Ungarn möglich und zumutbar ist. Er hat dort bereits vor 1988 und von 2000 bzw. 2004 bis 2013 gelebt und ist somit mit der Sprache sowie den Lebensverhältnissen dort vertraut. Es kann nicht beanstandet werden, dass die Beklagte den Belangen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den Vorrang gegeben und die Wiederholungsgefahr als derart schwerwiegend gewichtet hat, dass die persönlichen Belange des Klägers zurückzutreten haben. Entgegen der Ansicht des Klägerbevollmächtigten hat sich die Beklagte in ihrem Bescheid auch mit einer insgesamt vierjährigen Erwerbstätigkeit des Klägers befasst und dessen Bemühungen um die Sicherung des Lebensunterhalts auf legalem Wege in Relation zur Gesamtaufenthaltsdauer in vertretbarer Weise als nicht ausreichend bewertet (S. 8 bzw. 10 des verfahrensgegenständlichen Bescheids). Nicht substantiiert wurde der Vortrag hinsichtlich der Vorerkrankungen des Klägers. Zwar wurde eine ärztliche Bescheinigung zur Vorlage bei Behörden vom 25. September 2020 vorgelegt, es ist jedoch weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, inwieweit sich die dort genannten Erkrankungen auf die vorliegende Verlustfeststellung auswirken sollen.
3. Die angegriffene Befristungsentscheidung erweist sich dagegen zwar als rechtswid rig, verletzt den Kläger jedoch nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
a) Grundlage des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auch unter Einbezug des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU die Norm des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht anwendbar, da diese schon hinsichtlich des Tatbestands nicht auf die Verlustfeststellung bezogen ist. Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat die Ausländerbehörde nur im Falle der Ausweisung (§§ 53 ff. AufenthG), der Abschiebung (§§ 58 f.) bzw. der Zurückschiebung (§ 57 AufenthG) ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Darüber hinaus liegt auch nach historischer Auslegung keine durch den Gesetzgeber bei der Novellierung übersehene Regelungslücke vor, welche den Einbezug des Freizügigkeitsrechts in diese Norm im Rahmen der Günstigerprüfung des § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU rechtfertigen würde. Wie die Beklagte zurecht ausführte, erfolgte die Novellierung unter dem Eindruck der Rechtsprechung, welche den § 11 AufenthG a.F. aufgrund der gesetzlichen, nicht behördlichen oder gerichtlichen Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots als nicht richtlinienkonforme Umsetzung der RL 2008/115/EG ansah (BVerwG, U.v. 21.8.2018 – 1 C 21/17 – juris Rn. 20). Diese Richtlinie betrifft hinsichtlich ihres Regelungsgehalts allerdings lediglich Drittstaatsangehörige, ausdrücklich nicht jedoch Unionsbürger (RL 2008/115/EG, Erwägungsgrund Nr. 5 sowie amtliche Überschrift). Eine planwidrige Regelungslücke des Gesetzgebers ist somit nicht erkennbar, sodass § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU als einzige Rechtsgrundlage verbleibt.
Die durch die Beklagte vorgenommene Wahl der falschen Rechtsgrundlage des Einreise- und Befristungsverbots verletzt den Kläger jedoch nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), da ohnehin ein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU besteht.
b) Grundlage der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU. Zwar hat die Beklagte keine Norm zur Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots benannt, aus den Gründen des Bescheids ist jedoch sinngemäß die Anwendung des § 11 Abs. 3 AufenthG zu entnehmen, da die Möglichkeit einer Befristung der Frist von über fünf Jahren auf schwerwiegende Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. die nationale Sicherheit bezogen wurde. Auch die Anwendung des § 11 Abs. 3 AufenthG erweist sich dabei jedoch als fehlerhaft (s.o.).
Allerdings verletzt auch dies den Kläger nicht in seinen Rechten, da beide Normen denselben Erwägungen Rechnung tragen (Kurzidem, in: BeckOK Ausländerrecht, 27. Edition, Stand: 1.10.2020 – Rn. 11 zu § 7 FreizügG/EU). Da der Kläger zudem aufgrund der nunmehr vorliegenden gebundenen, voll gerichtlich überprüfbaren Entscheidung im Vergleich zur im Bescheid vom 9. September 2020 getroffenen nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensentscheidung bessergestellt ist, kann auch aus diesem Umstand keine Rechtsverletzung hergeleitet werden.
Nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU ist das gesetzliche, mit der Verlustfeststellung verbundene Einreise- und Aufenthaltsverbot des § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU von Amts wegen zu befristen. Die Vorschrift gewährt Unionsbürgern einen strikten Rechtsanspruch auf die Befristung (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18/14 – juris Rn. 22). Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ist die Frist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles festzusetzen. Die unter diesen Umständen zu bewertende Befristungsentscheidung in Höhe von 5 Jahren ist nach Auffassung der Kammer rechtlich nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat zu Gunsten des Klägers seinen bisherigen Aufenthalt sowie die familiären Bindungen gewertet, andererseits die zahlreichen Straftaten, sein persönliches Verhalten nach diesen Taten und die konkrete Wiederholungsgefahr zu seinen Lasten gewertet. Die Frist ist angesichts der derzeit vom Kläger ausgehenden Gefahr auch deshalb angemessen, weil die Sperrfrist, wenn dies aufgrund einer Veränderung der Prognosegrundlagen bzw. familiären Situation des Klägers gerechtfertigt ist, auf Antrag oder von Amts wegen zu verkürzen ist.
4. Die angegriffene Entscheidung über die Abschiebung aus der Haft ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist der Kläger zur Ausreise verpflichtet, weil die Ausländerbehörde den Verlust seines Freizügigkeitsrechts festgestellt hat. Da er sich im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheids in Haft befand, war eine freiwillige Erfüllung dieser Ausreisepflicht nicht gesichert. Nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 58 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 AufenthG war deshalb die Abschiebung aus der Haft heraus anzuordnen. Die für den Fall der Entlassung verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreisefrist findet ihre rechtliche Grundlage in § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU.


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